Ein Schmetterling ist viel mehr als eine Raupe mit Flügeln

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Publiziert am:

January 30, 2020

Mit:
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Die Heilkraft regenerativer Kulturen

Unsere Zukunft muss mehr als nur überlebensfähig sein. Daniel Christian Wahl arbeitet an der konkreten Utopie regenerativer Kulturen, in denen wir unser Menschsein auf diesem Planeten so gestalten, dass es seine Lebendigkeit fördert und entfaltet. Wir sprachen mit ihm über den notwendigen radikalen Wandel und über zarte Anzeichen neuer, lebensfördernder Kulturen.

evolve: Inwiefern hat deine Arbeit mit regenerativen Kulturen einen Bezug zur unmittelbaren Herausforderung der Klimakrise?

Daniel Christian Wahl: Mit der Klimakrise stehen wir in einer Polarität: Ist es zu spät oder haben wir noch eine Chance? Wird da gerade etwas Neues geboren oder stirbt gerade etwas? Ich würde sagen, beides stimmt. Es ist ein Paradox, das wir umarmen müssen.

Joanna Macy hat das wunderschön in dem Bild aufgegriffen, dass wir als Menschen zwei Rollen gleichzeitig haben: Wir sind die Sterbebegleiter eines sterbenden Systems und wir sind die Hebammen eines Systems, das geboren werden will. Das heißt, wir müssen auf der einen Seite mit viel Mitgefühl auf die Menschen eingehen, die noch an diesem System festhalten, das so nicht mehr weiter bestehen kann, weil es die Erde und das Leben an sich zerstört. Es ist ein Prozess des Loslassens, bei dem das alte Selbst stirbt, damit ein neues Selbst geboren werden kann – und Selbst bedeutet hier jeder von uns als Individuum, jede einzelne Gemeinde als Ausdruck des Lebens an sich. Wir sehen, dass gerade etwas stirbt, wodurch viel zerstört wird. Deshalb spüren wir Verluste im Leben, die wir ehren können. Die Situation ist alarmierend und drängt uns zum Handeln! Gerade deshalb müssen wir auch darüber reden: Was will geboren werden?

Nora Bateson hat auf einer Konferenz, bei der es um Transformation und Innovation auch in der Wirtschaft ging, die provokative Frage gestellt: »Macht uns diese Innovation, die angeblich transformativ sein soll, zu Raupen mit Flügeln oder zu Schmetterlingen?« Das trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sprechen im Moment sehr viel über Innovationen, gerade im politischen Bereich, dazu gehören auch Technologien wie erneuerbare Energien und das Elektroauto. Daran erkennen wir, dass viele Menschen, die zwar verstehen, dass eine Transformation notwendig ist, noch nicht die Dimensionen dieser Veränderung sehen. Es geht häufig nur darum, mit neuen Ideen das Alte weiterzuführen. Aber heute stehen wir vor der Aufgabe, etwas Neues zu tun, was gleichzeitig etwas ganz Altes ist. Es geht nämlich darum, wieder unser Zusammensein, unser Interbeing zu würdigen. Uns zu erinnern, dass wir miteinander Menschheit und Leben als planetarer Prozess sind – ko-kreativer Ausdruck des Lebens als Ganzes. Die Welt besteht nicht aus separaten Dingen, sondern das Sein an sich ist verbunden. Das müssen wir wieder erfahren und verstehen.

Regenerativen Kulturen müssen überall anders sein, da sie aus der Einzigkeit des Ortes kommen.

Altes und neues Wissen verbinden

e: Diese Notwendigkeit eines Umdenkens scheint ja auch Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion zu motivieren. Wie siehst du diese Bewegungen in dieser notwendigen Transformation?

DCW: Fridays for Future und Extinction Rebellion haben viele Menschen und auch Politik und Medien für diese Fragen sensibilisiert. Diese Bewegungen sind wichtig, aber sie sind nicht genug. Es reicht nicht, wie Greta zu fordern: »I want you to panic.« oder »Unite behind the science.« Das ist sicher wichtig, aber die wissenschaftliche Denkweise ist ein Teil des Systems, das transformiert wird. Dabei geht es nicht darum, dieses wissenschaftliche Denken zu verteufeln. In der Menschheitsgeschichte beobachten wir immer wieder diesen Pendelumschwung: Wir leben in einer bestimmten Art und Weise und erkennen irgendwann die negativen Folgen, was uns veranlasst, zum extremen Gegenteil überzugehen. Heute müssen wir zu einer Synthese finden und fragen: Was war in dem Alten gut? Wir im Westen haben die Weisheits-Kulturen, die wussten, wie man an einem Ort über 10.000 Jahre als Teil dieses Ortes, als regenerative Spezies lebt, als primitive Kulturen bezeichnet und deren Weisheit beim Wandel zu einer technologischen Gesellschaft komplett ignoriert.

Um den Begriff »regenerative Kulturen« besser zu verstehen, hilft die Idee der final participation von Owen Barfield. Er beschreibt, dass die indigenen Kulturen in einer original participation, einer ursprünglichen Teilhabe am System lebten. Durch die Aufklärung entstand eine Trennung. Der Einfluss von René Descartes und Immanuel Kant machte eine Revolution der Wissenschaft und des Wissens möglich, aber zu einem hohen Preis. Heute können wir zu einer Zusammenführung finden, in der beides wichtig ist: Verbundenheit und technologische Gestaltung. Beides kann uns ein reicheres Verständnis unserer Teilhabe am Ganzen eröffnen. Wir sind ko-identisch mit allem, wir sind diese Welt, wir sind dieses Universum. Das ist das Herz der regenerativen Kulturen, wozu aber auch gehört, Technologien klug einzusetzen.

Wir haben die Möglichkeit, als Leben das zu tun, was das Leben eigentlich am allerbesten kann: Bedingungen dafür schaffen, dass es mehr Leben gibt. Das Leben an sich schafft mehr Leben. Wir als Menschen müssen wieder dahin zurückkommen. Und das können regenerative Kulturen an jedem Ort und in jeder Kultur spezifisch ausdrücken.

Kultur ist ein Epiphänomen von Natur, des Lebens als Ganzes, des Lebens als planetarer Prozess.

e: Was meinst du, wenn du von regenerativen Kulturen sprichst?

DCW: Regenerative Kulturen bedeutet im ökologischen Sinne, dass man an einem Ort innerhalb der planetaren Grenzen lebt und dadurch der Ort und das Leben als Ganzes der nächsten Generation reichhaltiger übergeben wird, als man den Ort von seinen Vorfahren übernommen hat. Dadurch wird der Prozess, durch den das Leben mehr Leben schafft, an diesem Ort verwirklicht, und dies wird zum Wert unserer Kultur.

Gleichzeitig bedeutet regenerativ, dass wir eine neue Beziehung zum Tod finden. Regenerative Kulturen müssen bereit sein, alte Muster loszulassen und neue Muster zu schaffen. Es ist eigentlich der Kerngedanke des Dialogs mit der Gesellschaft und der weiteren Gemeinschaft des Lebens, in der wir uns überall auf der Welt, in jeder Region, in jedem Öko-System befinden. Wir können diesen Dialog bewusst leben, weil wir uns daraus nicht herausnehmen können. All unser Handeln ist eine Intervention. Wir denken vielfach in Dualismen von Mensch und Kultur, Mensch und Natur. Aber in Wirklichkeit ist Kultur ein Epiphänomen von Natur, des Lebens als Ganzes, des Lebens als planetarer Prozess. Genauso ist die Separation zwischen Theorie und Praxis ein falscher Dualismus.

Wenn wir uns jetzt unterhalten, dann sind wir Teilnehmer in diesem vernetzten Ganzen und dieses Gespräch hat eine Wirkung, es verändert sich etwas, egal, ob jemand uns hört oder nicht. Weil sich etwas in uns verändert, wandelt sich auch das Ganze. Das ist auch ein Anliegen von Extinction Rebellion und Fridays for Future. In der Gesellschaft muss es einen Dialog darüber geben, dass die Antwort auf den Klimawandel eigentlich ein Change of Being, ein Wandel im Sein ist und dass erst dadurch ein Change of Doing, ein anderes Handeln entsteht. Wir müssen die Art unseres Seins und Zusammenseins verändern. Dazu gehört auch die tiefe Verwundbarkeit und Demut, sagen zu können, dass wir nicht wissen, ob wir es schaffen. Wir haben das nie gewusst, es war immer eine Illusion, dass Technologie und Wissenschaft die Welt vorhersagen können und dadurch Gewissheit schaffen. Dadurch kommen wir wieder zur Dankbarkeit für jeden Moment zurück, sodass wir in jedem Moment das Leben lieben können.

Ein Beharren darauf, dass es schon zu spät ist, kann auch zu einer Ego-Position werden.

Vorboten des Schmetterlings

e: Was du ansprichst, ist eine wunderbare Vision und hat als solche eine Kraft. Ist es aber auch etwas, das sich wirklich als Antwort zeigt? Siehst du regenerative Kulturen – und ich finde es gut, dass du hier den Plural benutzt –, die solche Antworten bilden, die eben keine Raupe mit Flügeln sind, sondern vielleicht schon etwas vom Schmetterling haben?

DCW: Zunächst einmal danke, dass du den Plural erwähnst. Auf der einen Seite bin ich glücklich, dass es die Idee der Regenrative Culture in die zehn Prinzipien von Extinction Rebellion geschafft hat, auch mit dem Untertitel, der direkt aus meinem Buch zitiert ist: »Creating a culture which is healthy, resilient and adaptable« – eine Kultur schaffen, die gesund, resilient und anpassungsfähig ist. Dort wurde aber der Plural fallen gelassen und das ist für mich ein Problem. Denn diese regenerativen Kulturen müssen überall anders sein, da sie aus der Einzigkeit des Ortes und der lokalen Kultur und Geschichte kommen. Dann entsteht die jeweilige regenerative Kultur aus den Besonderheiten. Wenn wir über Artenvielfalt sprechen, müssen wir auch die Vielfalt in unserer eigenen Kultur wieder schätzen und unsere Vielfalt nicht als Grund für Streit und Auseinandersetzung sehen, sondern als den Nährboden von Kreativität. Es ist ein Beweis dafür, dass wir als Menschheit diesen großen Wandel schaffen können, weil wir genügend Vielfalt in den Systemformen haben.

Es ist wahrscheinlich unbewusst, aber der Gebrauch von regenerative Kultur im Singular spiegelt einen kolonialistischen Ansatz: Wir exportieren eine Denkweise in die Welt. Im Gegensatz dazu können wir sagen: »Lasst uns tiefer in die Fragen eindringen, wie wir sinnvoll am Leben teilhaben können und als heilende Kraft in der Welt aktiv sind.«

Und jetzt komme ich zurück zu deiner Frage, ob es Anzeichen dafür gibt. Ja, es passiert überall, wenn wir nur genau hinschauen. Paul Hawken hat schon 2006 das Buch »Wir sind der Wandel« geschrieben und betrieb die Website »Wiser Earth«, auf der er über 100.000 NGO’s und Organisationen weltweit zusammengebracht hat, die sich für die Rechte indigener Völker, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und neue Wirtschaftsformen engagieren. Damit wollte er einen neuen Ansatz hervorheben. Wie es Buckminster Fuller schon rät: »Kämpfe nicht gegen das bestehende System, schaffe ein neues System, welches das bisherige überflüssig macht.« Diesen Ansatz sehe ich heute an vielen Orten.

Mein Buch »Designing Regenerative Cultures« möchte dazu beitragen, dass die Komplexität des Systems sich selbst sieht. Die positiven Ansätze, die im Moment auf so vielen verschiedenen Ebenen stattfinden – sei es im materiellen Bereich mit Produktdesign, Architektur, Stadtplanung, industrieller Ökologie oder im sozialen Bereich mit Öko-Dörfern, Soziokratie, Holokratie, Art of Hosting, neuen Methoden der gemeinsamen Entscheidungsfindung oder der Weisheit des ganzen Systems, in der unsere Diversität wirksam wird. Das sind alles Ausdrücke für etwas, was Paul Hawken so beschrieben hat, dass das planetarische Immunsystem aktiv wird.

Darin ist auch eine Verbindung zu der vorher erwähnten Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling. Dazu muss sich die Raupe innerhalb des Kokons zunächst komplett auflösen. Aber die Zellen, die dann den Schmetterling bilden – die als Imago-Zellen bezeichnet werden –, werden am Anfang vom Immunsystem der Raupe bekämpft. Erst wenn diese Imago-Zellen anfangen, Ketten, Cluster und ein Netzwerk zu bilden, entsteht daraus der Wandel, der den Schmetterling hervorbringt.

In solch einem Moment befinden wir uns gerade, deshalb ist es so wichtig, dass Fridays for Future und Extinction Rebellion aufdiese positive Vision und diesen Wandel zum Möglichen einschwenken und nicht zu sehr aus der Verlust-Trauer, der Panik vor dem Klimawandel und einer Haltung, dass alles zu spät sei, handeln. Ein Beharren darauf, dass es schon zu spät ist, kann auch zu einer Ego-Position werden. Dann ist jeder, der nicht zugibt, dass es schon zu spät ist, in der Leugnung gefangen und will die Realität nicht wahrhaben. Daraus kann man in eine Haltung kommen, in der man sich moralisch besser empfindet und über andere stellt.

Für mich ist effektiver, sich auf das zu konzentrieren, was schon positiv angestoßen wird. Nehmen wir die Ecosystem Restauration Camps, die Commonland Foundation, die Regenerative Landwirtschaft, die Arbeit vom Regenesis Institute, das Regenerative Practitioners ausbildet. Der Begriff »regenerativ« hat in den letzten drei Jahren immense Verbreitung gefunden. Natürlich kann das auch dazu führen, dass er verwässert wird. Das kann aber auch der Beginn eines Dialoges sein.

Die große Frage ist: Wie schaffen wir es als Menschheit, uns innerhalb der Generation, die jetzt auf der Erde lebt, komplett neu zu erfinden? Wir müssen vollkommen neu gestalten, wie wir mit dem Leben als Ganzes umgehen und uns in das Leben als Ganzes einbetten. Kurz gesagt, wir müssen unsere Präsenz auf diesem Planeten neu gestalten.

Die Kraft der Fragen

e: Was ist der Unterschied zwischen einer Raupe mit Flügeln und einem Schmetterling? Was ist das Eigentliche und damit auch das Neue, was zu regenerativen Kulturen führen kann?

DCW: Eine »Raupe mit Flügeln« bedeutet, dass die Bausteine, die jetzt schon existieren, neu zusammengefügt werden oder in neue Beziehungen treten. Es ist keine fundamentale Transformation jedes einzelnen Bausteins als etwas ganz Neues. Eine Raupe mit Flügeln hat noch ganz viel von dem, was wir jetzt schon kennen, ein Schmetterling wird uns alle überraschen und uns zeigen, was wir wirklich sein können.

Um das neue Selbst wirklich zuzulassen, muss – mystisch gesprochen – das alte Selbst sterben. Einer meiner Mentoren, Professor Brian Goodwin vom Schumacher College, sagte mir einmal: »Das Geheimnis des Lebens besteht darin, in jedem Moment bereit zu sein, das, was man ist, loszulasssen, um das zu werden, was man werden könnte.« Dieses Loslassen bedeutet aber auch, dass wir noch nicht wissen, was der Schmetterling ist, der da geboren wird. Aber wir sehen die Muster, die sich bilden.

Einstein prägte diesen berühmten Satz, dass das Denken, welches die heutigen Probleme schafft, diese Probleme nicht lösen kann. Gleichzeitig hat er an anderer Stelle gesagt, wenn er eine Stunde hätte, um ein Problem zu lösen, an dem sein Leben hinge, dann würde er 55 Minuten damit verbringen, die richtige Frage zu finden. Dann wäre er sich sicher, dass er eine vernünftige Antwort finden könnte. Deshalb enthält mein Buch 250 Fragen.

Die Grundfrage stellte mir vor vielen Jahren David Orr: »Daniel, bevor wir die Antwort darauf finden, was wir tun müssen, um eine nachhaltige und regenerative Präsenz des Menschen auf dieser Erde zu schaffen, müssen wir erst die Frage stellen: Warum sind wir es wert? Was in uns ist es wert, weiter zu bestehen?« Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zu unserer eigenen Identität als Leben zurückkommen. Es geht nicht darum, wie lange wir überleben, sondern darum, wie wir leben, wie wir in Beziehung gehen. Unsere Wirksamkeit kann immer nur in der Gegenwart stattfinden, wir können nie woanders sein als im Jetzt.

Das Leben ist ein planetarer Prozess, der immer gleichzeitig lokal und global ist.

e: Wenn ich dich richtig verstehe, deutest du darauf hin, dass wir die Frage leben können. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht gleich zur Antwort springen, stattdessen kann sich aus dem lebendigen Fragen eine Antwort ergeben. Aus dieser Haltung folgt aber auch, dass es in der Natur dieser regenerativen Kulturen liegt, dass sie im Plural auftreten müssen. Wir leben zugleich in einem globalen Zusammenhang und in einem lokalen Zusammenhang. Die regenerativen Kulturen können nur plural auftreten, weil unsere Wirklichkeit eine globale ist, aber in dem Ganzen ist es ein lebendiger Tanz der verschiedenen Lokalitäten. Beides möchte gleichzeitig gelebt werden.

DCW: Nach fünfzehn Jahren Aktivismus in Öko-Dörfern, mit Transition Towns und auf der Gemeinde-Ebene habe ich festgestellt, dass wir in unseren Gemeinden miteinander die Fragen leben und unsere Lebensräume neu gestalten können. Aber diese Neugestaltung muss gleichzeitig bio-regional stattfinden, denn die Gemeinde ist an sich zu klein, um wirklich regenerative Systeme zu schaffen. Deshalb bin ich nach Mallorca gezogen, weil es dort einfach ist, die Region zu bestimmen, weil es eine Insel ist. Auf regionaler Ebene können wir die menschliche Präsenz in der Natur als Teil des Ganzen leben.

Wir können uns wieder in die Natur einfügen, sodass wir zu heilenden Einflüssen auf das lokale Öko-System werden. Aber um das zu schaffen, muss überall auf der Welt jede Gemeinde in ihrer Region sich die Frage stellen: Wie leben wir weiter in dieser Region? Um diese Fragen sinnvoll zu beantworten, müssen wir gleichzeitig das globale Bewusstsein und den globalen Austausch entwickeln. Um das schnell genug zu schaffen, müssen wir uns global durch den kollegialen Wissensaustausch unterstützen. Das Leben ist ein planetarer Prozess, der immer gleichzeitig lokal und global ist.

Als Kultur machen wir jedoch immer wieder den Fehler, die Antworten und die Lösungen in den Vordergrund zu stellen. In der ganzen Menschheitsgeschichte haben Menschen mit guter Intention Lösungen ins System gegeben, in der Annahme, dass sie dem Ganzen oder der Menschheit helfen. Diese Lösungen sind immer wieder zu Problemen geworden. Deshalb ist es wichtig, Fragen zu stellen, die darauf abzielen, Beziehungen zueinander, zum Ort, zur Geschichte, zur Zukunft und zum Leben als Ganzes ins Bewusstsein zu rufen. Wenn an jedem Ort Kulturen geschaffen werden, welche diese Fragen leben und versuchen, die Präsenz des Menschen in dieser Region neu zu gestalten, schaffen wir überall auf der Welt Laboratorien des nachhaltigen Lebens und können dann als Menschheit daraus lernen. Für mich ist das ein Aufwachen zu unserer schöpferischen Kraft, um als Leben das Leben weiter bestehen zu lassen. Wir heilen die Erde und in diesem Prozess heilen wir uns selbst. Dabei ereignet sich eigentlich der größte Heilungsprozess im Inneren, indem wir erkennen, dass wir nie vom Leben getrennt waren.

Zukunft in der Gegenwart

e: Wenn man einerseits die Klimakatastrophe und andererseits die regenerativen Kräfte ernst nimmt, worauf können wir uns in den nächsten Jahrzehnten einstellen?

DCW: In kleinen Experimenten, die non-lokal mit allem verbunden sind und dadurch das Ganze beeinflussen, können wir unsere Beziehung zum Ganzen neu gestalten und dadurch neue Muster schaffen. Tony Hodgson spricht vom Zukunftspotenzial des gegenwärtigen Moments. Im Dialog miteinander und mit unserem Ort, unserer Vergangenheit und dem weiteren Öko-System zu leben, wäre für mich eine Möglichkeit, durch das Nadelöhr zu kommen, das jetzt mit dem Klimawandel auf uns zukommt.

Auf der anderen Seite dieses Nadelöhrs könnten wir regenerative Kulturen und eine ökologische Zivilisation in der Welt schaffen, wir könnten die Böden wieder aufbereiten und fruchtbarer machen, die Wälder zurückbringen, die Ozeane heilen. Dieses heilende Mitwirken an der Welt ist die Möglichkeit, CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen und den Klimawandel über 30 – 40 Jahre drastisch zu verlangsamen oder es sogar zu schaffen, zu 250 parts per million in der Atmosphäre zurückzukommen. So könnten wir wieder eine Balance schaffen, die der ähnelt, die für 10.000 Jahre seit dem Pleistozän bis zum Beginn der Neuzeit herrschte, wo es weniger Klimaschwankungen gab.

Aber es könnte auch sein, dass es schon zu spät ist und wir uns darauf einstellen müssen, dass sich der Klimawandel katastrophal verschlimmert und dementsprechend auswirkt.

Aber selbst wenn wir es durch dieses Nadelöhr schaffen, müssen wir uns bewusst sein, dass die nächsten 30–40 Jahre sehr herausfordernd sein werden, denn selbst wenn wir jetzt anfangen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, wird es erst einmal schlimmer, bevor es besser wird. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass es ein langer Weg ist, der dem Bau einer Kathedrale ähnelt. Es ist ein intergenerationeller Prozess. Wir können diesen Wandel auf den Weg bringen, aber ob wir den Weg zu Ende gehen, das werden wir nicht wissen. Aber genau das ist der Kern der regenerativen Kulturen: aus der Tiefe zu leben und in der Demut, dass wir es vielleicht nicht schaffen. Dazu gehört, zur Liebe und zur Dankbarkeit für den Moment, für das Sein an sich zurückzukommen. Das ist der Wandel unseres Denkens und Seins, der uns auch die Kraft geben wird, es zu schaffen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Teile diesen Artikel: