Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 21, 2016
Wenn Joachim Galuska über eine Spiritualität des Lebens spricht, dann leuchten seine Augen. Im wahrsten Sinne. Man merkt, das ist für den Psychotherapeuten, Leiter der Heiligenfeld-Klinikenund spirituellen Entdecker ein Herzensthema. Am Rande des Kongresses »Spiritualität im Leben« in Bad Kissingen, der unter seiner Leitung stattfand, konnten wir ihn über seinen Weg zu einer Spiritualität des Lebens befragen.
evolve: Sie unterscheiden heute zwischen einer Spiritualität des Bewusstseins und einerSpiritualität des Lebens, was auch viel mit Ihrem eigenen Werdegang zu tun hat.Wie hat sich für Sie in Ihrem Leben dieser Wandel hin zu einer Spiritualitätdes Lebens vollzogen?
Joachim Galuska: Schon als Jugendlicher warich ein Suchender. Ich bin sehr katholisch erzogen worden, hatte aber einenkritischen Geist, deshalb kam mir schon damals der Glaube zu bilderbuchmäßigund kindlich vor. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es so etwas wie Gottwirklich gibt. Psychologisch betrachtet hatte ich eine schwierige Kindheit, habe durch die Vertreibung aus Oberschlesien meine Heimat verloren undTraumatisierungen erlebt und musste mich finden. Sicher auch deshalb bin ichPsychotherapeut geworden. In der Studienzeit habe ich viel über mich selbsterfahren, vor allem mithilfe von Gestalttherapie und Tiefenpsychologie. Aber esblieb auch immer die Frage, ob es noch mehr gibt als das, was ich kenne. AlsKind habe ich in der Andacht auch spirituelle Erfahrungen gemacht – einAufgehobensein in Gott. Vielleicht hat das seine Spuren hinterlassen in demSinne, dass der rationale suchende Geist das Gefühl hatte, da könnte es nochmehr geben. Dieses »mehr« war zunächst gar nicht spirituell orientiert, sondernich wollte die Welt kennenlernen.
Im Kern der Seele liegt für mich eine Präsenz, ein Anwesend-Sein, ein bewusstes Dasein.
Auf meinen vielen Reisen bin ich auch nach Sri Lanka gekommen und habe dieVipassana-Meditation kennengelernt. Und bald darauf wurde Ayya Khema meinebuddhistische Meditationslehrerin. Durch sie lernte ich die meditativenVertiefungen kennen und damit die Möglichkeiten, Bewusstseinsqualitäten zuerfahren, die jenseits unserer alltäglichen Konstruktion liegen. Meine Fähigkeit, die Selbst- und Weltkonstruktionen oder Identifizierungenwahrzunehmen und zu erkennen, wurde sehr stark durch die Erfahrung der Jhanas,also der Vertiefungen, unterstützt. Denn wenn wir im Zustand von Stille, Leere,Weite verweilen können, dann sind wir jenseits der Tätigkeit des Geistes, inder alles ständig benannt wird. Das fand ich so beeindruckend, dass ich mirgesagt habe, das würde ich gerne für andere Menschen, für die Welt verfügbarmachen. Meine Lehrerin war jedoch der Meinung, dass man diese wundervollen Jhanas, in denen man Stille, Weite und auch tiefe Glücksgefühle und sogarEkstase erleben konnte, nur auf dem Meditationskissen erfahren könne.
Ich war aber immer schon ein unabhängiger Geist und habe zwar meinen Lehrern gernezugehört, mir aber erlaubt, eigene Experimente zu machen. So habe ich dann probiert, diese Bewusstseinsqualität auch im Gespräch zu halten, selbst wenn esnicht dieser ganz tiefe Zustand ist. Das hat tatsächlich dazu geführt, dass ichmit meinen Patienten in einen anderen Kontakt kommen konnte, jenseits derInterpretation. Es wurde dann zu meinem Weg, diese spirituellen Früchte insLeben zu bringen, z. B. in die Medizin, in die Psychotherapie und später dann,als ich die Heiligenfeld-Kliniken aufgebaut habe, in die Führung und die Unternehmenskultur. Im Laufe der Zeit bin ich dieser Spur immer weiter gefolgtund habe versucht, einen religionsunabhängigen Weg zu finden. Bewusstsein oderder Weg des Bewusstseins wurde für mich zu einem Ausdruck, der diesen Ansatzgut beschreibt.
e: Was ist für Sie dieBedeutung dieses Bewusstseins jenseits der Konstruktionen?
JG: Das Bewusstsein jenseits der Konstruktionenhabe ich damals als transpersonalen Bewusstseinsraum bezeichnet – transpersonaldeshalb, weil er nicht personal identifiziert ist. Heute nenne ich es eher Seelenverankerung, weil für mich Seele ein besseres Wort für eine das Ich überschreitende Struktur ist. Die Seele ist eine Metapher für eine erweiterte Bewusstseinsstruktur, die das Ich-Bewusstsein umfasst, aber weiter und tieferist. Ich habe dann erforscht, was dieses Seelenbewusstsein eigentlich ist. ImKern der Seele liegt für mich eine Präsenz, ein Anwesend-Sein, ein bewusstes Dasein – die Vergegenwärtigung des Anwesend-Seins des Existierenden vor jederForm und Identifizierung.
Neben diesen inneren Forschungen ging ich meiner Arbeit in der Klinik nach undversuchte, dieses transpersonale Bewusstsein ins Leben zu bringen, bis mirirgendwann einmal der Widerspruch aufging: Wieso musst du Spiritualität insLeben bringen, wenn Non-Dualität eigentlich die Einheit von Absolutem und Relativemdarstellt? In den spirituellen Traditionen und vor allem im Buddhismus wird oftgesagt, dass man bei jeder Lebenserfahrung lernen kann, wie vergänglich undleidvoll sie ist und wie man sich daraus befreien kann, indem man dieKonstruktionen und Konzepte loslässt. Darin liegt in vielen spirituellen Wegenaber auch eine Ablehnung der Konstruktionen und des Ich. Aber warum sollten wir diese Konstruktionen und Konzepte ablehnen, wo sie doch auch so wertvoll sind?Immerhin sind auch sie ein Produkt der Evolution. Das hat mir irgendwann dannnicht mehr eingeleuchtet und ich habe mich gefragt: Gibt es einen spirituellenWeg, der das nicht ablehnt?
e:Ein Weg, der die Dualität von Weltlichem und Spirituellem überwindet?
JG: Ja, in der Erforschung desBewusstseins ging es mir zunehmend um eine Vergegenwärtigung des gegenwärtigenGeschehens. Wenn ich also das gegenwärtige Geschehen bewusst vergegenwärtige –so wie wir jetzt hier sitzen – dann vergegenwärtige ich diesen Moment so wie erist. In einem nächsten Schritt kann ich erfahren, dass ich den ganzen Momentzur Verfügung habe, ich verliere nichts, ich lasse nichts los, sondern ichnehme alles zu mir. Und daraus kommt eine tiefe Lebendigkeit: Ich spüre, dassmir in jedem Moment das ganze Leben zur Verfügung steht. In dieser Vergegenwärtigung des Lebens sind auch meine Konstruktionen, Konzepte undIdentifikationen ein Teil des Lebens. Sie sind eher wie eine Blüte, statt wieein böser Schatten, den ich überwinden muss.
In der Tiefe jedes lebendigen Momentes spüre ich die Lebendigkeit selbst.
Und dann kann ich fragen, was dieser Vergegenwärtigung des Lebens eigentlichzugrunde liegt: In der Tiefe jedes lebendigen Momentes spüre ich dieLebendigkeit selbst. Ich spüre, dass jeder lebendige Moment nicht einfach ist,sondern geschieht, dass er lebt. Aber dass nicht ich ihn erlebe, sondern dasser sich gerade als mein Ich erlebt. Dann spüre ich die Lebendigkeit des Lebensdieses Momentes. Dieses Gefühl von Leben ist keine Konstruktion, sondern einGespür. Das war für mich der größte Schritt: diesem Gespür den Rang einesspirituellen Weges zu geben, weil plötzlich mein Leben – mein persönlichesindividuelles Leben und meine Lebenskonstruktionen – ein Teil des Lebens selbstist. Das Leben ereignet sich gerade in all meinen Engen und Weiten, aber istselbst wesentlich mehr. So finde ich Zugang zu einem Gefühl vonLebensverbundenheit, von Einssein mit einem Lebensstrom, aus dem nicht nur ichherausquelle, sondern auch Sie und der Baum, der da draußen steht, und sogarder Stuhl, auf dem ich sitze und eigentlich alles. Und alles ist nicht fest,sondern geschieht, bewegt sich, ist lebendig.
e: Was bedeutet dieseErfahrung der Lebensverbundenheit für den Weg des Bewusstseins?
JG: Der Weg des Bewusstseins neigt dazu, sich abzukoppeln, weil das Bewusstsein im Grunde in sich selbst verliebtist, wenn es seine größere Weite erfährt. Dann ist das Bewusstsein so von sichselbst berauscht, dass es vergisst, dass es ja eigentlich vom Lebenhervorgebracht wurde. Es ist eine Qualität des Lebens – zwar eine großartigeund wunderbare, aber eine, die dem Leben zu dienen hat. Natürlich ist der Wegdes Bewusstseins wichtig, um den Geist zur Ruhe kommen zu lassen und dasBewusstsein zu vertiefen und zu erweitern. Aber der wichtigste Lernort ist derMarktplatz, also die Arbeit, die Beziehungen, in denen wir leben, die Welt, inder wir leben, die Natur. Dieses Leben können wir spüren, um zu erfahren, wases bedeutet, lebendig zu sein, ein Lebewesen zu sein, auf diesem Planeten, indieser Welt, in dieser Zeit, in dieser Kultur, in diesem Körper, mit allenSchattenseiten und lichten Seiten.
So holt man das ganze Wissen, das die Wege des Bewusstseins entwickelt haben, insLeben. Das Leben lernt als Bewusstsein, sich selbst zu vergegenwärtigen, sich selbst zu vertiefen, sich selbst zu erweitern. Bewusstseinsschulung dient dazu,dass das Leben selbst sich vertieft und erweitert und das kleine Lebentranszendiert. So dass das Leben als großes Leben, als fundamentales Leben, alsLebendigkeit selbst erfahren werden kann.
Und dann spüren wir auch eine Verantwortung für die Weiterentwicklung des Lebens.Jeder Moment trägt dazu bei, wie der nächste Moment entsteht. Wir treffen heuteEntscheidungen für morgen. Und von unseren heutigen Entscheidungen hängt alles ab. Natürlich lernen wir aus unserer Vergangenheit. Das ist ja auch das Schöne,dass dieses Leben immer auch eine Geschichte hat. Ich kann in der Geschichtegefangen sein, in einem Muster, wie wir Therapeuten sagen, oder ich spüre die tiefe innere Freiheit, die in diesem Moment liegt und die das Leben in sichträgt. Und wenn ich mich als Teil des Ganzen verstehe, dann weiß ich, dass jedeBewegung, die ich mache, in diesem Ganzen eine Veränderung hervorruft. Das istkeine Theorie, sondern eine unmittelbare Erfahrung. Wenn ich jemandemfreundlich gegenübertrete, verändert sich die Welt – seine, ihre, meine und werweiß, was sich noch alles verändert. Plötzlich entsteht eine Art Verantwortlichkeit für die Evolution. Nicht, weil es eine moralische Pflichtist, sondern weil es aus der natürlichen Verbundenheit mit allem Leben entsteht.
Das Leben lernt als Bewusstsein, sich selbst zu vergegenwärtigen.
Wennes uns gelingt, das große Leben im kleinen Leben, die Lebendigkeit des Lebensoder die Tiefe des Lebens in den einfachsten alltäglichsten Momenten zu finden,ist es wie ein Aufwachen und ein Ergriffenwerden. Darin entsteht eine natürliche Verbundenheit und eine natürliche Verantwortlichkeit, einen Beitragfür die Weiterentwicklung des Lebens leisten zu wollen.
e: Gibt esfür Sie eine besondere Qualität unserer Zeit, weshalb für Sie der Fokus auf dasLeben heute wichtiger ist als der Fokus auf das Bewusstsein?
JG: Ich würde sagen, der Fokus auf dasLeben integriert den Fokus auf das Bewusstsein. Wir befinden uns in einem evolutionären, kulturgeschichtlichen Prozess des Bewusstseins, in dem sich dasBewusstsein seiner eigenen Evolution, seiner eigenen Entwicklung bewusst wird.Dabei erkennen wir, dass auch das Bewusstsein von der Evolution hervorgebrachtwurde. Der Fokus auf die Metapher des Lebens und die Erfahrung der Lebendigkeitgibt einen Zugang, der die Polarisierungen zwischen Absolutem und Relativem, Geist und Materie überschreitet. Wir erkennen, dass alles Teil einer Entfaltungist. Auch das Bewusstsein ist eine Qualität der Entfaltung des Ganzen, das sichdurch uns aufklärt, erkennt, erfährt und damit wieder eine neue Evolutionhervorbringt, die ohne unsere Selbsterkenntnis nicht stattfinden würde. Damit liegt das Ziel nicht darin, im Absoluten zu schweben, sondern diese Evolutionauf eine bewusstere Weise weiterzuentwickeln.
In dieser Erfahrung, dass wir Teil dieser Entfaltung sind, erwachen wir auch zueiner tiefen Schönheit für das natürliche Empfinden der Mitverantwortung, dasnatürliche Empfinden des Mitgefühls oder das natürliche Empfinden derLebendigkeit, die Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit vor dem Ganzen umfasst. Fürmich ist das Bild eine Sinfonie, die etwas Dramatisches und etwas Wundervolleshat, und die in sich selbst auf ihre Weise ein vollkommenes Kunstwerk ist. Daserklärt für mich am ehesten die Qualität von Ästhetik, die in der Erfahrung alsGanzes liegt – und zwar ohne die dunklen, unbewussten, schmerzlichen undhässlichen Seiten zurückzuweisen, sondern sie als Töne und Spannungen in demGanzen mitzuempfinden.
Diese fundamentale Schönheit ist eine Qualität des evolutionären Impulses, deshalbkann ich mich in jeder Situation fragen, welchen Impuls ich darin verwirklichenwill. Das ist für mich ganz konkret: Ich leite Kliniken, führe Mitarbeiter, ichtreffe Entscheidungen, sehe Patienten, leite Teambesprechungen und Kongresseusw. Wenn ich solche Fragen stelle, dann folgen meine Impulse diesennatürlichen Werten, die das Leben in sich trägt. Die auch zu mir gehören, weilich mich damit verbunden fühle und ihnen treu sein will. Und daraus entstehtein Glücksgefühl. Dann habe ich das Gefühl, dass ich nicht nur dazugehöre,sondern in diesem gemeinsamen Klang, in dieser Sinfonie, auch einen schönen Tonhinzufüge.
Ich glaube, dass Metaphern aus dem künstlerischen Bereich an dieser Stelle vielhilfreicher sind als unsere philosophisch exakten Begriffe, die an dieserStelle ja doch irgendwie verzweifeln, weil sie es nicht wirklich fassen können.Denn es ist auch nicht mehr fassbar, aber es ist fühlbar, spürbar, und man kannsich daran orientieren. Genauso wie auf dem Weg des Bewusstseins dieBewusstseinsräume und ihre Qualitäten erforscht werden – Stille, Leere, Weite,Unendlichkeit, Nicht-Sein – so findet man in der Tiefe des Lebens dieQualitäten, über die wir gerade gesprochen haben: Lebendigkeit, Ehrfurcht vordem Leben, Schönheit, Mitgefühl, Liebe, Mitverantwortlichkeit. Insofern glaubeich, dass es sich lohnt, zu schauen was passiert, wenn wir das Leben und dieVertiefung der Lebenserfahrung zum spirituellen Fokus machen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.