Wer bin ich und was soll ich hier?

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

November 6, 2020

Mit:
Prof. Robert Kegan
Herculine Barbin
Michel Foucault
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Identität und Sinngebung

Wie wir unseren Sinn im Leben finden, ist zutiefst mit der Identität verwoben, die wir entwickeln. Doch diese Identität wird oft durch Kategorien der Trennung eingeengt und hält uns so gefangen. Wie können wir zu einer neuen Form von Identität finden, die auch eine neue Form von Sinngebung ermöglicht?

Es ist nicht leicht zu verstehen, was mit einer Sinnkrise gemeint sein könnte. Auf den ersten Blick scheint dieser Ausdruck ziemlich abstrakt, fremd und nicht wirklich relevant für den Alltag. Ich denke sofort an »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams, wo die Antwort auf die Frage »Was ist der Sinn des Lebens« lautete: »… 42.« Aber wenn wir einen Moment lang das Bedürfnis nach einer Antwort loslassen und Sinn als etwas verstehen, das aus unserem Handeln entsteht, als etwas, an dem wir die ganze Zeit teilhaben, dann kommt uns der Sinn sehr nah. Man könnte sogar sagen, dass Sinn für die Seele das Gleiche bedeutet wie der Atem für den Körper. Wer kann ohne Sinn leben?

Die »Aktivität, eine Person zu sein, ist die Aktivität der Sinngebung«, schreibt Robert Kegan in »Entwicklungsstufen des Selbst«. In dieser einfachen Aussage liegt unglaublich viel. Sie spricht die großen Fragen an, die zugleich die intimsten sind, die wir uns stellen können: Wer sind wir? Wo sind wir? Was bedeutet es, zu sein und hier zu sein?

Persönlicher und kultureller Sinn

Kegan beobachtet auch, dass es von unserer Fähigkeit zur Sinngebung abhängt, wie wir zu Personen, zu Individuen werden. Die sterbende Gorillamutter freut sich, wenn sie noch einmal den Menschen sieht, der sich vor vielen Jahrzehnten als erstes menschliches Wesen um sie kümmerte. Doch obwohl sie die Ankunft ihres Besuchers mit einem Lächeln und aufgeregtem Rufen begleitet, weiß sie nichts von der Bedeutung des Sterbens und denkt nicht an ein mögliches Leben nach dem Tod. Wir Menschen tun das. Wir werden zu Personen, indem wir viele Schichten der Bedeutung verinnerlichen, die in Geschichten, Rituale, Archetypen, Symbole eingewoben sind. Wir sind keine undurchdringlichen Entitäten, die in einem Vakuum ihren Sinn finden. Kegan betont, dass wir zu einer Person werden, indem wir uns mit der Kultur verbinden, in der wir aufwachsen. Oft genug emanzipieren wir uns später von dieser und bewegen uns in andere kulturelle Nischen, in denen wir auf eine neue Weise Sinn finden, die mehr Weite und Tiefe mit sich bringt.

WIE WIR ZU INDIVIDUEN WERDEN, HÄNGT VON UNSERER FÄHIGKEIT AB, BEDEUTUNG ZU FINDEN.

In der Identität fallen persönliche und kulturelle Sinngebung zusammen – Geschlecht, Ethnie, Religion, soziale Schicht. Heute sind all diese Zusammenhänge ein Schlachtfeld – auf dem ein Konflikt hervortritt, bei dem es um den Sinn und die Bestimmung unseres Lebens geht. Wenn ich aus dieser Perspektive über die Sinnkrise nachdenke, sehe ich eine Identitätsverwirrung, die Gruppeninteressenpolitik, die antifeministische Online-Community »Men Going Their Own Way«, Black Lives Matter und All Lives Matter, Rassismus und weiße Vorherrschaft und gleichzeitig sprunghaft ansteigende Depressionen, Sucht und Selbstmorde, insbesondere unter jungen Menschen. Die Hoffnung, eine Identität zu finden, den kleinen Ausschnitt Welt, in dem alles Sinn macht und das Leben lebenswert erscheint, bleibt für viele junge Menschen unerfüllt. Diese Tragik hat mit der Enge der Identitäten zu tun, die uns die moderne Welt anbietet.

Die Tage vor der Identität

Herculine Barbin steht auf der anderen Seite der Moderne – sie schwebt in der kaum sichtbaren prämodernen Welt, bevor männlich und weiblich, homosexuell und heterosexuell zu »normalen Kategorien« wurden, in die sich die Menschen einfügten. Der Philosoph Michel Foucault fand Herculines Tagebuch, das Mitte des 19. Jahrhundert geschrieben wurde, bei einer Recherche im Französischen Institut für öffentliche Hygiene. Heute würden wir Herculine als »intersexuell« bezeichnen, ein Mensch mit Genitalien, die sowohl männliche als auch weibliche Merkmale aufwiesen. Obwohl Herculine fasziniert war von den Körperrundungen ihrer Mitschülerinnen und sich später als Lehrerin in eine Kollegin verliebte, brauchte sie viele Jahre, bis sie Hilfe suchte, um zu verstehen, was mit ihr vorging. Als fromme Katholikin vertraute sie sich einem Geistlichen an, was zu einer ärztlichen Untersuchung führte und zu ihrer »Neuklassifizierung« als Mann. Sie zeigte großen Mut, indem sie sich entschloss, ihre Geliebte zu schützen und sich in einen Mann zu verwandeln. Nachdem sie eine männliche Identität angenommen hatte, erlebte sie Ablehnung und Armut und nahm sich mit 29 Jahren das Leben. Barbin kann seinem/ihrem Leben keinen Sinn mehr geben. Diese verzweifelte Frage ist das Echo ihrer Geschichte: Warum konnte man mich nicht so sein lassen, wie ich war?

Für uns, die wir nun auf der anderen Seite der Moderne in der Postmoderne stehen, erscheint Herculines Geschichte wie die »Prä«-Version der Transgender-Bewegung. Herculine gibt uns einen Einblick in die prämoderne soziale Welt, in der die eigene Rolle, nicht das eigene Geschlecht, den Platz in der Gesellschaft und den Sinn des Lebens bestimmte. Nach der Pubertät war Herculine eine merkwürdig aussehende junge Frau – mit einem Schnurrbart, Körperbehaarung, einer flachen Brust und schmalen Hüften – aber niemand in ihrer Umgebung scheint dem Beachtung zu schenken. Sie erfüllte die Verpflichtungen als Tochter und begabte Lehrerin. Herculine war einfach sie selbst, ein anerkanntes Mitglied ihrer Gemeinschaft. Der Rolle im Vergleich zum Geschlecht einen höheren Wert beizumessen, war nicht unüblich im Mittelalter oder in kleinen Städten der Provinz, in der Herculine lebte. Tatsächlich gab es in Albanien, Indien und an anderen Orten den Brauch, eine Tochter in einen »Sohn« zu verwandeln (mit kurzem Haar, Männerkleidern und Männerarbeit), wenn eine Familie keinen Jungen gebar, der die soziale Rolle des Haushaltsvorstandes ausfüllen konnte.

Leben in einer Kategorie

Viele von uns werden sich daran erinnern, dass wir uns bis zur Pubertät den Normen, die für Mädchen oder Jungen gelten, immer wieder entzogen – wir spielten in gewisser Weise mit ihnen. Ich sehe immer noch meinen Bruder vor mir, der sich als Feuerwehrmann verkleidete und dabei seinen Plüschhund umklammerte, der Glöckchen in seinen flauschigen Ohren hatte. Er sorgte für seinen plüschigen Freund, als wäre es ein Baby. Zu einer Zeit, als die meisten Sportarten Jungen vorbehalten waren, liebte ich es, mit meinem Vater einen Football zu werfen. Meiner Mutter gefiel das gar nicht. Und ich war eine Rebellin: machte Witze über die Lehrer und brachte meine Mitschüler dazu, sich gegen ihre Autorität aufzulehnen. Aber in gewisser Weise war das alles prämodern – es geschah vor der Pubertät, in der die Kategorien der modernen Aufspaltung beginnen, sich im Geist einzunisten.

Unsere Identitäten formen sich während der Pubertät, wenn der menschliche Geist zu verstehen beginnt, wie unsere soziale Welt geordnet wird: Was ist richtig für einen Jungen, was nicht? Was ist normal für ein Mädchen, was nicht? Identitätsbildung ist wie eine Invasion in unser Inneres durch die Hierarchien und Spaltungen, die unsere Gesellschaft formen. Mein Körper ist männlich oder weiblich oder … nicht? Das heißt, ich bin ein Mann oder eine Frau oder … was? Meine Haut ist hell oder dunkel, das heißt, ich gehöre hierher – in diese Schule, diese Gruppe, dieses Land – oder nicht? Allzu oft erwächst die eigene Identität aus einem »ich bin nicht dies oder das«, weil der Verstand eines Teenagers Komplexität noch nicht halten kann. Wer ich bin und wofür ich stehe, ist häufig unklarer als die Erkenntnis, dass ich kein … Mann, Schwarzer oder Muslim bin. Meine Identität beruht dann darauf, dass ich nicht der andere bin – und dann projiziere ich alles, vor dem ich Angst habe, auf ihn. Ist es überhaupt möglich, dass ein so zutiefst abwehrendes und fragmentiertes Selbst einen tiefen Sinn und eine innere Ganzheit finden kann?

 IDENTITÄTSBILDUNG IST WIE EINE INVASION IN UNSER INNERES. 

Identitätsbildung ist nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem reifen Erwachsenen – Reifung erfordert, dass wir alles, was wir abgespalten haben, integrieren und uns öffnen für unsere grundlegende Zusammengehörigkeit. Unsere gegenwärtigen Identitätskonflikte deuten darauf hin, dass viele von uns hier nicht sehr weit kommen. Ein Bekannter von mir, der zwei Ethnien angehört, sagte: »Ich wünschte, weiße Menschen würden sich eingestehen, dass sie einer ethnischen Gruppe angehören.« Witzig, dass Frauen das Gleiche oft über Männer sagen: Warum denken Männer, dass nur Frauen ein Geschlecht haben? Bis vor Kurzem waren »weiß« und »männlich« die normgebenden Kategorien in der westlichen Kultur, gleichbedeutend mit »Mensch«. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Gleichsetzung von »Mann« (insbesondere »weißer Mann«) mit »Mensch« durch die Frauenbewegung und die Menschenrechtsbewegung angefochten. Dies hat es Frauen und Männern ermöglicht, sich über die Enge bestehender Identitäten hinaus zu entfalten. Es hat aber auch dazu geführt, dass sich einige so an ihre Identitäten klammern, als ginge es um Leben und Tod. Weiße Männer, deren Sinngebung im Leben davon abhängt, keine Frau und nicht dunkelhäutig zu sein, haben diese Veränderungen oft als existenzielle Bedrohung erlebt – ein Verlust der Zugehörigkeit und des Sinns, der Abwehr und Aggression auslösen kann.

Von Prä zu Trans

Sinnhaftigkeit hängt von einer Stimmigkeit zwischen dem Selbst und der Kultur ab. So entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit, das idealerweise die Möglichkeit für Integration und Bildung eröffnet. Aber die moderne Kultur trägt eine Entwicklungsfalle in sich, welche die westliche Kultur in eine wachsende Fragmentierung und Verzweiflung geführt hat. Mit jeder neuen Generation, die die Pubertät erreicht, werden die Kategorien, die die soziale Welt in Bezug auf Geschlecht, Ethnie, Religion und soziale Schicht strukturieren, in den heranwachsenden Geist eingeimpft und tragen so die sozialen Spaltungen weiter. Wir alle werden in der einen oder anderen Weise wie Herculine, die nicht mehr sie selbst sein konnte. Wenn Herculine ein prämoderner Einblick in ein ungeteiltes Selbst ist, und wenn uns die Moderne ein gespaltenes und zweigeteiltes Selbst anbietet, was könnte dann darüber hinausführen und uns erlauben, auf neue, trans-moderne Weise in Integrität und Ganzheit zu leben?

Die Transgender-Bewegung scheint über die Aufspaltung von maskulin und feminin, männlich und weiblich hinausgehen zu wollen. Doch momentan erzeugt dieses Anliegen immer mehr Kategorien von Personen und trägt somit zum Chaos und zur Verwirrung bei. Könnte es eine andere Form von »trans« geben? Ich denke schon. Können wir unsere Menschlichkeit – die die Qualitäten und Fähigkeitenbeider Geschlechter beinhaltet, die Würde aller Ethnien, die Weisheit unserer Traditionen und unsere materielle Solidarität miteinander – als den Grund unserer Zusammengehörigkeit erkennen? Kann sich die unendliche Tiefe unserer Innerlichkeit einem lebendigen Raum zwischen uns öffnen, als die Grundlage einer neuen Kultur? Wenn dem so ist, dann können sich das Selbst und die Kultur bewusst miteinander entfalten, in Nichtgetrenntheit und wechselseitiger Sinnhaftigkeit. Wenn dann eine neue Generation heranwächst, müssten sich diese jungen Menschen nicht in den Kategorien der Moderne verfangen. Die Frage der Identität – Wer bin ich und was soll ich hier? – kann dann zu einer Einladung werden, das sich immer weiter ausdehnende Potenzial menschlicher Bezogenheit zu erforschen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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