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Unsere Lebendigkeit ist bedroht.Nicht vom Tod, sondern von der Unterdrückung des Lebendigen in erstarrtenSystemen. Wie finden wir zu einer neuen Wahrnehmung, Erkenntnis und Praxis der Lebendigkeit?
Lebendigkeit ist dem Leben als Substanz, Voraussetzung und Ursprung geschenkt. Leicht sindwir geneigt, den Tod als ihre Bedrohung zu sehen, doch ist er selbst einwichtiger Teil aller Lebensprozesse. In jedem Lebewesen – ob Baum oder Biene –gibt es innerhalb der Lebenssubstanz, die dieses Lebewesen durchströmt, auchVorgänge des Absterbens, ohne die das Lebendige nicht existiert. Der Tod istalso Teil des Lebens. Aber was, wenn nicht er, bedroht dann Lebendigkeit? Esist die Unterdrückung von Lebensprozessen, die sich heute oft in extremer Wutund Zerstörung äußert. Wo der Tod eine natürliche und notwendige Phase vonLebensprozessen ist, ist ihre Unterdrückung eine unnötige,lebenshemmende Begrenzung. Diese Unterscheidung zwischen nötigemund unnötigem Leiden, zu der wir durch Emmanuel Levinas angeregt wurden, führt zur Frage, woraus diese Unterdrückung entsteht undwelche Strategien man im Sinne der Sozialen Plastik zu ihrer Überwindung entwickeln kann.
Können lebensfähige Formen sich nicht entwickeln, richtet sich die Lebensenergie oftgegen sich selbst oder gegen andere. Von den vielfältigen Formen einerunterdrückten Lebendigkeit, die gleichzeitig auch eine Unterdrückung vonKreativitätsprozessen ist, sind wir überall umgeben. Es ist nicht schwer zubeobachten, wie unnötiges Leid und die unnötige Zerstörung von Lebensprozessenzu Formen führen, die »Anti-Life« sind: Erziehungssysteme, in denen Lernen alsInformation betrachtet wird und der Austausch über den Bildschirm erfolgt;bürokratische Institutionen, in denen erschöpfte Mitarbeiter Probleme damithaben, Maßnahmen durchzusetzen, die mit dem großen Ganzen nichts mehr zu tunhaben; eine Roboterforschung, die an Humanoiden arbeitet, die sichununterscheidbar unter uns bewegen und menschliche Arbeitskraft ersetzen, ohneSchmerz, Furcht und Trauer zu empfinden.
Wenn wir mit unserem Denken und Imaginieren arbeiten, sind wir im Terrain der Sozialen Plastik.
Indes, glücklicherweise ist dies alles nichts Gegebenes. Sobald wir es wahrnehmen undverstehen, entsteht auch die Möglichkeit, solche Entwicklungen zu verändern.Das Erdforum, das Shelley Sacks im Rahmen des Nachhaltigkeitsgipfels inJohannesburg im Sommer 2002 entwickelt hat, ist eine »Erkenntnispraxis«, dielebendige Denkwege wieder freilegt. Als sprachliches Instrument schafft es ganz im Sinne Goethes durch das Finden von Worten eine Basis, um im Inneren einenechten Paradigmenwechsel herbeizuführen. Es ist ein Erkenntnisprozess, der zuneuen, lebensfähigen Formen führen kann. Wenn wir mit unserem Denken undImaginieren arbeiten, sind wir im Terrain der Sozialen Plastik. Wir arbeiten anWegen, die über das, was die Lebendigkeit bedroht, hinausführen.
Erdforum
Das Erdforum ist zunächst eine Schule der Freiheit und der Wahrnehmung, in der wiräußeren und inneren Phänomenen, etwa unseren Denkprozessen, begegnen. Die Praxis beginnt mit einer Einführung in den »Raum der Imagination«, in dessen»innerem Atelier« und »mietfreiem Raum« wir in der Lage sind, »zu sehen, waswir sehen«.1
Dieser Einführung in einen feinen und fundamentalen Erkenntnisprozess, an dem jederMensch, obwohl zumeist unbewusst, beteiligt ist, folgt ein konzentrierter,10-minütiger »Gang auf dem Planeten«. Er ermöglicht es, äußere Eindrücke undinnere Erfahrungen, Erinnerungen, Assoziationen, Stimmungen und Urteile, diemit diesen Erlebnissen verbunden sind, bewusst anzuschauen. Diese Beobachtungenwerden im inneren Atelier betrachtet und mitgeteilt. Der Prozess lebt vomaktiven Zuhören, davon, dem Sprechenden so genau wie möglich und ohneVorurteile zu folgen.
In zwei weiteren Phasen teilen die Teilnehmer ihre Perspektiven erneutmiteinander. Zunächst die Bilder und Beschreibungen, wie sie die Erde in denkommenden 50 bis 500 Jahren sehen möchten, um anschließend zu fragen, was ameigenen Tun und Handeln schon heute in diese Richtung weist.
Wenn wir diese komplexe Frage nach unserer Zukunftsvorstellung konkretisieren,spricht das sowohl unser lebendiges Imaginationsvermögen an wie auch unsereWertvorstellungen. Das vermag uns stark zu bewegen und führt uns in die viertePhase des Erdforums, die eine Stunde dauern kann, manchmal auch einen Tag.Indem wir unsere oft widerstreitenden Zugangsweisen auf Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft teilen, wird eine Substanz geschaffen, in die wir nunwiederum hineingehen können, um uns mit den anderen individuellen Sichtweisen zuverbinden und so eine Art von »sozialem Honig« zu erzeugen.
Von den vielfältigen Formen einer unterdrückten Lebendigkeit sind wir überall umgeben.
Das Erdforum wurde in den letzten fünf Jahren in der Arbeit mitNichtregierungsorganisationen und gesellschaftlichen Gruppen in Städten undDörfern in Südafrika wie auch in Deutschland, zum Beispiel in Kassel, erprobt.Führt man den Prozess kontinuierlich weiter, entwickelt sich über die Zeitzwischen den Mitwirkenden ein geteiltes Mitgefühl für die größerenZusammenhänge und eine »Agenda der Transformation« kann emergieren, die diebestehenden Visionen und Ansätze nicht nur integriert, sondern deutlich tiefergeht. Darüber hinaus – ob es nun um die Arbeit an einem Ort besondererHerausforderungen für den Planeten geht oder darum, die Ausrichtung einerOrganisation zu überdenken – werden sich die Teilnehmenden ihrer Imaginations-und Denkfähigkeiten bewusst. Diese bewusste Wachheitfür das eigene Vermögen als »agent of change« ist zentral für das Feld derSozialen Plastik und das Hinhören auf das, was aus der Zukunft emergiert.
Man kann in diesem Sinne den Erdforum-Prozess als eine Reise betrachten, die dreiStufen berührt: Substanz, Weg und Form. Beim »Gang auf dem Planeten« erlebenwir die Fülle der Lebenssubstanz. Indem wir diese Erlebnisse noch einmalinnerlich durchlaufen und unsere Ziele und Lebensentwürfe mitteilen, erlebenwir den Weg, auf dem wir uns befinden, und schauen auf die Haltungen undFormen, die wir dabei produzieren. Kurz, wir betreten ein Feld der aktivenWahrnehmung, Reflexion und Imagination, das uns wach und lebendig macht und alsBasis für eine vierte Phase dient, in der es darum geht, sich lebendige Formenvon innerer und äußerer Handlung vorzustellen.
Alchemie der Transformation
Um die Feinheiten dieses Prozesses nachzuvollziehen, ist es wichtig, eine Ideedavon zu haben, worauf diese Transformation beruht und wie sie sich entfaltet.Beuys unterscheidet in seiner plastischen Theorie, die gleichzeitig auch einBild für das menschliche Gestalten lebensfähiger Formen ist, drei Kräfte:Chaos, Bewegung und Form. Bei Schiller sind es sinnlicher Trieb, Spieltrieb undFormtrieb. In der Alchemie und dem transformativen Prozess bei Paracelsus, dem Werk, gibt es drei Zustände oder Qualitäten: Sulfur (Schwefel), Mercurius(Quecksilber) und Sal (Salz). C. G. Jung beschreibtdieses »Werk« der Alchemie, das die »materia prima« in Gold zu verwandeln vermag.
Im Feld der Sozialen Plastik, wie wir sie verstehen, besteht dasWerk darin, Schwierigkeiten als Ressourcen zu nehmen (Substanz/Chaos),nach den Faktoren von unnötigem Leid und Unterdrückung zu suchen, um sie zuverstehen (Weg/Bewegung) und schließlich in Leben schaffendes und erhaltendesGold zu verwandeln (Form).
So kann man auch Lebendigkeit als dreidimensionalen Prozess sehen. Als Substanzist sie die unmittelbare Quelle und Voraussetzung allen Lebens, auf der Suchenach Weg und Form. In der Natur sind diese Prozesse der Weg- und Formfindungund des Sterbens überall gegeben und werden dem Leben geschenkt. Beim Menschenist es komplexer. Wir stehen vor der Frage, wie wirunsere Lebensenergie kanalisieren, sodass unser Denken und Handeln zu Formenführt, die dem Leben dienen und es nicht unnötig zerstören.
Ohne diese Unterscheidung verengt sich das Verstehen von Lebendigkeit leicht auf dieVitalität. Betrachten wir Lebendigkeit als einen Dreiklang von Substanz, Weg und Form, könnenwir sie differenzierter verstehen. Wir erleben nicht nur die unterschiedlichenWege, die Lebendigkeit unterstützen und zu lebendigen Formen führen, wir könnensie entwickeln und überall dort reaktivieren, wo sie unterdrückt wird. Daherwollen wir Lebendigkeit aus diesen Perspektiven betrachten: 1) Lebendigkeit alsVoraussetzung des Lebens ist Substanz, Reichtum,Lebensgeist im Überfluss; 2) Lebendigkeit als Wegbeinhaltet nicht nur Instrumente und Strategien, ein Ziel zu erreichen, sondernWeg ist auch eine Haltung, eine Lebensweise. 3) Lebendigkeit als Form beinhaltet nicht nur die Formen, die Lebendigkeitermöglichen und aus einer lebendigen Handlung entstehen, sondern die Form undHaltung, die wir schaffen und gestalten.
Substanz
Man könnte sagen, dass Lebendigkeit dem Leben als Substanz, Voraussetzung und alsUrsprung geschenkt ist. Aber wir müssen auch in der Lage sein, sie als solchezu sehen und wertzuschätzen. Vielleicht ist es gerade diese nicht erlebte Selbstverständlichkeit,die bewirkt, dass wir Lebendigkeit oft unterdrücken. Daher ist es wichtig, zubeobachten und zu erfahren, was uns, unsere Gesellschaft und unserZusammenleben mit anderen Wesen wirklich belebt und diese Einsicht als etwasKostbares zu schützen. Wenn wir sehen, wie unterdrückt und gefährdet dasLebendige ist, wird auch die Aufgabe deutlich, vor der wir stehen.
Wie aber könnte diese Arbeit aussehen und welche Strategien aus dem Feld derSozialen Plastik gibt es dafür? Eine erste mögliche Antwort liegt im BegriffÄsthetik. Verstehen wir Ästhetik als den Gegenpol zu Anästhesie und Dumpfheit,dann ist mit ihr eine weltbezogene Haltung beschrieben, die Lebendigkeitermöglicht: Interesse wecken, statt Interesse zu zerstören, Aufmerksamkeit erzeugen,bei der Sache und empathisch sein und in jedem Kontakt zur Welt das Potenzialfür eine echte Begegnung und neue Erkenntnisse sehen, sind solcheMöglichkeiten. »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organin uns auf«, schreibt Goethe, und es ist dieses aktive Hinhören undHinschauen, welches dazu beiträgt, dass wir zu teilnehmenden, interessierten,mitleidenden und verantwortlichen Wesen werden.
Weg
Aber Lebendigkeit ist nicht nur Voraussetzung, Quellpunkt oder Lebenssubstanz, sieist auch der Weg, mit welchen Haltungen, Begriffen, Werten und Handlungen wirdem Leben begegnen. Transformierende Arbeit, die Schwierigkeiten als Ressourcennimmt, ist Arbeit an der »prima materia« des Paracelsus und verlangt von unshöchste Wachsamkeit. Nach innen wie nach außen. Es ist nicht egal, welcheHaltung ich gegenüber Krisen einnehme. Ein verächtlicher Blick auf die Dinge,den ich in seiner Tragweite nicht sehe, unterdrückt meine eigene Lebendigkeit.Betrachte ich die Welt vornehmlich aus der Perspektive der Verwertbarkeit unddes Nutzens, stumpfe ich ab und die Lebendigkeit wird verzerrt. Staunen,Interesse, Anteilnahme und Empathie und damit auch unser Wissen überLebendigkeit werden verschleiert. So gesehen gehört zum Weg auch, das eigene unddas soziale Bewusstsein zu entwickeln.
Form
Lebendigkeithat ebenfalls viel mit Form zu tun. Die vielfältigen Naturformen sind Ausdruckdieser Lebendigkeit. Die Erde als Gestalt ist eine lebendige, sich fortlaufendwandelnde Form. Auch wenn die von Menschen geschaffenen Formen oftmalsunlebendig und unterdrückend sind, ermöglichen sie doch auch Freiheit.Grundeinkommen ist so ein Prozess. Partizipatorische Demokratie ein anderer.Manchmal sind es kleinere Interventionen, die eine Haltung ändern und in einenlebendigen Prozess verwandeln. Das Verständnis von Sozialer Plastik hilft, unsdiesem Feld zu nähern und uns zu fragen, auf welche Weise wir dielebenshemmenden Zonen umdenken und bearbeiten können.
Auferstehen im Prozess der Reflexion
Reflexion ist ein Schlüsselbegriff im transformatorischen plastischen Prozess. Sieermöglicht uns, zu beobachten, »was nicht stimmt« und wie leicht Neugierde,Interesse, Vertrauen, Optimismus, Enthusiasmus als Formen der Lebendigkeitzerstört werden können. So gesehen sind es nicht nur Institutionen, diemenschliche Lebendigkeit bedrohen und sogar vernichten können, es sind auchalltägliche Haltungen, Urteile und Gewohnheiten, die unsere Vitalkräftebedrohen und oft zu Zynismus oder Aggression als Ersatzhandlungen führen. Esist wichtig, gerade diese feineren, oft übersprungenen Formen wahrzunehmen. Wirmüssen in die Schmerzzonen, um zu sehen, was uns der Vitalität beraubt.
Der Tod ist ein wichtiger Teil aller Lebensprozesse.
Sich den Schmerz bewusst zu machen und in die unsichtbare, bestimmende Ebenehineinzugehen, ist etwas ganz anderes, als ihn nur auszuhalten oder auf ihn zureagieren. Schon die Schmerzerfahrung bewusst zu denken, erzeugt eine Form vonLebendigkeit und hat mit Freiheit zu tun. Ich sehe mich als Akteur und »agentof change« in einem Beziehungsfeld, in dem ich anders handeln, experimentierenund mit kreativen neuen Lösungen arbeiten kann. Hier sehen wir einen Aspekt derplastischen Arbeit an der unsichtbaren, inneren Plastik. Diese unsichtbarePlastik und die Arbeit an einer solchen Bewusstseins-, Seelen- undWillensplastikversuchen wir mit dem Erdforum zu befördern.
Joseph Beuys hat immer die Wichtigkeit des Umdenkens in der Sozialen Plastik betont.Durch »bildhaftes Denken« und neuartige Reflexionsprozesse wie im inneren Atelier wird unser Mind-Setsichtbar und dort, wo wir eingreifen, fassbar. Dann erleben wir die verzerrteLebendigkeit und nehmen unsere Denkgewohnheiten wahr. Wenn wir die dreiElemente der transformativen Arbeit zusammenbringen, respektieren wirLebendigkeit. Es entsteht eine innere Beweglichkeit und eine Willenskraft fürFormen im Einklang mit dem Lebendigen wird mobilisiert. Durch solche Prozesseerfahren die Mitwirkenden das Geheimnis der Gestaltung des Unsichtbaren, unddadurch bewahrheitet sich, was Beuys in dem schönen Satz gesagt hat: »Das Mysterium findet im Hauptbahnhof statt« – wenigstens überall dort, wo Menschenbereit sind, sich die Zeit zu nehmen und einander zu schenken, um sich zubesinnen.
1 »Inneres Atelier«, »mietfreier Raum« und »sehen, was wir sehen« sind drei sprachliche Kernstrategien im erstenTeil des Erdforums, die auf unser Imaginationsvermögen und Freiheitspotenzial verweisen.
Author:
Prof. Shelley Sacks
Author:
Dr. Wolfgang Zumdick
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