Mitgefühl und Evolution

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Kolumne
Publiziert am:

April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Wenn wir darüber sprechen, was die Krisen in der gegenwärtigen Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur ausmacht, dann fallen uns manche Worte ein: ökologische Krise, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Zunahme seelischer Störungen etc. Schaut man jedoch tiefer hin, dann lässt sich all dies in gewisser Weise als ein Mangel an Seele verstehen.

Der Begriff »Seele« war unter anderem Ausgangspunkt des Wissenschaftszweigs Psychologie. Der Mediziner und Philosoph Rudolf Hermann Lotze verfasste Mitte des 19. Jahrhunderts ein Werk zur »Physiologie der Seele«, in welchem er die Bedeutung dieses Begriffs gegen jegliche materialistische wie auch geistige Vereinseitigungen verteidigte. Noch beim heutigen Lesen dieses Werks staunt man, wie differenziert er dabei argumentiert, und kommt ins Fragen, warum dieser Integrationsbegriff weitgehend aus der Wissenschaft verschwunden ist. Vermutlich erfolgte diese Vernachlässigung bzw. Verdrängung des Begriffs der Seele in der vorwiegend materialistisch orientierten Industriegesellschaft und ihren Wissenschaftssystemen deshalb, weil eine dritte Dimension zwischen Materie und Geist die effektive Entfaltung der Industriekultur behindert hätte. Denn Menschen mit lebendiger Seele wären nur beschränkt dazu fähig gewesen, große Teile ihres Lebens den Götzen Profit und Konsum zu weihen.

Doch die trotz aller materiell-technischen Erfolge ebenfalls wachsenden ökologischen und seelischen Krisen deuten heute da­rauf hin, dass es Zeit wird, diese verdrängte Kategorie menschlicher Existenz wieder mit in den Fokus moderner Wissenschaft zu rücken. Denn ihre zwar zunehmende, doch bisher nur populäre oder esoterische Reaktivierung wird den Ansprüchen modern-nachhaltiger Kultur nicht gerecht. Die populären Seelenbegriffe bleiben nicht nur zu unkonkret, sie reaktivieren oft auch jene Tendenzen von magisch-mythischer Wirklichkeitsflucht, deren kritische Auflösung eine entscheidende Leistung moderner Wissenschaft und Kultur war und ist.

Die Seele ist ein besonderes Potenzial der menschlichen Psyche, welches über genetische, familiäre und kulturelle Dispositionen und Prägungen einer menschlichen Person hinausgeht. Dieses Potenzial erwächst aus der innerpsychischen Wechselwirkung mit einem universellen Informations- und Energiefeld, welches traditionell als Gott, Brahma, Tao etc. und modern als Universum, Lebensfeld oder Nullpunktfeld bezeichnet wird. Die Art und Weise dieser Wechselwirkung wird dabei entweder als innerlich weitendes Gefühl von Liebe oder mehr als zweckfrei reflektierendes Gewahrsein bezeichnet. Neben Liebe und Gewahrsein gehören innerlich weitende Gefühle wie Sehnsucht, Freiheit und Leichtigkeit in diesen Seelenraum.

-IN DER MATERIALISTISCH ORIENTIERTEN INDUSTRIE-GESELLSCHAFT WURDE DER BEGRIFF DER SEELE VERNACHLÄSSIGT.-

Weitere Erklärungsversuche dafür, wa­rum im Menschen seelische Potenziale existieren, finden sich insbesondere bei den Philosophen des frühen 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere Herder, Fichte, Hegel, Max Scheler, Aurobindo Ghose und Teilhard de Chardin. Aus einer Zusammenfassung ihrer Gedanken ergibt sich folgende These: Die universelle Evolution brachte tendenziell immer komplexer vernetzte und immer komplexer wahrnehmungsfähige Lebewesen hervor. Erst durch den Menschen, der sich von seinen evolutionären Vorfahren neben komplexeren Hirnstrukturen insbesondere durch Potenziale der Liebe (d. h. auch der Seele) unterscheidet, wird sich diese universelle Evolution mehr und mehr ihrer selbst bewusst.

In der Geschichte gelang es immer wieder einzelnen Menschen, ein weitgehend freies seelisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Obwohl deren Ausdrucksformen je nach umgebender Kultur etwas differierten, waren und sind allen diesen Menschen verblüffend identische Potenziale und Qualitäten gemeinsam: ihr Fühlen, Denken und Handeln orientiert sich nicht primär an egozentrischen Bedürfnissen und Interessen, sondern an universellen Werten des Guten, Wahren und Schönen. Im Unterschied zu sogenannten »Erlösten« tendieren sie jedoch nicht dazu, die sowohl materiell und emotional, als auch in ihrem evolutionären Zustand immer auch begrenzte natürliche und kulturelle Wirklichkeit zu verdammen oder zu verlassen. Sie erkennen die grundlegend duale Psyche jedes Menschen, einschließlich ihrer selbst, an. Daraus erwächst einerseits Verständnis und Mitgefühl für die »Fehler« und »Schwächen« der Menschen und andererseits ein trotz aller erlebter und erlittener Enttäuschungen und Evolutionswiderstände ungebrochenes sensibles Engagement für kulturelle, soziale, ökologische und wirtschaftliche Innovationen im Sinne der universellen evolutionären Grundwerte des Guten, Wahren und Schönen.

Author:
Prof. Maik Hosang
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