Die Suche nach der tieferen Bedeutung

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Artikel
Publiziert am:

November 2, 2021

Mit:
J. Krishnamurti
Santi Borgni
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Santi Borgnis Weg zur Essenz des Lebens

Im abgelegenen Bergland Umbriens haben Santi Borgni und seine Familie ein altes Bauernhaus mit eigener Kapelle renoviert, das jetzt als Retreatzentrum »Casa della Pace«, Haus des Friedens, betrieben wird. Während einiger Retreats, die ich dort verbrachte, erfuhr ich die friedliche und fürsorgliche Atmosphäre dieses Rückzugsortes. Und in Gesprächen mit Santi hörte ich, was er auf einer lebenslangen Suche nach dem Wesentlichen gelernt hatte. Ich freute mich über die Gelegenheit, mit ihm über die Wendepunkte zu sprechen, die ihn zu der Weisheit und Fürsorge geführt hatten, die ich in seiner Gegenwart erfahren durfte.

Santi Borgni wuchs in einer ländlichen Umgebung in Italien auf; er erinnert sich an die besonderen Momente, die sehr früh seine Suche nach dem, was wirklich bedeutsam ist, auslösten. »Wir lebten in einem Haus direkt an einem Wald mit einem Fluss. Oft ging ich dort allein spazieren. Und ich erinnere mich an die innere Stille, die ich dabei erfuhr. Es war eine Art Initiation, etwas wirklich Bedeutsames, Schönes und Tiefes, das ich erlebte. Ich genoss diese Momente so sehr, dass ich mich danach sehnte, sie wiederzufinden.«

Als er herangewachsen war und das Abitur gemacht hatte, dachte er darüber nach, was er arbeiten wollte. Er wusste, dass er nach etwas suchte, das mit innerem Frieden und tiefer Wahrheit verbunden war – nach etwas, das es wert war, gelebt zu werden. Aber gleichzeitig fühlte er sich total verloren. »Ich hatte keine Idee, was ich tun sollte«, sagte er. »Ich wusste nur, was ich nicht wollte. Ich wollte keiner Arbeit nachgehen, um am Monatsende ein Gehalt dafür zu bekommen.« 

Mit dem ersten Kind in den umbrischen Bergen.
Feldarbeit mit einem Freund nahe der Casa della Pace.
In Indien in den Bergen über Rishikesh mit einigen Saddus.

Santi nahm ein Studium auf, das er aber schon bald wieder aufgab; stattdessen begann er als Kunsthandwerker zu arbeiten und stellte Schmuckstücke aus Silber und Kupfer her, um sie auf Märkten zu verkaufen. Er experimentierte mit Marihuana und LSD, was ihm wunderschöne Erfahrungen einbrachte, die ihn aber nicht wirklich erfüllten. Ihm wurde klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Er war 26 und fühlte sich völlig orientierungslos. Er spürte einen deutlichen Ruf nach Veränderung. Um sich selbst zu finden, kaufte er einen Kleinbus und reiste acht Monate lang durch Spanien und zwei Jahre später nach ­Indien. Er kam nach Rishikesh und besuchte eine Yoga-Schule. Dort erlebte er das erste Mal das Sitzen in Stille, das als Meditation bezeichnet wird. 

In der Yogaschule traf er einen Swami, der oberhalb von Rishikesh in einem Wald lebte. Dieser lud Santi für ein paar Wochen zu sich ein. »Ich erlebte die Essenz des Lebens«, sagt er heute über diese Zeit. »Ich erinnere mich an einen Tag, als ich den ganzen Tag draußen auf dem Dach des Hauses lag. Die Zeit verschwand völlig. Die Sonne über den Himmel wandern zu sehen war dasselbe, wie ein Flugzeug am Himmel fliegen zu sehen. Es gab kein Gefühl von einer Stunde, einer Minute oder einem Tag.«

Als er nach Europa zurückkehrte, musste er sich mit der Frage beschäftigen, wie er nach diesen Erfahrungen nun leben wollte. »Zeitlos zu sein, ist kein Beruf«, erklärt er mit einem breiten Lächeln, »andererseits lag darin etwas zutiefst Bedeutsames.« Aber er wusste nicht, wie er es in sein Leben integrieren sollte.

Während dieser Zeit heiratete er. Er hatte seine Frau Françoise kennengelernt, bevor er nach Indien aufgebrochen war, und als er zurückkam, wollten sie zusammenleben. Zur gleichen Zeit, 1985, las Santi ein Buch von J. Krishnamurti, das ihn schockierte. »Das erste Mal in meinem Leben las ich etwas, von dem ich sagen konnte: Was er sagt, ist wahr, es ist einfach und einleuchtend.« Von diesem Moment an erforschte er Krishnamurtis Lehren – allein und im Dialog mit anderen.

Santi und seine Frau beschlossen ein Haus für ihre Familie zu suchen. So kamen sie nach Umbrien und begannen mit biologischer Landwirtschaft. »Wir waren ziemlich naiv und verrückt«, erinnert er sich heute, »wir hatten keine Ahnung von Landwirtschaft oder wie man mit einer Kuh umgeht. Aber wir wollten etwas Gutes für die Menschen tun – etwas, das sowohl für uns Bedeutung hatte als auch für die Menschheit.« Santi genoss die Nähe zur Natur, arbeitete tagsüber auf dem Feld, und wenn er abends zurückkam, kümmerte er sich um den Gemüsegarten. Er vernetzte sich mit anderen Bauern und gründete eine biologische Genossenschaft in der Region. Zusammen eröffneten sie einen regionalen Markt. 

In den Momenten der Zeitlosigkeit oder des Ewigen gibt es kein Ich.

Es war der Anfang der Bio-Bewegung. »Es war eine Zeit mit viel Enthusiasmus und auch Erfolg«, sagt er. »Ich erinnere mich an den ersten Markttag in Perugia, als es in Strömen regnete. Wir verkauften selbstgebackenes Brot, unser Stand war umringt von Leuten. Ein großartiges Gefühl, etwas zu tun, das uns mit unbekannten Menschen verbindet.«

Als jedoch seine Frau 1996 an Krebs erkrankte, gaben sie die Landwirtschaft auf. Santi zog sich vollständig in die Familie zurück, um seine Frau und die Kinder zu unterstützen. »Diese zwei Jahre, in denen ich mit Françoise durch die Symptome ihrer Krankheit ging, ihr Körper zunehmend schwächer wurde und sie von meiner Fürsorge abhing, veränderten mich zutiefst. Ich verstand, dass das Leben auch Tod und Krankheit umfasst.« Die Krankheit seiner Frau Françoise lehrte ihn, was wesentlich ist. »Wichtig war, einfach nur da zu sein«, erinnert er sich, »es gab nichts zu tun. Ich wartete einfach, bis sie aufwachte. Wir fuhren zum Strand, um Zeit in der Nähe des Meeres zu verbringen und den Wellen zuzusehen.« Santi fühlte sich dabei mit den Tagen in Indien verbunden, denn die Krankheit eröffnete erneut die Frage: Was ist die Essenz des Lebendigseins? »Etwas zu tun, ist nicht die Essenz des Lebens«, sagt er. »Die Essenz ist das Sein und die Qualität des Seins. Zusammensein, wahrhaftig sein, füreinander da sein.«

Santi Borgni

Als seine Frau starb, erlebte er diese Abwesenheit von Zeit: »Ich spürte, was es bedeutet, jetzt im Unendlichen zu leben. Wenn wir das nicht verstehen, leben wir nur an der Oberfläche. Wir tun, wir planen, wir laufen etwas nach, das Vergnügen verspricht. Wir folgen dem Willen, etwas zu erreichen, dem Wunsch, etwas zu bekommen. Das produziert am Ende das Ich, das etwas möchte. In den Momenten der Zeitlosigkeit oder des Ewigen gibt es kein Ich.«

Um einen Weg zu finden, sich selbst und seine Kinder zu ernähren und Raum für die Erforschung dieser zeitlosen, ewigen Wirklichkeit des Lebens anzubieten, baute Santi 2001 das Haus der Familie zur »­Casa della Pace« um. Seitdem kommen viele Menschen dorthin, die auf der Suche nach einem bedeutsamen, wahrhaftigen und besseren Leben sind. Wenn Santi über diese 20 Jahre der Begegnungen nachdenkt, über Dialoge und Stille-Retreats, beschreibt er sie als den Weg von Konzepten und Ideen zur gelebten Einsicht.

»Krishnamurti spricht von einer grundlegenden Veränderung«, erklärt er. »Das Wort Veränderung ist eines der Wörter, die er am häufigsten verwendet. Aber was ist diese Veränderung?« In spirituellen Lehren ist oft die Rede davon, den eigenen Geist, seine Gedanken und Gefühle zu beobachten. »Aber wir können uns für den Rest unseres Lebens beobachten«, sagt Santi, »und dadurch die Folgen von Ärger oder Eifersucht reduzieren. Das ist eine Verbesserung, aber das ist keine Transformation. Ich kann mir meines Ärgers oder meiner Eifersucht bewusst sein, aber das ist, als ob ein Fragment versuchen würde, ein anderes Fragment unter Kontrolle zu bringen. Dieses Spiel funktioniert, aber das ist keine wirkliche Veränderung. Wenn wir jedoch verstehen, was heilig ist, dann können wir zum Beispiel erkennen, dass die Beziehung zwischen uns beiden heilig ist. Wenn Ärger hochkommt und diese Beziehung zerstört, wird es unmittelbar als nicht förderlich erkannt; wir wollen nicht, dass es passiert. Diese Erkenntnis schafft Veränderung. Wir entdecken etwas Grenzenloses, Unendliches, eine tiefe Verbundenheit mit allem, mit der Natur, mit anderen Menschen, wo auch immer sie sind. In diesem Verständnis der Einheit gibt es keine Trennung; das was ist, ist heilig, und darin erfahren wir die Essenz unseres gemeinsamen Seins mit allem.«

Santi möchte den Rest seines Lebens damit verbringen, diese Erkenntnisse in Retreats und Dialogen zu teilen. Die »Casa della Pace« soll an Nachfolger übergeben werden und wird hoffentlich weiterhin ein Rückzugsort bleiben. Aber die Einsichten, die dort in den letzten 20 Jahren entwickelt wurden, werden in Santis Erkenntnissen auf seiner Suche nach einem wahrhaftigen und bedeutungsvollen Leben weiterwirken.  

Author:
Mike Kauschke
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