Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 21, 2016
Im Schloss Freudenberg wird in einem »Erfahrungsfeld der Sinne und des Denkens« in verschiedenen Räumen spielerisch das Erleben einer vertieften Wahrnehmung vermittelt. Einer dieser Räume konfrontiert Menschen mit der Erfahrung des Dunkels. Wir sprachen mit Maike Meyer-Oldenburg vom Schloss Freudenberg darüber, was diese Erfahrung mit den Menschen und ihrer Wahrnehmung macht.
evolve: Im Schloss Freudenberg gibt es einen Dunkelgang und eine Dunkelbar. Wie reagieren die Menschen, wenn sie mit der Erfahrung der absoluten Finsternis konfrontiert werden?
Maike Meyer-Oldenburg: Die Welt, die wir kennen, ist die Welt, die wir sehen. Wenn der Sehsinn seinen Beitrag nicht leisten kann, führt das zu einer Irritation. Viele Menschen reagieren mit Verunsicherung, manche mit Angst. Wenn ich eine Situation nicht überschaue, tappe ich im wahrsten Sinn des Wortes im Dunkeln. Die Zuschauerrolle ist plötzlich keine Option mehr. Ich kann mich nicht auf einen distanzierten Beobachterposten zurückziehen und verliere dadurch ein wenig die Kontrolle. Was, wenn ich hinter das Licht geführt werde? Ich begebe mich ins Offene – ins Risiko. Darin liegt auch gleichzeitig der Reiz. Schaffe ich das? Wie gehe ich mit meiner Unsicherheit um? Kann ich meine Angst überwinden? Gerade in der totalen Finsternis kann mir ein Licht aufgehen im Hinblick auf meine ganz persönliche Bewältigungsstrategie. Manchen Menschen hilft es, wenn sie in Worten zum Ausdruck bringen, was sie ertasten oder unter den Füßen spüren – die Vorstellungsbilder und dadurch erzeugte Beklommenheit treten in den Hintergrund. Ich gehe in Kontakt mit ganz konkreten Gegebenheiten, einer rauen Holzoberfläche, kühlem glattem Wandverputz – und werde neugierig auf die Gegebenheiten, lasse mich ein auf das, was ist. Ich finde diese Erfahrung sehr spannend, gerade für den modernen Menschen. Warum gibt es so viele Versicherungen? Es scheint ein Grundbedürfnis zu sein, Zukunft abzusichern. In der Dunkelheit geht es darum, sich auf die Unvorhersehbarkeit einzulassen. Ein gewisser Verzicht auf Planung und Kontrolle, dafür aber ein Gewinn an Lebendigkeit, denn Lebendiges ist unvorhersehbar.
e: Was ändert sich für die Erfahrung unserer Sinne, wenn wir eine Zeit lang den Sehsinn nicht zur Verfügung haben?
MMO: Spontan wird meist das Störende erfahren. Aber »Lebendiges benötigt zu seiner Entfaltung die Herausforderung und Störung«, beobachtete Hugo Kükelhaus, der Initiator der Erfahrungsfelder. Ohne das Sehen werden insbesondere der Hör- und der Tastsinn herausgefordert. Schauen Sie auf die menschliche Geburt: Um auf dieser Welt anzukommen, erfährt der Mensch, was es bedeutet, »durch etwas durchzugehen« – sein ganzer Leib gerät in ärgste Beengung und Bedrängnis und er macht an jeder Stelle seiner Körperhülle die Erfahrung einer Berührung. Diese Form der Inanspruchnahme des gesamten Tastorgans steht am Lebensanfang. Das ist großartig. Und selbstverständlich hat der Tastsinn einen direkten Bezug zur Intimität. Er ist unser Grenz-Organ. Ich erfahre durch ihn die eigene Begrenzung und insofern ermöglicht er mir ganz wesentlich das Erleben meiner eigenen Identität. Berühre ich etwas, trete ich in Verbindung mit der Außenwelt und erfahre gleichermaßen mein Getrennt-Sein von ihr. Mir wird bewusst: Das da draußen bin nicht Ich. Verbindung und Trennung zugleich – das scheint eine paradoxe Erfahrung. Durch das Erleben des Getrennt-Seins wird die Sehnsucht nach dem Da-draußen geweckt.
Auch das Hören wird zum Ortungsinstrument. In unserer Dunkelbar arbeitet Sebastian. Er ist fast blind. Üblicherweise wird in so einem Fall rasch von einer Behinderung gesprochen. Die Zusammenarbeit mit ihm zeigt aber, dass es umgekehrt ist: Er hat besondere Fähigkeiten, zum Beispiel ein großartiges Hörvermögen. Meine Normalität hingegen ist eine Behinderung in der Entfaltung des Hörens. Denn das Sehen reicht nur bis an die Oberfläche. Darunter gelange ich mit dem Hören. Beispielsweise, wenn ich einer menschlichen Stimme lausche, verrät sich in ihr für das feine Ohr auch (Un-)Stimmigkeit oder Stimmung, Gefühl und Zustand des Sprechenden.
e: Schafft das Wegfallen des Sehens eine tiefere Intimität?
MMO: Ja, das ist möglich. Ein Mensch kann in der Dunkelheit die Erfahrung einer tiefen Innigkeit machen, denn er wird auf sich selbst zurückgeworfen. Zunächst fühlt er die Einsamkeit. Intimität heißt ja übersetzt so viel wie das »Innerste« oder »dem Äußeren am Fernsten«. Die Dunkelheit wirkt im ersten Moment ähnlich wie die Kälte. Sie bewirkt, dass ich mich vom Äußeren ins Innere zurückziehe. Das ist auch jetzt in der »dunklen Jahreszeit« erlebbar. Das Fehlen des Lichts ermöglicht Innerlichkeit und eröffnet die Entdeckung von inneren Räumen. Manche Menschen schließen die Augen, um hingebungsvoller hören zu können, und dringen lauschend in ungeahnte Tiefen vor. Das ist ein sehr sensibler Vorgang und entbehrt gewiss nicht der Intimität. Mir will aber scheinen, dass das eigentliche Geheimnis die Aufmerksamkeit ist. Wie schon gesagt, in der Dunkelheit werde ich zur Langsamkeit, Unmittelbarkeit und radikalen Wachheit gezwungen. Ich muss im Jetzt aufmerksam sein, denn alles Weitere ist unvorhersehbar. Diese Steigerung für den gegenwärtigen Moment birgt ein großes Potenzial: Lebendigkeit, die ohne Risiko nicht zu haben ist. Das können Sie an dem Leuchten in den Augen all jener sehen, die es durch den Dunkelgang geschafft haben.
e: Welche Rolle spielt das Bewusstsein in dieser Vertiefung der Sinneserfahrung?
MMO: Wenn auf die Sinneseindrücke und Wahrnehmungen nicht ein Bewusstseinsstrahl trifft, so mögen sie eine Wirkung haben, eine Erfahrung werden sie nicht. Die Umfänglichkeit unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten ins Bewusstsein zu bringen, steht im Zentrum unserer Arbeit auf dem Freudenberg. Dabei ist der erste Schritt scheinbar einfach: gewahr werden, was ist – unvoreingenommen, aufmerksam, wach und hingebungsvoll. Dennoch fällt das schwer, besonders beim Riechen. Ein Geruch vereinnahmt und wirkt häufig wie ein Überfall. Das Urteil, ob etwas stinkt oder duftet, ist schneller getroffen als gesagt. Seltener trifft das Wort zu, mit dem ich versuche, die Qualität des Duftes zu beschreiben. Das ist eine Frage der Haltung, genauer gesagt der Zurück-Haltung. Gelingt es, einer Sache wirklich gerecht zu werden? Ein Phänomen hinzunehmen, wahrzunehmen, aufzunehmen? Die Sinne sind selbstlos. Der Bearbeitungsprozess oder das Bewusstsein beginnt mit der Begriffsbildung, dem Denken, und mündet im Urteilen. Hier laden wir ein, sich Zeit zu nehmen. Wir nennen es »barfuß denken«. Ziehen Sie dem Denken erst einmal die Sprinter-Schuhe aus, oder die wasserfesten Gummistiefel. Erkunden Sie tastend, langsam und vorsichtig den Boden der Gegebenheiten und prüfen Sie eingehend den Grund. Es gibt viele Gang-Arten – auch im Denken. Wer es »auf nackten Sohlen« versucht, dem entgeht weniger – vielleicht geht ihm dabei auch auf, wie es geht?