Hochsensibel – Segen oder Fluch?

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Kolumne
Publiziert am:

April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Das Thema Hochsensibilität ist zu einem Modethema geworden und die Gründe dafür könnten unterschiedlicher Natur sein. Anders als beim Prädikat »hochbegabt« ist es einfacher, sich zum Kreis der Hochsensiblen zu zählen, denn immerhin werden 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung als solche eingestuft. Hochsensibilität als einfaches Mittel, sich leistungsfrei wertvoll zu fühlen? Doch es gibt eine Gegenseite, denn der Preis der Hochsensibilität scheinen häufig eine schnelle Übererregung, Reizbarkeit, Stress und folglich Rückzugstendenzen zu sein. So kann Hochsensibilität auch zu einer aufwertenden Entschuldigung für die eigenen psychosozialen Dissonanzen werden. Wie also passt dies zusammen und muss das so sein?

Hochsensibilität ist kein eindeutiges psychologisches Konstrukt, sondern umfasst eine Reihe von Eigenschaften, darunter eine Wahrnehmungssensibilität in Bezug auf Feinheiten in der Umgebung, die in unterschiedlichen Sinnen wie dem Sehen, Riechen oder Hören unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Sie kann sich auf das empathische Einfühlungsvermögen beziehen, also darauf, wie ein Mensch soziale Situationen und Stimmungen erfasst, aber auch auf innere Wahrnehmungen, Fantasie und die Offenheit für neue Erfahrungen. Gleichzeitig können mit Hochsensibilität auch Aspekte wie leichte Erregbarkeit, Stressreaktionen durch Reizüberflutung, Vermeidungsverhalten und emotionale Dissonanzen verbunden sein. Was es für den einzelnen Menschen bedeutet, hochsensibel zu sein, ob dies Segen oder Fluch ist, bleibt zunächst unklar, denn manche dieser Eigenschaften können das Leben sehr bereichern, während andere es beeinträchtigen.

Aus diesem Grund haben wir im Rahmen der Kooperation des Forschungsbereichs Angewandte Bewusstseinswissenschaften am Uniklinikum Regensburg mit den psychosomatischen Heiligenfeld-Kliniken, Bad Kissingen, das Thema genauer betrachtet und einen neuen Fragebogen entwickelt, der zwischen salutogenen, also gesundheitsfördernden, und pathologischen, störungsbezogenen Aspekten unterscheidet. Wir betrachten darin die Wahrnehmungssensibilität, das soziale Umfeld, die Wahrnehmung von Emotionen und die Offenheit für neue Erfahrungen und gehen möglichen Problemen in der Verarbeitung des Wahrgenommenen nach. In einer Untersuchung mit Patienten der Heiligenfeld-Kliniken konnten wir deren Lebenskompetenzen und Resilienz, aber auch psychische Störungen wie Depressivität oder Burn-out in die Betrachtung einbeziehen. Menschen, die sich schwer damit tun, mit ihren Wahrnehmungen konstruktiv umzugehen, zeigen deutlich mehr Symptome von Depression und Angst.

Übererregt oder tief mit dem Leben verbunden? Achtsame Präsenz macht freier im Umgang mit Wahrnehmungen.

Andererseits erleben die nach unserer Definition sensiblen Menschen vermehrt positive Gefühle und innere Stärke, sind glücklicher, ausgeglichener, fühlen sich im Fluss und erreichen ihre Ziele leichter, sie leben bewusster, haben bessere soziale Beziehungen und empfinden mehr Sinn im Leben. Haben sie allerdings Probleme damit, ihre Wahrnehmungen zu verarbeiten, heben diese negativen Effekte die positiven Erfahrungen auf oder sie verkehren sich gar ins Gegenteil. Eine hohe Sensibilität kann also zu einem glücklichen, gelingenden und erfüllten Leben beitragen, doch müssen wir darauf achten, was unsere Wahrnehmungen in uns bewirken und wie wir mit ihnen umgehen. Achtsamkeitsübungen können hier einen wertvollen Beitrag leisten. Sie ermöglichen es, eine Meta-Perspektive einzunehmen, um zu beobachten, wie man Wahrnehmungen verarbeitet. Indem wir in der Präsenz des Augenblicks verweilen, lassen wir uns von gewohnten Reaktionen nicht mehr beherrschen.

Sensibilität kann ein Segen für uns sein, wenn wir in der Lage sind, mit dem, was wir wahrnehmen, in positiver Weise umzugehen. Denjenigen, die gerne sensibler wären, möchte ich noch die Erkenntnis mitgeben, dass die Sensibilität nicht, wie ursprünglich angenommen, ein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern bereits in wenigen Wochen beispielsweise durch körper-psychotherapeutische Übungen oder Achtsamkeitstraining erheblich gesteigert werden kann.

Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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