Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
November 5, 2018
Die digtialen Medien haben unsere Welt tiefgreifend verändert. Und viele bewegt die Frage, wie wir angemessen mit den Möglichkeiten und Gefahren umgehen können. Dabei wird klar, dass auch ein innerer Wandel nötig ist, um dieser neuen Medienrealität gewachsen zu sein. Deshalb haben wir fünf Menschen, die sich auf verschiedene Weise mit diesen Medien befassen, gefragt:
Claus Eurich
Bei den neuen Medien handelt es sich um eine Konvergenztechnologie. In ihr verbinden sich unterschiedlichste technische Entwicklungsprozesse und Errungenschaften zu einem Mega-System. Durch Technologie und Inhalte berührt und durchdringt dieses System alle Lebensbereiche, incl. des dazu gehörenden Bewusstseins. Die Verbreitung und Nutzung folgt dabei strikt den Gesetzen des Kapitalismus, wird aber auf Seiten der Konsumenten letztlich als »freiwillig« und »gewollt« wahrgenommen. Das sind beste Voraussetzungen für eine Symbiose von Mensch und Maschine oder besser von Bewusstsein und Bewusstseinstechnologie. Diese Symbiose hat bereits stattgefunden, und sie scheint mir irreversibel.
Nahezu jede(r) von uns lebt in einer entsprechenden drogenhaften Abhängigkeit. Sie bezieht sich auf die technischen Geräte und die von ihnen in den Kopf gesaugten virtuellen Welten und Begegnungsräume. Fixierung bei gleichzeitiger räumlicher Dezentrierung ist eine Folge davon. Fundamental wäre, dies zunächst einmal zu erkennen und bei sich wahrzunehmen. Allerdings setzt das ein Niveau von Selbstreflexion voraus, das uns gleichsam in ein Metabewusstsein stellt, in die empathische und auch kontemplative Beobachtung meines denkenden, empfindenden und handelnden Selbst. So können wir uns dann lösen, wenn wir es (vorübergehend) wollen. So lernen wir, uns neu zu finden und in uns, in Herzenergie zu ruhen. Chancen dafür? Sie liegen nahe am Wunder...
Prof. Claus Eurich, Professor für Kommunikation und Ethik, Kontemplationslehrer.
Susanne Baumgartner
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer sehr vielfältigen Medienlandschaft auf, im Vergleich zur Medienlandschaft vor 20 oder 30 Jahren. In meiner Forschung konzentriere ich mich auf das Multitasking, also wie Jugendliche mehrere Medien gleichzeitig nutzen oder Medien benutzen, während sie andere Dinge tun, zum Beispiel beim Hausaufgabenmachen. Ein Ergebnis ist, dass die Gruppe, die Medien kombiniert benutzt, mehr Aufmerksamkeitsprobleme im Alltag hat.
In früheren Modellen wurde angenommen, dass die Menschen von den Medien direkt beeinflusst werden. Heute erkennen wir, dass es eine kontextabhängige Interaktion ist. Es ist schwer, darüber generelle Aussagen zu treffen. Die positiven und negativen Effekte hängen von den Medien, von den spezifischen Inhalten und von den betreffenden Kindern oder Jugendlichen ab.
Es gibt auch Studien über gute Lernerfolge, wenn Kinder mit Apps und Videogames spielen. Dabei kommt es auf das Maß an, zu viel ist nie gut. Man muss lernen, damit umzugehen. Gerade die Eltern, die nicht damit aufgewachsen sind, sehen diese Risiken und manchmal nicht die Vorteile.
Die digitalen sozialen Medien werden nicht verschwinden. Wir müssen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle lernen. In unseren Studien korrelieren mangelnde Selbstkontrolle und Impulsivitätsstörungen von Jugendlichen immer mit den Medienproblemen, wie Mediensucht, Binge Watching und Multitasking.
Dr. Susanne Baumgartner, Assistenzprofessorin an der -Amsterdam School of Communication Research.
Thomas de Zengotita
Wenn »neues Bewusstsein« eine Transformation unserer Spezies durch spezifische neurologische Parameter bedeutet, dann ist die Antwort »nein« (da eindeutige Hinweise auf eine solche »Prägung« fehlen). Wenn jedoch »neues Bewusstsein« eine kulturelle und neurologische Denkweise bedeutet, dann ist die Antwort »ja«. Marshall McLuhan und Walter Ong konnten bei Völkern mit mündlicher Überlieferung und Völkern mit lese- und schreibkundigen Kulturen radikale Unterschiede nachweisen. Die letzteren erfahren sich selbst auf verschiedene Weisen als getrennt von der Welt. Das schriftkundige Selbst objektiviert die Landschaft des Lebens, um effektiv darin zu navigieren – oder indem es die Last der Selbststeuerung ablehnt – sich in orgiastischer Selbstentsagung zu ergehen. Mündliche/traditionelle Menschen erleben sich selbst als untrennbar von den natürlichen und sozialen Welten. Sie sind einfach in ihren verwandtschaftlichen Verbindungen und tun das, was Tradition und Brauch fordern. So halten sie ein Leben in einer Welt aufrecht, die durchdrungen ist von inneren Bedeutungen und Werten. Anstatt zu objektivieren, nehmen sie teil.
Menschen in der heutigen multimedialen Umwelt leben in einem Bewusstsein, welches die Prämoderne und die Moderne verbindet. Sie sind intensiv teilnehmend und völlig getrennt. Sie schwärmen inbrünstig von ihrem Leben, das sie auf ihren Facebookseiten ausstellen, gleichzeitig pflegen sie diese Seiten mit der ästhetischen Objektivität eines bezahlten Beraters. Sie brausen auf vor Wut über Trumps letzte Schandtat, und dann geht es im nahtlosen Übergang zu einer Analyse der letzten Auseinandersetzung zwischen den Rapperinnen Cardi B. und Nicki Minaj.
Das Bewusstsein, das für die neuen Medien erforderlich ist, ist vor allem mobil. Angesichts des Ausmaßes und der Geschwindigkeit, die die neuen Medien vorgeben, ist das der einzige Weg, wie ein Selbst leben kann, wenn es in diesem Umfeld sein möchte.
Dr. Thomas de Zengotita, Anthropologe, Journalist und Autor u. a. von »Mediated«.
Wolf Nkole Helzle
Als ein geistiges Wesen, welches für eine Zeit lang in einem menschlichen Körper menschliche Erfahrungen macht und die Welt gestaltet, ist es wichtig, dem Trauma zu entkommen, seine Herkunft zu vergessen, sodass häufig nur Geburt und Tod die absolute Berührung des Geistigen mit dem Körperlichen erlebbar machen. In der Zwischenzeit – dem sogenannten Leben – lenken wir uns in der Regel unter Zuhilfenahme gängiger Medien und anderer dinglicher Themen davon ab, warum wir hier sind und was wir hier zu tun haben.
Insofern verlangen für mich nicht die neuen Medien ein neues Bewusstsein, sondern wir müssen immer wieder neu Wege der Erinnerung finden und anlegen, auf welchen so viele wie möglich gehen können, sicher auch unter Einbeziehung der jeweils neuen Medien. Für mich stellt sich die Frage, in welchem Geist jemand diese neuen Medien verwendet und ja, jedes neue Medium kann auch für die Erinnerung verwendet werden, kann auch Wege aufzeigen jenseits des absoluten Materialismus, jenseits von Raum und Zeit: Die Welt ist nicht ihre Beschreibung.
Insofern möchte ich die Frage mit JA beantworten, da man sich in jedem Medium anders auszudrücken hat, damit man verstanden wird. Der Leser einer Zeitung nimmt anders wahr als der Fernsehzuschauer oder der User einer App wie Insta-gram, Twitter oder Facebook. Das Bewusstsein hat sich in neuen Medien neu auszudrücken, mitzuteilen.
Wolf Nkole Helzle, Maler und Medienkünstler.
Jeremy Johnson
Der große Medientheoretiker Marshall McLuhan erklärte, dass mit dem Beginn der Elektrizität das Zeitalter der Printmedien – wo ein Wort dem anderen folgte – vorbei war. Das elektrische Zeitalter und jetzt das Zeitalter der neuen Medien produzierte den größten Umschwung in der kulturellen Entwicklung, indem es die mittelalterliche Form der »Ikone« zurückbrachte – Bild, Film, Fernsehen oder noch aktueller den strahlenden iPad-Bildschirm. Dadurch erreichte uns schließlich eine neue Form des Bewusstseins. Elektrizität impliziert die gleichzeitige Gegenwart des vollständigen Nervensystems, einen völlig eingehüllten Körper. Dies verspricht also einen neuen elektrischen Körper, der von den trennenden Perspektiven des rationalen Bewusstseins befreit.
Der Körper ist, wie sein Bewusstsein, eine aperspektivische, integrale Einheit, die aus Konfigurationen und nicht aus kausalen Abfolgen besteht. Er ist ein integraler Körper, der sich in Dimensionen ausweitet und durch die Zeit verteilt wird. »Ich enthalte Vielheiten.«
Doch bevor wir dieses integrale Bewusstsein verwirklichen können, müssen die neuen Medien durchschaut werden. Sie haben zwei Seiten: Die neuen Medien bringen das Versprechen auf die Klarheit einer aperspektivischen, integralen Welt zum Ausdruck, genauso wie die Probleme einer perspektivischen, rationalen Welt. Sie dezentralisieren, aber sie trennen auch. Sie sind ein Netzwerk, aber sie sind rational. Neue Medien überschreiten die Zeit, binden uns aber auch an das digitale Jetzt. Wenn die neuen Medien heute in diesem Übergang Trennung bewirken, liegt der Grund darin, dass wir getrennt sind. Das Neue kann nur durch Neues entstehen; wir können das Ganze nur erfassen, wenn wir aus diesem Ganzen in uns handeln.
Jeremy Johnson, Autor, Journalist und Präsident der International Jean Gebser Society.