Nach Hause kommen in Corona-Zeiten

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Essay
Publiziert am:

July 12, 2021

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Ausgabe 31 / 2021:
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July 2021
Wir alle leben in Mythen
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Corona kam, als ich an meinem Buch »Nach Hause kommen« schrieb. Welch eine zeitliche Koinzidenz, denn »Nachhause­kommen« steht für mich im Zentrum von dem, was wir mit der Ankunft der Corona-Zeiten erlebt haben. Die ersten 18 Reimpaare des Masnavi, eines umfangreichen Gedichts des islamischen Mystikers Rumi, sprechen ­detailliert über das Nachhausekommen unter Verwendung des Symbols der Schilf­flöte. Diese wurde aus einem Schilfrohr, ihrem ursprünglichen Zuhause, geschnitten, innen ausgehöhlt und ihr wurden Löcher eingebrannt. Ihr Klagen lässt uns spüren, was Trennung bedeutet.

Wir können uns für einen Moment in ihre Lage versetzen. Sind wir uns unserer Trennungsgeschichten bewusst? Falls nicht, spricht Covid sie für uns an. Die Pandemie erzählt uns unsere Geschichten so laut, dass wir sie niemals wieder übergehen können. Unsere gewohnheitsmäßigen Wege wurden unterbrochen und uns wurde gezeigt, wie unsere Komfortmechanismen jederzeit unterbrochen werden können, indem wir von unserer gewöhnlichen Wahrnehmung getrennt werden. Und mit Corona wird immer klarer, dass die Vorstellung von einem Zuhause, das auf Lebensstilen basiert, die uns eine heile Welt vortäuschen und das Ego befriedigen, keine Option mehr ist. Was nicht im Dienst des Ganzen ist, wird mit dem Schmerz und den Herausforderungen, die mit Corona einhergehen, verbrannt.

Welche Arten von Trennungen zeigen sich in diesen Zeiten? Vertriebene Tierwelten, brennende Wälder, Immigranten, viele Menschen, die sich wie ich und wie meine Freunde weit weg von zuhause fühlen in einem System, das nicht mehr funktioniert. Ich nehme wahr, wie wenig wir mit der Erde und ihren Lebensformen verbunden sind.

WIEDER NACH HAUSE ZU KOMMEN IST DIE ENTDECKUNGSREISE UNSERER BEZIEHUNG ZUM HEILIGEN. 

Ich nehme wahr, wie sehr wir uns isolieren mit unseren anmaßenden Annahmen und Vorstellungen davon, wie Dinge sind und sein sollten. An ihnen festhaltend, werden wir geblendet und betäubt im Angesicht dessen, was wirklich ist. Obendrein versuchen wir, Lösungen zu finden, die aus der gleichen Wurzel stammen wie das Problem selbst. Tatsächlich haben wir uns bereits lange vor Corona in Quarantäne begeben, indem wir uns in den Kom­fortzonen unserer fiktionalen Wirklichkeiten aufhielten.

Inmitten dieser Herausforderungen sind wir taub gegenüber der Existenz der Erde unter uns und des Himmels über uns. ­Solange wir nicht innehalten und uns erlauben, demütig zu sein im Angesicht des Größeren, von dem wir ein Teil sind, und uns dieser Erkenntnis jeden Tag in Hingabe zu stellen, wird es viele sogenannte Krisen und Katastrophen geben. Diese bewegen uns dazu, uns auf die Größere Geschichte auszurichten. In ihrem Kern geht es um ein Nachhausekommen.

Für uns ist das Zuhause ein Ort, an dem wir uns sicher und wohl fühlen. Wir nennen unsere Familie, unsere Arbeit, unsere Projekte unser Zuhause. Um zu überleben, werden unser Gehalt und unsere Versicherungen unser Zuhause. Für manche ist ihr sozialer Status, ihre Position, ihr Prestige ihr Zuhause. Es definiert, wer jemand ist. Manchmal sind es Freunde, mit denen wir unsere Einsamkeit kompensieren, oder ­eine Gemeinschaft, zu der wir gehören. Für manche sind es Workshops, Trainings oder Retreats. Sogar unser spiritueller Weg und die entsprechenden Praktiken tendieren dazu, unser Zuhause zu werden. Was ist aber, wenn wir durch all diese Versuche, ein Zuhause zu finden, den Weg zu unserem wirklichen Zuhause, unserem Ursprung und der Quelle, aus der wir entspringen, blockieren?

Was wäre, wenn nichts von dem oben Genannten unser wirkliches Zuhause wäre? Was wäre, wenn das Zuhause im Unbekannten als unserer nahen Zukunft läge, wie Corona uns immer wieder zeigt? Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass wir das Zuhause nicht auf ein Konzept herunterbrechen, es rationalisieren und systematisieren können, aber stattdessen empfänglich sein können, um in Geduld, Demut und Respekt darauf zu warten? Was wäre, wenn wir endlich verstünden, dass es eine existenzielle Notwendigkeit ist, den menschlichen Willen und die daraus resultierenden Machtdynamiken in ihrer Begrenztheit wahrzunehmen?

Für Sufis gibt es nur das Heilige Eine, die Intelligente Weisheit. Es manifestiert sich in verschiedenen Formen. Da sich das Heilige gemäß unserem Potenzial entfaltet, manifestiert sich das Heilige in jedem von uns auf eine andere Weise. Das können wir um uns herum sehr deutlich beobachten. Allerdings ist das Heilige nicht im Himmel zu finden und hat auch nichts mit einem Gott zu tun, der unsere Fehler aufdeckt und uns straft. Wenn nichts außer dem Heiligen existiert, kann es keine Dualität geben. Das heißt, ich bin voll verantwortlich. Ich bin die brennenden Wälder, ich bin das Artensterben, ich bin die Flüchtlinge an den Grenzen. Ich bin das Heilige, das sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert; durch Wasser, Feuer, Erde und Luft. Wieder nach Hause zu kommen ist die Entdeckungsreise unserer persönlichen und einzigartigen Beziehung zum Heiligen. Das Zuhause ist das Heilige selbst, das sich allen menschlichen Definitionen entzieht.

Author:
Aslinur Akdeniz Brehmer
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