April 21, 2016
Die Europäische Union war auch ein Projekt wirtschaftlicher Kooperation. Doch immer mehr Menschen spüren, dass ein veraltetes ökonomisches Denken diesen Zusammenhalt rissig werden lässt. Einer von ihnen ist Christian Felber, der als Mit-initiator der Gemeinwohlökonomie die alten, vor allem von Profit getriebenen Systeme transformieren möchte. Wirtschaftlicher Wandel bedarf für ihn einer Neuausrichtung unserer Werte, die in Würdigung einer spirituellen Dimension das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen.
evolve: Warum ist für Sie die Veränderung unserer Wirtschaft hin zu einer Gemeinwohlökonomie so wichtig?
Christian Felber: Die Letztbegründung ist, dass jedes Wesen einen intrinsischen Wert und ein Recht auf Wohlergehen hat und nichts sich auf Kosten des anderen entwickeln soll. Das ist am besten möglich, wenn alle aufeinander achten und miteinander kooperieren anstatt gegeneinander zu agieren und den eigenen Vorteil zu suchen; es gelingt, wenn wir empathisch verbunden sind und gelingende Beziehungen und Gemeinschaften anstreben anstatt die Akkumulation materieller Güter in individueller Verfügung. In letzter Konsequenz: wenn wir uns gleichzeitig als einzigartige Individuen und als Teile einer großen Einheit verstehen.
e: Die Gemeinwohlwirtschaft ist eine Vision, die auf völlig anderen Grundlagen beruht, als die heute vorherrschende neoliberale Wirtschaft. Was sind für Sie die Grundlagen einer neoliberalen Wirtschaft und warum müssen wir darüber hinausgehen?
¬ DIE WÜRDE JEDES WESENS UND DAS GEMEINWOHL SIND QUASI DAS ALPHA UND OMEGA DER SPIRITUELLEN KONGREGATION. ¬
CF: Margret Thatcher hat es am trefflichsten formuliert: »There are men, there are women, there are individuals, but there is no such thing as a society.« Wenn es keine Gesellschaft gibt, gibt es auch keine Sozialversicherung, keine öffentlichen Güter, kein Gemeinwesen und kein Gemeinwohl. Aus der Bewusstseinsforschung wissen wir, dass das Ego-Bewusstsein – »Es gibt nur mich und meine Bedürfnisse, und es ist legitim, diese auch auf Kosten anderer zu befriedigen und durchzusetzen« – die primitivste Form des Bewusstseins ist. Die zweitengste Form ist die Sorge für das Wohl einer begrenzten Gruppe von Menschen. Schon weiter ist das human-soziale Bewusstsein, das alle Menschen in den Blick nimmt. Noch weiter ist das ökologische, das auch die Mitwelt, die planetaren Ökosysteme in die Wahrnehmung mit einschließt bis zur Identifikation – sodass Umweltzerstörung zur Selbstzerstörung und Umweltschutz zum Selbstschutz wird. In einer solchen geweiteten Perspektive und Identität geht es um die Befriedigung der Bedürfnisse aller Lebewesen, ihre Achtung und die Anerkennung ihres intrinsischen Wertes. Eine fast logische Folge dieser Weltsicht sind »ökologische Menschenrechte«, die einerseits Mindestverbrauchsrechte für alle Menschen verbriefen, andererseits Schutzrechte für alle Arten und den Planeten.
e: Gehört zu dieser ökologischen oder planetaren Perspektive auch eine spirituelle Dimension?
CF: Ich denke, dass Spiritualität ein menschliches Grundbedürfnis, mehr noch, ein Teil der conditio humana ist, das sich völlig unabhängig, ob Religionsgemeinschaften oder Konfessionen es kultivieren, zeigt und entwickelt werden kann. Ich habe es selbst erfahren. Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, betrachte mich aber als zutiefst spirituellen Menschen. (Analog bin ich zutiefst politisch, auch wenn ich keiner Partei angehöre). Das Bild, das mir zum Verhältnis von Religion und Spiritualität gekommen ist, sind vielfältige Brunnen, die auf allen Kontinenten stehen, unterschiedlich in Form, Farbe, Bauart und Größe. Doch die Essenz, die aus ihnen geschöpft wird, ist überall dieselbe. Und Teil dieser spirituellen Essenz ist eine universale Ethik: Beziehungswerte, Gemeinschaftswerte, Wertschätzung der Natur. Das Gemeinwohl ist ein zeitloser Wert aller Religionen und Geistesschulen. Die Würde jedes Wesens und das Gemeinwohl sind quasi das Alpha und Omega der spirituellen Kongregation.
e: Das gegenwärtige politische Ringen um Lösungen für die Flüchtlingskrise scheint zu zeigen, dass allein menschliche Verbundenheit nicht ausreicht, um uns dauerhaft als eine Menschheit füreinander verantwortlich zu fühlen und diese »universale Ethik« zu leben. Wie würden Sie das »Quäntchen mehr«, das es hier vielleicht braucht, beschreiben?
CF: Ein Quäntchen ist die emotionale Verbundenheit mit allen Menschen und dem Planeten, die Haltung und Bereitschaft des Hinspürens, wie es den anderen geht und was sie brauchen – das tiefe Anerkennen ihres Menschseins und ihrer Würde.
Und zum anderen die Wahrnehmung und Anerkennung der Folgen unserer eigenen Handlungen, die sich auf die Lebensbedingungen von Menschen in aller Welt auswirken, bis hin zu manifesten Fluchtursachen wie Angriffskriegen (z. B. Irak 2003), »Freihandel« oder der Klimawandel. Das ist vielleicht der erste Schritt: Das Wahrhaben, dass unser Wirtschaftssystem und Lebensstil Menschen weltweit in die Flucht treiben. Dann können wir diese Menschen auf der Flucht als Ergebnis unserer eigenen Handlungen und einer Weltwirtschaftsordnung, die wir maßgeblich mitverantworten, begreifen. Dann sind es nicht länger Störfaktoren, sondern Spiegel. Und wer die geistige Größe hat, einen Spiegel zu ertragen, ist am Ende dafür dankbar, dass die Flüchtenden uns die Botschaft überbringen, dass wir keine Kriege führen sollten – weder militärische noch wirtschaftliche noch ökologische.
e: Dieser Wandel der Einstellung wird wohl immer beim Einzelnen beginnen und von kleinen Gruppen weitergetragen werden. Wo sehen Sie diese Wandlungsimpulse in der Gemeinwohlbewegung? Spielt dabei der spirituelle Aspekt, den wir angesprochen haben, eine Rolle?
CF: Das schöne an der Gemeinwohl-Ökonomie ist, dass sie nicht zentral und spektakulär gelingt, sondern fein verteilt wie Goldstaub an 1000 Orten: in Form von Unternehmen, Vereinen, Projekten, Schulen, Universitäten, Gemeinden, Personen und Netzwerken, die in ihrem persönlichen Wirkungsradius zur Tat schreiten und zur Wandlung bereit sind. Das kann eine Gemeinwohl-Bilanz für ein Unternehmen sein, die Gründung einer neuen Unternehmung unter dem Gemeinwohl-Leitstern, ein Unterrichtsprojekt in einer Schule oder ein Forschungsprojekt an einer Universität. Es ist die Stadt Stuttgart, die 100.000 Euro für Gemeinwohl-Ökonomie-Projekte genehmigt hat oder die spanische Gemeinde Orendain, die alle BürgerInnen gefragt hat, ob sie sich auf den Weg zur Gemeinwohl-Gemeinde machen wollen. Knapp 90 Prozent haben mit Ja geantwortet. Irgendwann kommt der erste kommunale Wirtschaftskonvent und irgendwann die erste demokratische Verfassung, in der Geld als öffentliches Gut definiert ist. Von vielen Aktiven – UnternehmerInnen, BürgerInnen, KommunalpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen – weiß ich, dass sie in ihrer Arbeit und ihrem Engagement spirituell motiviert sind. Einer von ihnen bin ich selbst.