Atem: Der Rhythmus, der uns trägt

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Essay
Publiziert am:

April 23, 2015

Mit:
Johann Wolfgang von Goethe
Rudolf Steiner
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
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Natürlich ist es der West-östliche Divan, in dem sich Goethes Gedicht über das Atmen findet – wo sonst sollte der Atem bis ans Göttliche heranreichen, wenn nicht mit Blick in den Osten, der seit jeher auf den Atem meditiert?
Ich habe das Meditieren mit dem Atmen erst recht spät gelernt. Der Goethe-Kenner Rudolf Steiner hat vom Meditieren mit dem Atmen abgeraten. Erst allmählich habe ich entdeckt, dass er wohl gar nicht das Atmen als solches meinte, sondern die Manipulation des Atems, wie sie zum Beispiel im Pranayama gepflegt wird. Ich vermute, dass Steiner – der solche Übungen für eine kurze Zeit zu Beginn seiner Meditationslehrertätigkeit selbst praktiziert hat – die von der Veränderung des Atmens ausgehenden Wirkungen auf’s Bewusstsein ausschließen wollte. Dieses sollte sich nur durch sich selbst entwickeln.
Den Mahayana-Buddhismus hingegen und die damit verbundene Atempraxis kannte Steiner wohl gar nicht. Ich stelle mir vor, dass er dagegen überhaupt nichts gehabt hätte – so reichhaltig, wie er selbst auf den Pendelschlag der Atemzüge geblickt hat. Vielleicht ist er einfach nicht auf die Idee gekommen, ihn zum Meditieren zu nutzen.
Das beginnt schon damit, dass das Atmen eine Funktion ist, die uns am Leben erhält, und die wir uns doch bewusst machen und sogar manipulieren können. Das gilt für den Herzschlag nur in Ausnahmefällen und von der Lebertätigkeit zum Beispiel haben wir überhaupt kein Bewusstsein. Das Atmen aber verbindet Leben und Bewusstsein miteinander – wir können es uns bewusst machen, und wenn wir das nicht tun, trägt es uns ohne unser Zutun, solange wir leben.  
Die Einatmung weitet zwar unseren Brustkorb und den Bauch, aber seelisch erleben wir sie doch als Zusammenziehung: Beim Einatmen kommen wir zu uns, ja, es kann uns sogar bedrängen. Beim Ausatmen lassen wir los, kommen von uns los und machen uns frei von dem, was uns beschwert. Das Einatmen ist konzentrierend, das Ausatmen entspannend. Die beiden grundlegenden Aktivitäten jeder Meditation – fokussieren bzw. focused attention und offenes Gewahrsein bzw. open monitoring – sind in den Atem hineingeheimnisst.

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt.
J. W. v. Goethe,„West-östlicher Divan“


Dieser Pendelschlag trägt aber auch unser Bewusstsein: Wenn wir uns wahrnehmend der Welt öffnen und Eindrücke empfangen, stehen wir an der Kehre von der Ausatmung zur Einatmung. Und wenn wir uns innerlich mit den empfangenen Eindrücken beschäftigen, sie bedenken und durchfühlen und damit vielleicht auf neue Ideen zu neuen Handlungen kommen, stehen wir an der Kehre von Einatmung zu Ausatmung. Dieser Pendelschlag durchzieht unser waches Leben ständig, andauernd wechseln wir zwischen Wahrnehmung und Denken. Auch in unserem wachen Tagesbewusstsein als Ganzem sind wir bei uns und eingeatmet, in der Nacht atmen wir aus, verlässt uns das (Selbst-)Bewusstsein und weitet sich – manche spirituelle Traditionen sehen es sich über den ganzen Kosmos ausbreiten. Und der vielleicht größte Atemzug ist der unserer Inkarnation, die das Bewusstsein mit einem Körper verbindet, es dadurch auch einengt und abschnürt von seiner kosmischen Heimat, wozu als entgegengesetzter Pendelschlag der Tod gehört, in dem wir wieder ausgeatmet werden. Gott – um das Gedicht Goethes noch einmal aufzugreifen, der einen Gott vor allem in der Natur erlebte – presst uns hinein in den Körper mit der Geburt, und mit dem Tode werden wir wieder entlassen. Für beides gleichermaßen können wir danken.
Mit all diesen Pendelschlägen schwingen wir im Atmen mit. Im Kleinen vollziehen wir die großen Rhythmen des Menschseins. Und vielleicht kann man noch weiter gehen und den Pendelschlag des Ein- und Ausatmens auch in der Natur wahrnehmen, wo im Winter die Erde ganz bei sich ist und aufgrund der zurückgehaltenen Lebensvorgänge Wachheit und Bewusstsein entsteht, während sie zum Sommer hin sich immer mehr vitalisiert und durch ihre Vitalität das Bewusstsein quasi überwältigt.
Das Atmen ist wirklich eine Gnade. Es lädt zum Meditieren geradezu ein.

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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