Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 11, 2022
Wie wollen wir mit der Technik leben? Diese Frage stellt Phoebe Tickell vor dem Hintergrund ihrer Arbeit in dezentraler Organisation, Experimenten mit Netzwerken im Web3 und ihrem Ansatz der »Moral Imagination«. Damit will sie Räume schaffen, in denen wir aus unserer Vorstellungskraft heraus ein verbundenes Menschsein entwickeln.
evolve: Wie bist du auf das Web3 und die Welt der DAOs – Dezentralisierte Autonome Organisationen – aufmerksam geworden?
Phoebe Tickell: Der Grund, warum ich mich für DAOs interessierte, war die atemberaubende Vorstellung, dass sich hunderttausende von Menschen auf der ganzen Welt in Bewegungen und Schwärmen zum Wohle des Planeten zusammenschließen könnten. Das hat mich wirklich begeistert. Könnten wir über solche Koordinationsmechanismen die globale Regeneration koordinieren? Könnten wir tatsächlich die Regeneration des Landes organisieren, Token-Währung verwenden und gemeinsam darüber abstimmen? Von dieser Vorstellung geht eine imaginative Kraft aus. Wir stehen erst am Anfang, und nach der Teilnahme an einigen Versuchen ist mein Eindruck, dass es noch ein weiter Weg wird bis dahin. Und ich weiß auch nicht, ob er gelingen wird.
Als Biologin und Systemdenkerin interessiere ich mich auch dafür, wie sich die Welt durch unsere Nachahmung der Komplexität der Natur, durch Beziehungsprozesse und neue Formen des gemeinsamen Denkens und Seins verändern kann.
Ich habe einige Jahre lang mit dezentraler und verteilter Governance gearbeitet, und das führte mich zu Enspiral, einem der Vorzeigeunternehmen der Bewegung für verteilte Organisationen. Enspiral war wie eine DAO des Web2. Sie wurde 2010 in Neuseeland mit etwa 160 Menschen gegründet, die einen sozialen Wandel gestalten wollten. Aber dazu wollten sie keine Organisation etablieren, sondern in einer Weise agieren, die ich als schwarmartig und sehr lebendig bezeichnen würde. Ich fand es faszinierend, dass Enspiral auch die digitalen Werkzeuge entwickelt hat, die die Mitglieder dabei unterstützen, besser zusammenzuarbeiten, und die Entscheidungsfindung dezentralisiert erfolgte, weil die Mitwirkenden nicht alle am gleichen Ort arbeiteten. Ich lernte dabei viel über verschiedene Formen der Entscheidungsfindung, wie beispielsweise über die zustimmungsbasierte Entscheidungsfindung, und über die Unterschiede bei der Machtverteilung und der Verhandlungsführung an verschiedenen Punkten des Entscheidungsprozesses.
Hier sehe ich eine Verbindung zur Arbeit von Moral Imaginations, denn der rote Faden zwischen dezentralen Organisationen und Moral Imaginations ist die Frage: »Wie treffen wir gemeinsam Entscheidungen, die tatsächlich das widerspiegeln, was wir lieben und was uns wichtig ist?« Ich dachte, wenn wir gemeinsam Entscheidungen treffen und die Instrumente, Strukturen, Muster und Denkweisen zur Dezentralisierung von Macht und Einfluss nutzen, würden wir als Kollektiv bessere Entscheidungen treffen.
¬ WIE TREFFEN WIR GEMEINSAM ENTSCHEIDUNGEN, DIE DAS WIDERSPIEGELN, WAS WIR LIEBEN? ¬
Genau das hat mich direkt in die Arbeit mit Web3 und Blockchain geführt. Einige Menschen in meiner Umgebung waren schon sehr tief in diesem Ökosystem, und so begann ich, das Potenzial der Technologie für eine neue Art von Organisation zu entdecken. Aber bei Enspiral wussten wir, dass die Kultur und Beziehung an erster Stelle steht.
Liebe steht im Mittelpunkt
e: Was war daran so innovativ?
PT: Es ging um eine Arbeitsweise, die die Liebe in den Mittelpunkt stellt. Wir haben den Arbeitsprozess neu definiert als einen Raum, in den man sein ganzes Selbst einbringen kann. Dadurch kann eine radikale Befreiung im Berufsleben stattfinden. Könnte der Arbeitsplatz ein Raum sein, in dem wir uns gemeinsam darin üben, jeweils unser bestes Selbst zu sein und uns gegenseitig zu helfen, uns zu entwickeln? Was geschieht, wenn wir mit einem horizontal orientierten Leadership-Modell arbeiten? Eigentlich ist es wie eine Entkolonialisierung der Arbeitswelt.
Diese Entwicklung hat mich schließlich zu Web3 geführt. Etwa 2018 wurde ich in eine Gemeinschaft eingeladen, in der Technologen, Sozialaktivisten, Philosophen und Akademiker im Web3-Dao-Blockchain-Bereich zusammenkommen sollten. Diese Initiative Dgov Foundation war eine wunderbare Gemeinschaft, die etwa zwei Jahre lang Meetings und Konferenzen abhielt, um einen interdisziplinären Austausch zu ermöglichen.
Ich besuchte Blockchain-Konferenzen, hielt Vorträge und arbeitete mit Teams in Blockchain-Organisationen zusammen, um sie dabei zu unterstützen, ihre gesamte Arbeit zu dezentralisieren, inklusive der Teams. Häufig lebten sie den dezentralen Ansatz nicht tatsächlich in der Praxis – aber was ist er dann wert? Das hat mich ziemlich frustriert. Im Blockchain-Bereich gibt es wirklich eine Menge guten Willen, gute Leute und enorme Ressourcen, was eine große Anziehungskraft ausübt und viele Menschen in den Bann dieser Technologie zieht. Die Energie fühlt sich an wie: ›Wir bauen eine Bewegung auf und werden die Welt verändern.‹ Ich beobachte, dass viele junge Menschen der Generation Z in diese Szene strömen, weil sie nach etwas suchen, das ihnen Hoffnung gibt – etwas, das das Gefühl verkörpert, dass wir eine bessere Welt aufbauen können. Aber ich habe den Eindruck, dass das etwas unangebracht ist, denn die ganze Energie, die in das Web3 fließt, mag zwar ein Teil der Lösung sein, aber sie wird nicht selbst die Quelle von kollektiver Befreiung, Reparation und Regeneration sein können.
Technologie ist nicht
die Lösung
e: Das macht absolut Sinn, denn die Technologie selbst ist ja ein Programm, das für jeden Zweck verwendet werden kann. Die Hoffnung muss aus den menschlichen Beziehungen erwachsen. Ohne sie wird keine Technologie etwas bewirken können.
PT: Ganz genau. Dem stimme ich völlig zu. Ein Großteil meiner Freunde im Web3 sind junge Männer, die mit Kryptowährungen ein großes Vermögen angehäuft haben. Man sollte sich klarmachen, was passiert, wenn man mit etwas viel Geld verdient und damit ein Interesse daran hat. Viele von ihnen haben den Eindruck, dass diese Technologie der Katalysator ist, der gebraucht wird. Mit diesem Grundgefühl der Begeisterung kann man sich schnell verbinden. Und sie würden argumentieren, dass dieses Gefühl für etwas viel Größeres steht, nämlich Dezentralisierung, die Hoffnung auf eine bessere Welt, die Solarpunk-Bewegung. Aber auf einen Großteil des Web3-Raums trifft das nicht zu. Es gibt nur eine sehr kleine Nische, in der es diese Überschneidung zwischen einer Bewegung der Regeneration und Web3 gibt.
Eines der Kernprobleme ist, dass der Mechanismus, der den meisten Blockchains zugrunde liegt, eine riesige Menge an Energie und Kohlenstoff verbrennt. Dem wird das Argument entgegengebracht: »Wir werden eine bessere technische Lösung finden.« Ja, es gibt immer eine Lösung, aber dann schafft diese Lösung neue Probleme. Das geschieht einfach, wenn man versucht, irgendein Problem ausschließlich technologisch zu lösen. Gregory Bateson sagte einmal, dass die Technik von Natur aus einen bewussten Zweck habe, nämlich ein bestimmtes Problem zu lösen. Für einen Hammer sieht alles wie ein Nagel aus, diese Vorgehensweise ist Ausdruck eines linearen Denkens. Auch wenn Web3 myzelartig und dezentralisiert funktioniert: Das lineare Denken ist in jeder Art von Technologie eingebettet. Wenn man das mit der Organisation der Natur vergleicht, gibt es in der Natur keine bewusste Absicht. In der Natur entfaltet sich das Leben, mutieren Organismen und geschehen Veränderungen auf nichtlineare Weise.
e: Verschränkt, zusammenhängend und aus einer komplexen Beziehung heraus.
PT: Ja, es gibt weder Wettbewerb noch Zusammenarbeit, sondern etwas dazwischen. Und das ist immer im Wandel und viel komplexer. Hier kommt der Ansatz der Moral Imaginations ins Spiel. Denn wir schöpfen noch immer nur einen sehr geringen Teil dessen aus, was wir eigentlich sind. Selbst wenn wir über das Potenzial von Web3 sprechen, ist das nur ein winziger Teil dessen, was der Mensch jenseits von Business, Wirtschaft und Technologie ist und sein könnte.
Stellen wir uns doch einmal vor, was wäre, wenn wir über all das hinausgehen und uns fragen würden: »Wer sind wir als menschliche Wesen und was ist unser Potenzial?« Das Faszinierende am Leben ist doch, dass es sich ständig wandelt, kontinuierlich mutiert und sich autopoietisch selbst kreiert. Vielleicht ist es ja irgendwann möglich, DAOs zu programmieren, die reflexiv und adaptiv sein können. Vielleicht können wir pluralistische DAOs mit pluralistischen Entscheidungsmöglichkeiten schaffen, die kontextabhängig sind und bei denen die Beziehung an erster Stelle und die Software an zweiter Stelle steht.
¬ WIR HABEN DEN ARBEITSPROZESS NEU DEFINIERT ALS EINEN RAUM, IN DEN MAN SEIN GANZES SELBST EINBRINGEN KANN. ¬
Die Arbeit mit Moral Imaginations ist aus der gelebten Erfahrung dieser von mir entwickelten Praktiken entstanden, bei denen die Menschen ihr Sein und Wissen tiefgreifend verändern. Sie nutzen ihre Vorstellungskraft, ihre Gefühle und ihre nicht-rationalen, einfühlenden und sehr wirkmächtigen Möglichkeiten. Es geht darum, das ganze Spektrum von Wahrnehmungsfähigkeiten und -kapazitäten zu erschließen, um tatsächlich mehr in Kontakt und in Einklang mit dem zu kommen, was uns wirklich wichtig ist: Was ist heilig? Was ist mir heilig? Was ist es, für das ich kämpfen und sogar mein Leben riskieren würde, um es zu schützen? Wozu sind wir als Menschen hier? Und wie gestaltet sich unsere Beziehung zur Natur? Das sind die Fragen, die mich antreiben, dieser Eros des Lebens, dieser schöpferische Impuls, in der Welt zu sein und zu schützen, was wir lieben, in diesem Tanz zusammen zu sein und uns daran zu erinnern, wer wir wirklich sind.
Ich habe nicht den Eindruck, dass das im Web3 präsent ist, eigentlich in keinem technischen Bereich, denn es ist etwas ganz anderes, wenn man sich mit Technologie und ihrer Rolle in unserem Leben auseinandersetzt. Man folgt einer tiefer liegenden Denkweise, die meiner Meinung nach sehr schwer zu erkennen ist.
Vorstellungskraft entwickeln
e: Warum glaubst du, dass »Moral Imagination« hier besonders relevant ist?
PT: »Moral Imagination« ist ein Begriff, der mir von Joanna Macy gegeben wurde. Ihre Arbeit hat mir gezeigt, wie man einen spielerischen Raum kreieren kann. Eros, die schöpferische Lebensenergie, kommt aus diesem spielerischen Raum, in dem wir uns mit sehr schwierigen und emotionalen Themen in einem imaginalen Feld auseinandersetzen, in dem wir Rollenspiele einsetzen, einen schamanischen Raum betreten oder im Namen der mehr-als-menschlichen Welt oder der zukünftigen Generationen sprechen. So nutzen wir die Vorstellungskraft, um unseren Sinn für das zu erweitern, was richtig ist und wer wir sind.
Das Wort »Moral« transportiert viel Ballast, da es von der Religion vereinnahmt wurde. Die Beschäftigung mit der moralischen Vorstellungskraft führt zu einem Raum vor der Religion, wo wir spüren und entscheiden, was richtig ist und was wir nicht tun sollten. So haben indigene Völker ihre lebendige Kultur über tausende von Jahren gelebt und geschützt. Indigene Völker sprechen von Gesetzen, aber sie meinen damit etwas völlig anderes als wir. Sie meinen damit die Grenzen, die wir nicht überschreiten wollen. Dazu gehört auch, dass wir uns entkolonialisieren und viel von der Selbstherrlichkeit und dem Individualismus ablegen, denn wenn wir uns nur auf das Individuelle konzentrieren, opfern wir das Große Ganze. Wir werden alle sterben, weil wir das Individuum auf ein Podest stellen. Früher gab es spezielle Praktiken und eine gefühlte Fähigkeit für das, was wir in der westlichen Unternehmenssprache als Leadership bezeichnen würden: die Fähigkeit, in Integrität und im Dienst von etwas Größerem aufzutreten. Ich möchte Menschen dabei unterstützen, diese Fähigkeit zu kultivieren und herauszufinden, wie wir uns wieder mit ihr verbinden können. Denn diese Kompetenz ist unerlässlich, wenn wir alles Leben ehren und auch anderen Spezies eine Chance geben wollen, an dieser evolutionären Reise teilzunehmen.
e: Wie kultiviert ihr diese tieferen Fähigkeiten?
PT: Wir versuchen, Räume zu schaffen, die aus dem »Business as usual« herausführen, in einen Raum tieferer Verbundenheit, einer tieferen Verbundenheit mit dem größeren Ganzen. Wir konzentrieren uns auf drei Säulen, die den Menschen helfen, Zugang zu diesem größeren Ganzen zu finden: eine Verbindung zu den zukünftigen Generationen, eine Verbindung zur natürlichen Welt, die mehr ist als die menschliche Welt, und eine Verbindung zu den Vorfahren und der Tiefenzeit der Vergangenheit.
Durch die Verbindung mit diesen drei Säulen mithilfe verschiedener Methoden, Ansätze und Übungen erhalten die Menschen ein erweitertes Gefühl der Lebendigkeit und des Lebendigseins. Es ist ein Gegenmittel für die hektische, kurzfristige, von der Natur losgelöste Art zu leben, wie sie heute üblich ist, vor allem, wenn man in einem städtischen Gebiet lebt. Manche Leute sagen, das sei fast wie eine Rückkehr zur Ursprünglichkeit, obwohl ich das nicht sagen würde, denn Ursprünglichkeit bedeutet, dass wir wieder so leben wie früher. Wir können nicht zurückgehen, aber wir können uns wieder verbinden. Wir können uns wieder mit der natürlichen Welt verbinden. Wir können uns wieder mit den zukünftigen Generationen verbinden, mit dem Gefühl, woher wir kommen, mit einem Gefühl der Zugehörigkeit, des Sinns und des Zwecks.
Keine Zeit verlieren
e: Diese fehlende Verbindung, die ihr versucht wiederherzustellen, gibt es auch im Web3. Die Probleme treiben die Dringlichkeit an, sie mit Technologie zu lösen, aber das ruft uns immer noch nicht dazu auf, unserer Verantwortung als bewusste, lebende Wesen in Integrität nachzukommen. Wir können diese Verantwortung nicht auf die Technologie abwälzen, auch wenn die Technologie uns unterstützen könnte.
PT: Ja, in Form einer koordinierenden Ebene. Mich begeistert das Potenzial der Technologie, unsere Möglichkeiten, zu sein, zu handeln, Übersicht zu gewinnen und mitzugestalten, zu verbessern. Gleichzeitig ist es gut, jede Art von Hype zu hinterfragen – vor allem, wenn er durch riesige Mengen an Profit und Kapital in den Händen weniger angetrieben wird. Aber es gibt sehr spannende DAOs, zum Beispiel die Gitcoin-Plattform, die der Finanzierung und Koordinierung von Gemeingut dient. Oder das Projekt KlimaDao, das CO2-Gutschriften auf der Blockchain ermöglicht.
Es gibt also immer mehrere Perspektiven: die positiven Beispiele und Möglichkeiten, aber auch die kritischen Aspekte. DAOs verfügen über das Potenzial, Bewegungen anzutreiben und in großem Maßstab zu realisieren. Manche Stimmen sagen, dass wir Konzepte brauchen, die sich superschnell skalieren lassen und es den Menschen ermöglichen, sich zu beteiligen – und dass wir uns dann um die ganze menschliche Seite später immer noch kümmern können. Dem würde ich nicht zustimmen. Aber es stimmt, dass wir keine Zeit zu verlieren haben, also gibt es keine einfache Antwort. Das ist das Schöne und das Zerbrechliche an diesem Moment, denn wir wissen heute nicht, wie der Wandel auf einer solchen Ebene vonstattengehen wird. Wir können uns ein Bild von sozialen und politischen Bewegungen machen, aber nicht von diesem Ausmaß der Auslöschung der Menschheit.