Reflexionen einer Reise

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Essay
Published On:

April 21, 2017

Featuring:
Michal ­Raphael
Gesine Schwan
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Issue:
Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
Leben lernen
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Auf der Suche nach deutscher Identität

Was bedeutet es, als junger Mann im 21. Jahrhundert in Deutschland geboren zu sein? Diese Frage stellte sich Adrian Wagner schon früh. In diesem Essay reflektiert er darüber anhand seiner eigenen Erfahrungen als Friedenspilger in Israel, als Reisender im Nahen Osten, als Student für Public Policy in Berlin und als Praktikant bei der Europäischen Kommission in Brüssel.

Die Frage nach meiner deutschen Identität stellte ich mir zum ersten Mal bewusst als ich 19 Jahre alt war. Ich leistete damals meinen Zivildienst in einem Jugend- und Kulturzentrum, anthroposophisch geprägt, in den 68ern gegründet. In einem Seminar zur »Heilenden Wunde der deutsch-jüdischen Beziehungen« begegnete ich Gitta Sereny und Jessiahu Ben Aharon, Mitgründer des anthroposophischen Kibbuz Harduf. Etwas Eigentümliches geschah in diesen Begegnungen. Plötzlich wurde aus Vergangenheit Gegenwart. Ich wurde hineingeworfen in die Frage nach meiner – deutschen – Identität: Was bedeutet es, als junger Mann im 21. Jahrhundert in Deutschland geboren zu sein?

Wenig später saß ich im Flieger, mein Ziel: Israel. Ich treffe meinen Freund Michal ­Raphael, einen Aktivisten und Weltenbummler, den ich in Portugal kennengelernt ­habe. Wir fahren zum See Genezareth, in den kommenden Wochen wandern wir mit einer Gruppe, die meisten Teilnehmer aus Deutschland, durch Israel und die Westbank. Es ist eine Friedenspilgerreise, die uns bis nach Jerusalem führt. Wir meditieren an der Klagemauer, versuchen, zwischen Soldaten und Steine werfenden Kindern zu vermitteln, geraten zwischen die Fronten und erfahren die Komplexität des Konfliktes hautnah. Es werden sieben Monate, in denen ich durch Israel, Ägypten, die Türkei und Griechenland und von dort per Anhalter nach Hause trampe.

In Deutschland angekommen, wehen die Fahnen in schwarz-rot-gold, es ist die Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2006. Die Gastfreundschaft, welche ich im Mittleren Osten erfahren durfte, scheint plötzlich Deutschland erfasst zu haben.

Es braucht Monate, um die Eindrücke zu sortieren. Ich beginne, intensiv Landkarten der Bewusstseinsentwicklung zu studieren. Ken Wilber und Rudolf Steiner sind dabei stetige Begleiter. Die Frage nach Identität, Schatten – meinem eigenen und dem meiner Nation – lässt mich nicht mehr los. Israel und das Reisen halfen mir, aus dem Gewohnten herauszutreten. Erst in der Fremde entdeckte ich die prägenden Muster meiner Kultur: den Drang, sich ausschließlich mit Europa zu identifizieren, die Skepsis vor allem Nicht-Rationalen, vor der ­Hingabe an etwas Größeres – sei es eine Nation, Religion oder Spiritualität.

Die Verbundenheit durch die Nation erscheint mir befremdlich. Aufgewachsen und geprägt durch einen säkularen Pluralismus, befremdet mich die Ausrichtung auf Gott, welcher ich immer wieder auf der Reise durch Israel und den Nahen Osten begegnete. Gleichzeitig stand ich in Ausnahmesituationen immer wieder vor Entscheidungen, wo lediglich Intuition und Vertrauen mir halfen, den nächsten Schritt zu gehen. In der Wüste, in Nazareth oder Jerusalem wurde für mich auch eine All-Verbundenheit spürbar, die mich überraschte. Wilber und Steiner waren es, die mich auf diese inneren Orte innerhalb meiner deutschen, geistig-spirituellen Tradition hinwiesen – versteckt und verborgen unter Altlasten unserer Geschichte.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen, meine Reise hat mich zwischenzeitlich nach Berlin geführt. Bei Gesine Schwan an der Humboldt-Viadrina School for­Governance, unweit des Bundestages, studierte ich Public Policy, praxisnah und interdisziplinär beschäftigten wir uns mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. Gleichzeitig hat Deutschland zunehmend an globalem Gewicht gewonnen, ein grüner Lebensstil, Yoga und Meditation sind keine­Randerscheinungen mehr, sondern beinahe schon im Mainstream angekommen. Die dritte Nachkriegsgeneration, meine Generation, scheint müde, weiter über die Vergangenheit nachzudenken, aber motiviert, die Zukunft zu gestalten. Berlin, die Welthauptstadt der Hipster, ist offen und progressiv. Auch viele Israelis suchen heute dort ein neues Zuhause.

Während viele sich lokal engagieren, ihren Stadtgarten pflegen und meditieren, droht außerhalb der Metropolen ein vergessen geglaubter Geist wieder aufzustehen. Es sind nicht nur die Abgehängten und Ewiggestrigen, die sich Rechtspopulisten wie Björn Höcke und Frauke Petry an die Macht wünschen. Es ist ein Aufbäumen derer, die sich nach einem einfachen, monokausalen Identitätsentwurf sehnen. Darunter auch besserverdienende Pessimisten, wie jüngst in einer Studie berichtet.

Angesichts dieser Entwicklungen denke ich häufig zurück an meine Reise in den Nahen Osten. Plötzlich scheint es, als ob mich die Herausforderungen mit religiösen Konflikten und Terror, die ich dort erlebte, einholen. Während durch die Flüchtlingskrise in weiten Kreisen ein neues Bewusstsein spürbar wurde, ein Deutschland der Gastfreundschaft, wuchs die Angst vor dem Anderen, vor dem Terror erheblich. Wie kann in solch einer Situation gesellschaftliche Transformation gelingen? Ich mache mich erneut auf die Reise, dieses Mal nach Belgien, um als Praktikant bei der Europäischen Kommission erste Erfahrungen zu sammeln.

¬ Verletzlichkeit macht offen für den ko-kreativen Dialog. ¬

Ich erinnere mich gut an den dumpfen Aufprall, die leichte Erschütterung in meinem Büro in Brüssel. Es war die Metro unter mir, die durch einen Selbstmordanschlag zerstört wurde. Nach der Evakuierung sitzen wir mit anderen Praktikanten zusammen, keiner will alleine sein. Heute hat der Terror gewonnen. Zwei Kollegen, ein Franzose und ein Niederländer, schimpfen wütend auf den Islam, Europa solle sich doch endlich verteidigen. Angst und Wut sind spürbar, auf berechtige Gefühle folgen gefährliche, vereinfachende Schlussfolgerungen. Es war eigentümlich, als Deutscher mit Gleichaltrigen aus Ländern mit großer liberaler Tradition zu diskutieren – ein verzweifelter Versuch zu verdeutlichen, dass die Angst und die Polarisierung den Falschen in die Hände spielen.

Dennoch gibt es Grund zu leiser Hoffnung. Für Deutschland und Europa. Wir können aus der deutschen Geschichte lernen: Wir brauchen heute Mut und Zivilcourage. Neue Narrative sind notwendig, die uns helfen, echte Verbundenheit zu spüren. Familien, Ethnien oder Nationen können Halt geben. Wo sie zur alleinigen Größe der Zugehörigkeit werden, schränken sie ein und der Mauerbau beginnt in den Köpfen und Herzen der Menschen.

In Israel konnte ich zum ersten Mal erleben, wie durch Begegnung Identität entsteht. Nicht durch ein Konstrukt aus Vergangenem, sondern durch einen generativen Dialog mit dem, was wir als Möglichkeit der Zukunft erfahren. In erster Linie bedarf es dafür der intellektuellen Klarheit. Und einer Öffnung des Herzens. Eine offene Gesellschaft erlaubt immer auch Verletzlichkeit, vielleicht liegt gerade darin ihre Stärke. Diese Verletzlichkeit macht offen für den ko-kreativen Dialog, in dem das Neue spürbar wird, und wir uns ihm achtsam zuwenden können.

In Belgien, wo ich heute lebe, ist ­Berlin gleichbedeutend mit Innovation und grünem Lebensstil. In Berlin kann ich ein neues Deutschland schon heute spüren, in vielen Begegnungen mit ausländischen Kollegen und Freunden. Während die Schatten der Vergangenheit lichter werden, wird mit neuen Dialogformen experimentiert, um Sinnhaftigkeit und Identität über das Nationale hinweg zu finden. Es sind junge Künstler und Sozialunternehmer, die neue Wege gehen, das spirituelle Potenzial unserer idealistischen Tradition mit deutschem Pragmatismus versöhnen. Neue kosmopolitische Strömungen von kulturell Kreativen werden geboren, welche die persönlichen und kollektiven Wurzeln ehren und darüber hinauswachsen. Es ist vielleicht schon eine neue Zeit angebrochen, in der wir fähig sind, Widersprüche dynamisch zu halten und universelle Werte authentisch zu vertreten. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, Brücken zu bauen, von der Zukunft zur Gegenwart, über Landesgrenzen hinweg. In der Sonne sitzend, lausche ich einer Zukunft Deutschlands, die in lichten Tönen zu mir spricht. Kannst du die Stimme hören?

Author:
Adrian Wagner
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