Eine kurze Geschichte der Liebe...

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Essay
Publiziert am:

January 16, 2017

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Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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… und ein Blick in die Zukunft

Liebe ist mehr als ein Gefühl. Viel mehr, meint der Sozialphilosoph Maik Hosang. In seinem Beitrag beschreibt er Liebe als Triebkraft unserer Evolution, die immer wieder zu bahnbrechenden Innovationen geführt hat – und heute nach einem neuen Ausdruck sucht.

Wann entstand die Liebe? In diesem Essay möchte ich zeigen, dass unserer Entwicklung als Menschen von Beginn an eine evolutionäre Linie der Liebe zugrunde liegt und dass viele bedeutsame kulturelle, soziale, wissenschaftliche und wirtschaftliche Innovationen der Menschheitsgeschichte letztlich aus diesem Potenzial, der Energie oder Intuition der Liebe, inspiriert wurden.

Liebevolle Kommunikation mit der Natur

Unsere frühmenschlichen Vorfahren ernährten sich von Dingen, welche die Natur ihnen weitgehend fertig anbot. Sie sammelten Beeren, Wurzeln, Pilze und jagten Tiere, die in ihrer Umgebung lebten. Erst vor gut 10.000 Jahren änderte sich das: Die Menschen begannen, einige nahrhafte Pflanzen selbst anzubauen und Tiere zu zähmen. Der Übergang vom Jagen und Sammeln zu Gartenbau und Tierhaltung wird oft damit erklärt, dass die alte Art der Nahrungsbeschaffung nicht mehr ausreichte, weil Umweltbedingungen sich veränderten und die Anzahl der Menschen wuchs. Das erklärt jedoch höchstens die Notwendigkeit, nicht jedoch das »Wie« dieser für die Menschheitsgeschichte sehr bedeutsamen Innovationen. Reine Notwendigkeit genügt nicht, um etwas wirklich Neues und noch dazu Sinnvolles hervorzubringen. Um die nahrhaften Samen der wilden Gräser nicht nur zu sammeln und zu essen, sondern sie auch zu horten und gezielt auszusäen, braucht es einen anderen, ganzheitlicheren und umsorgenden Blick auf diese Pflanzen. In diesem neuen Blick stillen die Grassamen nicht nur unseren Hunger, die Menschen beginnen sie in ihren Entstehungs- und Veränderungsbedingungen zu beobachten und zu verstehen. Der Gartenbau entstand nicht durch die Entdeckung einer neuen Grassorte, sondern durch eine neue Haltung, mit der Menschen die Natur um sich herum wahrnahmen. Nicht nur Hunger, sondern auch liebevolle Fürsorge muss im Spiel gewesen sein, um diesen Schritt der Menschwerdung zu ermöglichen. Ebenso groß und entscheidend ist der emotionale Unterschied zwischen der Jagd auf wilde Tiere und der Zähmung und Zucht einer Schafherde. Auch hier entstand eine neue, liebevolle Beziehung, in der aus Beutetieren langjährige Gefährten der Menschen wurden.

Wortsprache als Artikulation der Liebe

Menschliche Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht vorwiegend durch hierarchische Rangfolgen strukturieren, sondern vielfältige freundliche Kommunikationen und Potenzialentfaltungen aller Individuen zulassen. Für die Organisation und Regulation von Hierarchien gab und gibt es im Tierreich angeborene Verhaltensmuster und wechselseitige Signalsysteme. Dominantere Organismen äußern sich gegenüber Rangniederen durch bestimmte Gesten, wie offene oder subtile Drohgebärden, und durch latent aggressive Tonlagen. Rangniedere reagieren da­rauf mit entsprechenden Unterordnungssignalen. Auch Zuneigung und Verbindung drücken sich in einer instinktiv vorgegebenen Gebärdensprache aus.

Im Übergang zu den menschlichen Gemeinschaftsformen entstanden Formen von Freiheit und Liebe, die allein durch instinktive Verhaltensweisen und Rollenverhältnisse nicht möglich gewesen wären. Es brauchte dazu eine neue Form von Kommunikation, für die es im Tierreich kaum Vorbilder gab. Jean-Jacques Rousseau äußerte in seinem Essay zur Entstehung der menschlichen Sprache eine erstaunliche Intuition. Er vermutete, dass die uns Menschen auszeichnende Lautsprache letztlich vor allem durch unsere Fähigkeit zur Liebe – also zu freier Verbundenheit – entstand. Ein neuer, freier Blick auf unsere Verbundenheit mit anderen Wesen befähige uns dazu, diesen anderen Wesen oder Dingen nicht einfach in einer naturbedingten Notwendigkeit zu begegnen, sondern in ihnen eigenständige Wesen zu erkennen und ihnen deshalb auch Namen zu geben. Daraus, dass die Entstehung der menschlichen Wortsprache vermutlich sehr viel mit unseren Fähigkeiten zu Freiheit und bewusster Verbundenheit zu tun hat, lässt sich jedoch nicht schlussfolgern, dass Sprache immer nur in diesem Sinne genutzt wird. Mit der Sprache ist es wie mit vielen Erfindungen, beispielsweise auch der oben genannten Tierhaltung: Wenn sie einmal vorhanden sind, können sie ebenso im Sinne von Gewalt und Unfreiheit eingesetzt werden wie im Sinne von Verbundenheit und Freiheit.

Die Entdeckung der Weisheit der Liebe

Zwischen 600 und 400 vor unserer Zeitrechnung gelang dem Volk der Griechen eine für die gesamte weitere Menschheitsgeschichte folgenreiche Innovation der liebevollen Kulturlinie. Die politischen Reformen von Solon, Kleisthenes und Perikles wandten sich gegen zu starke Besitzunterschiede und Schuldsklaverei und schufen die Grundlagen für Demokratie und vom Einzelnen einklagbares Recht. In der Regierungszeit des Letzteren, Perikles, ereignete sich dann eine ganz besondere und besonders folgenreiche kulturelle Innovation: Philosophie als erste Form freien Denkens und Forschens.

Zur selben Zeit hatten Kunst, Kultur sowie Architektur eine erste große Blütezeit, entstanden die ersten Theater, Museen und Olympischen Spiele. Diese wurden sogar staatlich gefördert und ermöglichten so einer Vielzahl von Bürgern die Entfaltung von kreativen Potenzialen. Die Hochphase sowohl von Philosophie als auch von Kunst fiel in die Regierungszeit von Perikles. Manches spricht dafür, dass ihm dies nur deshalb gelang, weil er in seiner kreativsten und wirksamsten Regierungsphase von einer mutigen und vielfältig für das Grundrecht von Liebe wirkenden Gefährtin, Aspasia, begleitet und inspiriert wurde. Aspasia war eine sogenannte Hetäre, ein Beruf oder besser eine Lebensart, die uns Heutigen kaum bekannt ist. Es waren Frauen und teilweise auch Männer, die ihre Bestimmung darin sahen, anderen Menschen Erfahrungen von Schönheit und Liebe zu ermöglichen. Dafür gab es damals eigene Schulen. Aspasia und Perikles wurden ein im besten Sinne des Wortes Königspaar der Liebe. Ihre ko-kreativen Ideen, In­spirationen und Taten schufen für einige Jahre einen bis dahin so nie vorhandenen Kulturraum für menschliche Potenzialentfaltung.

Zwar setzten sich in Athen dann wieder die alten Machtinteressen durch und führten, verbunden mit entsprechenden Kriegen, zum Niedergang dieser frühen Hochblüte menschlicher Kultur und Gesellschaft. Deren soziale, ästhetische und geistige Innovationen der Liebe wurden jedoch unterschwellig weitergegeben und führten nach Jahrhunderten erst im Orient und dann in Europa und Amerika zu neuen menschlichen Entfaltungsräumen. Insbesondere ihre neu entstandene Sprach- und Betätigungsform Philosophie – was nicht zufällig »Liebe zur Weisheit« bedeutet und oft auch die »Weisheit der Liebe« integrierte – bewirkte in fast allen folgenden Jahrhunderten immer wieder neue Aufbrüche der menschlichen Weisheit der Liebe.

Religionen der Liebe

Eine der folgenreichsten nächsten großen Innovationen der Liebe ist in unserem westlichen Kulturkreis bis heute sehr wirksam: das von der sogenannten Jesusbewegung ausgehende Christentum. Gerade in jüngster Zeit entstehen vermehrt Forschungen darüber, inwiefern die Liebe als Grund des Seins die zentrale Botschaft des ursprünglichen Christentums war und auf welche Weise dies auch in den historischen Formen dieser Religion immer wieder durch Kräfte von Dominanz und Aggression verdrängt wurde.

Ähnlich wie das Christentum waren auch die anderen großen Religionen der Menschheitsgeschichte trotz aller auch in ihnen immer wieder Einfluss gewinnenden Gegenkräfte letztlich kulturelle Selbstbewusstwerdungsformen der evolutionären Linie der Liebe. Ein sehr deutliches Beispiel dafür gab es im Buddhismus. Asoka war um 270 v. u. Z. der Herrscher des indischen Reiches und verbrachte seine ersten zwölf Regierungsjahre wie die anderen Herrscher vor ihm: Er führte Kriege, um sein Reich zu sichern und zu erweitern. Durch Kontakt mit der liebevollen Weltsicht des Buddhismus gelang ihm eine völlige Wandlung seiner selbst, seiner Politik und seines Landes. Er wurde einer der geschichtlich einflussreichsten Innovatoren von Frieden und Liebe als gesellschaftlichen Phänomenen. Seit 260 v. u. Z. sorgte er kraft seines Amtes dafür, dass nicht mehr Gewalt, Gräueltaten, Dünkel und Neid, sondern Mitgefühl, Verzeihen, Freiheit, Einfachheit und Sanftmut die entscheidenden Emotionen seines Reiches wurden.

Doch gab und gibt es auch in späteren Epochen zahlreiche gesellschaftliche Innovationen, die mehr oder weniger liebesmotiviert zu ähnlich positiven Phasen oder teilweise auch dauerhaften Stärkungen und Ausprägungen der evolutionären Linie der Liebe in einzelnen Völkern oder der ganzen Menschheit führten. Sowohl die amerikanische als auch die französische Befreiungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts führten trotz aller Rückschläge zur allgemeinen Anerkennung und rechtlich-demokratischen Etablierung der allgemeinen Menschenrechte in großen Teilen der Welt. Die Abschaffung von Sklaverei, die Durchsetzung und rechtliche Sicherung der Gleichberechtigung der Frau, die Einführung von allgemeinen Bildungsrechten und sozialen Sicherungssystemen in immer mehr Staaten der Erde und auch die noch immer eher schwachen Einrichtungen einer globalen Gerechtigkeit und Verantwortung – wie UNO und UNESCO – sind letztlich politische Ausprägungen der Liebe.

Dennoch sind diese politisch etablierten Energien der Liebe noch mehr oder weniger stark durchwachsen und begrenzt durch patriarchale Interessen. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass die bisherige Menschheitsgeschichte ein Hin-und-Her oder Vor-und-Zurück von liebevollen und aggressionsorientierten Gesellschaftssystemen war und ist. Umberto Maturana beschrieb in diesem Sinne zwei Evolutionslinien der Menschheitsgeschichte: die Linie der Liebe und die Linie der Dominanz.

Daraus folgt die Erkenntnis, dass die heutigen ökologischen und sozialen Krisen letztlich durch noch immer dominanzbasierte, pa­triarchale Praktiken verursacht werden, und dass daher trotz vielfältiger umwelttechnischer und sozialtechnischer Bemühungen bisher keine nennenswerte Transformation moderner Gesellschaften in Richtung einer nachhaltigen Wirtschaft und Kultur gelingt, obwohl es im letzten Jahrhundert Versuche für solch einen Aufbruch gab.

Gesellschaftliche Aufbrüche

Der erste Aufbruch dieser Art regte sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders in den Metropolen der westlichen Welt, die im Gefolge der wirtschaftlichen Globalisierung damals auch Ausgangspunkt einer ersten kulturellen Globalisierung wurden. Die zum Teil jahrhundertelang eingefrorenen Formen von Kultur und Ethik brachen auf, verursacht zum Teil durch interkulturelle Kontakte und zum Teil auch durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Natur des Menschen. In letzter Hinsicht maßgeblich waren zum einen psychologische Einsichten in die emotionale Dynamik des menschlichen Lebens, wie sie insbesondere Sigmund Freud und dessen Schülern gelangen. Dazu kamen erste sozialanthropologische Forschungen über frühere und in entlegenen Winkeln der Erde noch immer vorhandene Kulturformen menschlichen Lebens und Liebens. Dies brachte sowohl in Großstädten wie Paris, New York und Berlin, aber auch in pädagogischen und soziokulturellen Experimenten wie auf dem Monte Verità oder in Dresden-Hellerau zahlreiche neue und in vieler Hinsicht spielerisch freiere Formen von Kunst und Kultur, aber auch von Wirtschaft und Gesellschaft sowie teilweise auch von Liebe und Gemeinschaftlichkeit hervor.

Durch den Rückfall in die Barbarei, welche dominanz- und aggressionsgetriebene Gegenkräfte der alten patriarchalen Kulturen in Form zweier Weltkriege vom Zaun brachen, ging ein Großteil dieser neuen spielerischen Freiheit und Kreativität der Liebe lange Zeit wieder verloren. Es brauchte ein halbes Jahrhundert, bis sie sich in Form der sogenannten 68er Kulturrevolution wieder deutlicher Geltung verschaffen konnten. Auch wenn – wie es bei vielen Aufbrüchen gegen verkrustete Strukturen der Fall ist – dabei manches Kind erst einmal mit dem Bade ausgeschüttet wurde und zum Teil nicht mehr liebevolle, sondern radikal übertriebene Beliebigkeiten der Liebe (»Kommune 1« und anderes) gewagt wurden, so hinterließ diese Aufbruchsbewegung doch kulturelle Spuren, die seitdem in vielen Gesellschaften immer mehr zur Geltung kommen. Die endlich vollständige Gleichberechtigung der Frau, ihr freies Entscheidungsrecht über ihr Muttersein (»Abtreibungsrecht«), aber auch der Beginn des ökologischen Denkens und vermutlich sogar die erst 1990 gelungene Auflösung der bis dahin durch dominanz- und aggressionsinteressierte Kräfte aufrechterhaltenen Mauern zwischen Ost und West gehen letztlich auf diesen Aufbruch zurück.

¬Umberto Maturana beschrieb zwei Evolutionslinien der Menschheitsgeschichte: die Linie der Liebe und die Linie der Dominanz. ¬

Ko-Kreativität als Potenzial der Zukunft

Wirkliche Kulturen der Liebe sind Horte von gegenseitigem Vertrauen und Verstehen, von Kooperation und Ko-Kreativität, von Zärtlichkeit und Freiheit der individuellen Lebens-, Entwicklungs- und Tätigkeitsformen. Das heißt, sie schließen aus, dass Normen, Tabus und Erwartungen welcher Art auch immer durch ideologische Konstruktionen auf überirdische Götter projiziert werden, die in Form ihrer – meist männlichen – irdischen Stellvertreter den menschlichen Individuen gegenüber be- und verurteilend wirksam sind. In Kulturen der Liebe wird es zwar auch menschliche Vorbilder, Lehrerinnen und Ratgeber der Liebe geben, welche durch persönliches Beispiel andere dabei unterstützen, ihre Qualitäten der Liebe zu erkennen und so ihr persönliches Potenzial für sich selbst und die anderen Wesen dieser Welt zu entfalten. Doch diese werden sich nicht anmaßen, anderen deren Formen des Lebens und Liebens vorzuschreiben. Ihre Wirkungsform wird vielmehr eine des Einladens und Ermutigens sein.

Sind solche künftigen Gesellschaften, die sich bewusst und in geschichtlich bisher nie verwirklichter Weise durch die Liebe organisieren, illusionär oder möglich? Die Antwort darauf kann letztlich nur die Zukunft selbst geben. Doch es gibt zwei Argumente die für ein »Ja« sprechen: zum einen die kaum zu leugnende Tatsache, dass auch die demokratisch und kulturell fortschrittlichsten modernen Gesellschaften sowohl in ökologischer als auch in seelischer Hinsicht unbefriedigend sind, zum anderen ein Blick auf die irdische Evolution, die in ihrem langen bisherigen Lauf schon einige aus Sicht vorheriger Strukturen kaum denkbare Innovationen in einer letztlich der Entfaltung von Liebe und Bewusstsein zuordenbaren Tendenz hervorbrachte: so die Entstehung des Lebens selbst; die Entwicklung von ihren Kindern individuelle Zuwendung widmenden Säugetieren und die Entstehung des Menschen in dieser evolutionären Linie der Liebe – und nicht zuletzt die tendenzielle Verbreitung von Religionen, Philosophien, Künsten und Wissenschaften der Liebe, die trotz aller geschichtlichen Rückschläge in immer mehr Menschen die ko-kreativen Potenziale der Liebe freisetzen, stärken und entfalten.

Auch gegenwärtig gibt es diverse Rückschläge auf diesem Weg zu liebevolleren, empathischeren Gesellschaften und ein Erstarken dominanz- und aggressionsgetriebener Kräfte, wie sie sich in populistischen und nationalistischen Regressionstendenzen zeigen. Gerade jetzt ist also wichtig, dass wir uns auf die geschichtliche, evolutionäre Linie der Liebe besinnen und ihr heute wieder mit Nachdruck Gehör verschaffen – nicht zuletzt durch unser eigenes ko-kreatives Handeln und Lieben.

Author:
Prof. Maik Hosang
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