Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 16, 2020
Yuriko Saito ist eine Kennerin des Wabi-Sabi. In dieser japanischen Tradition wird nach Wegen gesucht, um die Schönheit des Unvollkommenen und Vergänglichen zu sehen. Auf dieser Grundlage erhält Yuriko Saito tiefe Einblicke in unsere Konsumästhetik, unsere Fähigkeit zur Weltgestaltung und die zwiespältige Macht von Ästhetik.
e: Wir befinden uns im Kontext einer mehrfachen Krise: das Corona-Virus, die wachsende politische Polarisierung, die Umweltkrise. Inwiefern ist die Alltagsästhetik des Wabi-Sabi Ihrer Ansicht nach relevant für diesen größeren Zusammenhang?
Yuriko Saito: Wabi-Sabi ist ein ästhetisches Konzept aus Japan, das mittlerweile weltweit bekannt ist. Im Wesentlichen geht es dabei aber darum, wie wir mit der Unvollkommenheit im Leben umgehen, die durch Veränderungen verursacht wird, über die wir keine Kontrolle haben. Das heißt auch Unvollkommenheit in dem Sinn, dass etwas nicht unserer Erwartung entspricht, also wenn etwas zerbricht, beispielsweise ein Tongefäß. Wabi-Sabi ist aber nicht nur eine ästhetische Möglichkeit, um mit der Unvollkommenheit des Lebens fertig zu werden, es handelt sich dabei auch um einen existenziell geprägten Umgang mit dieser Unvollkommenheit. Grundlage der Wabi-Sabi-Ästhetik ist der buddhistische Gedanke, dass das Leben vergänglich ist, dass alles in der Welt vorübergeht. Das ist die Quintessenz des Lebens. Es gibt einige Dinge, die wir beeinflussen können, aber es gibt sehr vieles, das außerhalb unserer Kontrolle liegt, wie etwa das Corona-Virus.
Was können wir also tun? Die Ästhetik des Wabi-Sabi fordert von uns, aus Dingen, die schwer zu akzeptieren sind, ein ästhetisches Verständnis zu gewinnen. Ich sage nicht, dass wir das Corona-Virus als solches akzeptieren sollten, aber Ästhetik kann uns helfen, etwas zu akzeptieren, was wirklich jenseits unserer Kontrolle liegt, etwas, was wir nicht akzeptieren wollen, weil es unserem Wunsch oder unserer Erwartung diametral entgegengesetzt ist.
Die Ästhetik des Wabi-Sabi geht noch einen Schritt weiter. Sie bedeutet auch ein Bejahen der positiven Elemente, die aus dem Unvollkommenen entspringen oder aus Situationen, die schwer zu akzeptieren sind. Wenn Sie etwas besitzen, was alt und ziemlich heruntergekommen ist, können Sie das annehmen als Zeichen der Vergänglichkeit. Sie können eine positive, zustimmende Haltung zu dieser Unvollkommenheit entwickeln oder einen wirklich kreativen Umgang mit ihr.
Ich habe hier die Methode des Kintsugi vor Augen – übersetzt heißt das »goldene Reparatur«. Bei einem zerbrochenen Tongefäß wäre eine Wabi-Sabi-Strategie, es einfach so zu akzeptieren, wie es ist. Wenn etwa bei der traditionellen Teezeremonie eine Teeschale oder der Kessel einen Sprung hat, kann man alles Mögliche tun, um das auszugleichen, aber man repariert es nicht. Daneben bietet das Kintsugi aber eine weitere Möglichkeit des kreativen Umgangs mit dem Sprung. Zuerst benutzt man Lack als Klebstoff, um das zerbrochene Teil zu reparieren, dann aber umrandet man die Sprünge mit Gold, um zu zeigen, dass das Gefäß repariert wurde. Auf diese Weise können wir es ganz neu wertschätzen.
Es gibt hier also unterschiedliche ästhetische Möglichkeiten. In welchem Zusammenhang steht das nun mit dem Corona-Virus und anderen Krisen? Die Ästhetik des Wabi-Sabi hilft uns, einen Schritt über die Resignation hinaus zu tun. Wir können das Zerbrochene akzeptieren und dann nach Aspekten suchen, die wir wertschätzen können, und so einen kreativen Umgang mit schwierigen Situationen finden.
e: Wabi-Sabi scheint eine zweifache Qualität zu haben. Man könnte sagen, es ist bittersüß. Ein Gefühl von Verlust, von Traurigkeit oder Schmerz, gleichzeitig aber auch eine tiefe Zustimmung und Dankbarkeit.
YS: Ja, Wabi-Sabi ist eine Art existenzieller Philosophie in dem Sinn, dass es einen Weg aufzeigt, mit der Widersprüchlichkeit des Lebens umzugehen. Es bejaht die Vergänglichkeit und Nicht-Beständigkeit. Wir alle werden einmal sterben, und darauf richtet Wabi-Sabi unsere Aufmerksamkeit. Eines der essenziellen Symbole für die Schönheit des Vergänglichen sind Kirschblüten. Die japanische Kultur besitzt eine lange Tradition, die Kirschblüte zu verehren, denn wenn sich die Blüten verabschieden und wegfliegen, tun sie das mit einer unvergleichlichen Anmut. Kirschblüten vergehen, sie sind ein Teil der Natur, aber nächstes Jahr blühen die Kirschbäume wieder. Diese intensive Vorfreude gehört zur machtvollen, vergänglichen Schönheit der Kirschblüten.
e: Was Sie über die Kirschblüten sagen, klingt, als sprächen Sie über einen Trost, eine Schmerzlinderung für die Seele, welche die Schönheit im Kreislauf von Leben und Tod herbeiführt. Die Schönheit hat uns anscheinend etwas zu lehren über das, was möglich ist.
YS: Ja, die Schönheit schenkt Möglichkeiten. Normalerweise tendieren wir zu dem, was ich »leichte Schönheit« nenne, die farbenfroh, perfekt und opulent ist, aber wenn sich unser ästhetisches Leben darauf beschränkt, haben wir ein Problem, denn wir können diese Art Schönheit nicht festhalten. Auch etwas Opulentes, Farbenfrohes, Perfektes wird alt werden und vergehen. Die Unvollkommenheit, die die Wabi-Sabi-Ästhetik hervorhebt, eröffnet eine andere Möglichkeit. Es muss nicht immer perfekt sein, nicht immer opulent, farbenfroh und wunderschön. Es gibt eine andere Art Schönheit. So entsteht eine Alternative.
e: Damit machen Sie ja auch eine Aussage über unsere Konsumkultur, die leichte Schönheit glänzender neuer Dinge, die mir ein gutes Gefühl geben – jedenfalls meinen wir das. Aber das ist ein sehr oberflächliches Verständnis von Schönheit, es liegt sehr nahe am Kitsch.
YS: Die gesamte Konsumästhetik, die von der Industrie produziert wird, grenzt an Kitsch. Leichte Schönheit ist etwas, das einen unmittelbar anspricht. Bei dieser Einstellung wird alles, was nicht der neuesten Mode entspricht, nicht als ästhetisch gefällig empfunden. Der Lebensstil, der auf diese Weise entsteht, beruht auf Kaufen und Wegwerfen, und daraus resultieren gewaltige Umweltprobleme. Die Rolle, die die Ästhetik aufgrund der industriellen Produktion für die Entstehung der Umweltkrise spielt, macht mir Sorgen. Wer braucht schon hundert Kleider oder hundert Paar Schuhe? Kritik an der Konsumästhetik wirft die Frage auf: Worin besteht die echte Schönheit eines Objekts? Ist es das Neue, Glamouröse, oder gibt es eine andere Schönheit, die wir wertschätzen können?
DIE GESAMTE KONSUMÄSTHETIK GRENZT AN KITSCH.
An dieser Stelle kommt Wabi-Sabi ins Spiel mit seiner Wertschätzung alt gewordener, vielleicht auch kaputter Gegenstände. Jeder Gegenstand hat seine eigene Geschichte und jeder Besitzer seine eigene Beziehung zu ihm. Unser Denken führt dazu, dass wir etwas wegwerfen, wenn es alt ist. Bei Wabi-Sabi schätzen wir den Gegenstand und kümmern uns um ihn, das erfordert verschiedene Wartungs- und Reparaturstrategien. Ich stelle mir vor, dass die Rolle der Ästhetik im Umgang mit der Konsumkultur darin besteht, ein anderes ästhetisches Modell zu finden. Und darauf aufbauend kann dann eine andere Haltung gegenüber Gegenständen entstehen, die unausweichlich dem Wandel und dem Altwerden unterliegen.
e: Mir gefällt an Ihrer Arbeit auch, dass Sie über World-Making oder Weltgestaltung sprechen. Sie erklären, dass unsere ästhetischen Erscheinungen eine Welt erschaffen und Sie erwähnen die Notwendigkeit einer tieferen ästhetischen Erziehung, die unseren Blick auf die Gegenstände und die Wirklichkeit um uns herum verändert. Können Sie dazu noch etwas sagen?
YS: Diese Gedanken wurden angeregt durch meine Beschäftigung mit der Konsumkultur. Ästhetik kann so erscheinen, als handle es sich dabei nur um oberflächliche Dekoration und als hätte sie nichts Ernstes an sich. Aber meine Untersuchungen ergeben, dass wir die ganze Zeit ästhetische Entscheidungen treffen. Konsumkultur heißt, wir werfen etwas weg, wenn es einen kleinen Sprung hat, einen kleinen Flecken, oder wenn die Farbe ausbleicht. Diese Wegwerfmentalität hat erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt. Aber warum werfe ich es denn weg? Hauptsächlich aufgrund einer ästhetischen Entscheidung. Als ich begann, meine eigenen Entscheidungen zu untersuchen, merkte ich, dass sie von ästhetischen Erwägungen geleitet sind. Hier kann man sehen, dass Ästhetik nicht nur Larifari ist oder ein überflüssiger Zuckerguss auf dem Kuchen. Vielmehr hat sie die Macht, unsere Entscheidungen, Präferenzen und Urteile zu beeinflussen, woraus unterschiedliche Aktionen mit gewaltigen Konsequenzen erwachsen.
e: Konsequenzen nicht nur für mich selbst, sondern auch im Zusammenhang mit Klimachaos und Umweltkrise.
YS: Ja, wir brauchen einen Zuwachs an Bewusstheit, denn meine Entscheidung, bestimmte Dinge zu kaufen, hat größere Auswirkungen. Wenn wir diese Fakten mehr ins Bewusstsein heben, werden uns die Konsequenzen unserer Kaufentscheidungen und des Umgangs mit unseren Besitztümern klar. Das ist eine große Verantwortung, aber es gibt auch Kraft. Ich bin nicht das hilflose Opfer, das in einer verschmutzten Welt leben muss. Natürlich habe ich nicht die Kontrolle über alles und jedes, aber als Konsumentin und Bürgerin kann ich meinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Es ist eine Kombination aus Last und Verantwortung, aber es verleiht mir auch Handlungsfähigkeit. Wir alle sind Weltgestalter – nicht nur die Profis wie Architekten und Designer. Wir alle leisten unseren Beitrag zum Projekt der Weltgestaltung. Die Frage ist: Werde ich durch meinen Beitrag die Umwelt verschmutzen oder will ich einen positiven Beitrag leisten?
e: Als Konsumenten und Bürger haben wir auch Einfluss darauf, wie wir unsere Städte und Gemeinschaften gestalten. Auch bei diesen Prozessen spielt Ästhetik eine Rolle.
YS: Ja, besonders wenn es um Strukturen geht, die die Umwelt betreffen. Das prominenteste Beispiel, wo die Ästhetik eine große Rolle spielt, sind Windkraftanlagen. Sie rufen häufig Widerstand hervor, weil sie als Schandfleck betrachtet werden. Ich lebe an der Ostküste der USA, und da wurde vor der Küste von Cape Cod eine große Windenergie-Farm geplant. Es gab eine intensive Diskussion über das Pro und Contra, und der CEO der Windenergiefirma sollte einen Vortrag in meiner Hochschule halten. Der hauptsächliche Einwand gegen die Anlage war ästhetischer Natur: Die Anlage verstellt den Meerblick.
Ein anderes Beispiel sind Anlagen zur Müllverwertung. Ich weiß von einem positiven Beispiel einer Recyclinganlage außerhalb von Phoe nix, wo die Ästhetik zur treibenden Kraft wurde. Der Architekt arbeitete mit einem Bildhauer zusammen und gestaltete die Anlage ästhetisch und auch nützlich für Spaziergänger und Touristen. Man kann hi neingehen und eine ästhetische Erfahrung machen, aber auch etwas über den Prozess des Recyclings lernen. Auf diese Weise spielen ästhetische Aspekte durchaus eine Rolle bei kommunalen Entscheidungen.
JEDER GEGENSTAND HAT SEINE EIGENE GESCHICHTE.
e: In welcher Beziehung steht dieser tiefere ästhetische Sinn zur Gestaltung einer Welt, die wir wollen?
YS: Wenn wir Wertschätzung entwickeln für defekte, unvollkommene, alte Gegenstände, bereichert das die Palette unserer ästhetischen Empfindung. Ich bin nicht daran gefesselt, neue, glamouröse, glitzernde Gegenstände schön zu finden, wir können auch andere Dinge wertschätzen. Was aber noch wichtiger ist: Wir erhöhen unsere Lebensqualität, weil unsere Aufgeschlossenheit gefördert wird. Wir sind fähig, die Unterschiedlichkeit der Dinge zu akzeptieren und wertzuschätzen, und das wirkt sich auf unsere Lebensführung aus. Kommen wir nur mit irgendwelchen Erwartungen an und stülpen sie anderen Menschen über? Oder öffnen wir uns, sodass wir unterschiedliche Lebensstile und Denkweisen akzeptieren und schätzen können?
e: Faszinierend. Wenn wir die Dinge nur auf ihre Oberfläche hin anschauen, ihren Schein, ihre Neuheit, dann verhalten wir uns anderen Menschen und dem ganzen Leben gegenüber genauso.
YS: Ich glaube, ästhetische Aufgeschlossenheit kann unsere Aufgeschlossenheit dem Leben gegenüber fördern. Dadurch wird die Ästhetik zu einem machtvollen Instrument unserer Selbsterziehung und zur Kultivierung unserer Empfindsamkeit. Hier gibt es auch einen Zusammenhang zum politischen Problem des Nationalismus und der Mentalität eines Wir-gegen-die-Anderen, bei der Menschen mit einer anderen Lebensweise oder religiösen Einstellung ausgeschlossen werden. Deshalb ist Aufgeschlossenheit eine wichtige Tugend, die wir pflegen sollten. Ein Weg dazu ist, uns auf die ästhetische Empfindsamkeit auszurichten und sie zu vertiefen. Zusätzlich muss die Kultivierung der ästhetischen Sensibilität auch auf moralischer Sensibilität aufbauen. In dieser Hinsicht kann Wabi-Sabi zum Problem werden, wenn es nämlich dazu führt, dass wir Wertschätzung für alles Unvollkommene entwickeln und es auf soziale Lebensumstände oder politische Systeme ausdehnen. Das kann zum unkritischen Akzeptieren von Ungerechtigkeit und zu Selbstzufriedenheit führen.
Die Kultivierung der ästhetischen Sensibilität muss also auf einem fundamentalen Verständnis dessen aufbauen, was das Gute ist. In Japan wurde die Wabi-Sabi-Ästhetik auch für militärische Zwecke eingesetzt und rechtfertigte den Status quo eines hierarchischen Systems. Sie schuf eine stabile Gesellschaft, denn die Menschen benutzten Wabi-Sabi, um sich mit ihrer Lebenssituation zufrieden zu geben. Wenn ich Wabi-Sabi-Ästhetik unterrichte, versuche ich immer den positiven Aspekt zu stärken, aber unter dem Vorbehalt, dass wir uns auch über den möglichen Missbrauch dieser Ästhetik im Klaren sein müssen.
e: Sie sagen also, Wabi-Sabi kann benutzt werden, um alles zu relativieren, einschließlich der Ausbeutung von Menschen. Gibt es eine moralische Ästhetik?
YS: Die westliche philosophische Tradition ist stark unterteilt in Disziplinen wie Ästhetik, Ethik, Politische Philosophie, Metaphysik, Ontologie und so fort. Wenn man sich aber die japanische Philosophie ansieht oder andere Philosophien der Welt, ist es nicht sicher, ob sich diese Aufteilung aufrechterhalten lässt. Nach meiner Ansicht, die sich auch ändern kann, sind Ästhetik und Moral miteinander verwoben und es ist sehr schwer, den moralischen Aspekt chi rurgisch sauber von der Ästhetik zu trennen.
Die Nazis machten brillanten Gebrauch von der Macht der Ästhetik. Sie setzten Filme, grafische Elemente und Musik sehr wirkungsvoll ein. Aber zu welchem Zweck? Ich hatte eine Doktorandin, die am Ende sagte, Ästhetik sei gefährlich. Ich stimme zu, denn Ästhetik hat sehr viel Macht.
e: Weshalb hat sie so viel Macht?
YS: Weil sie unsere Emotionen anspricht, unsere Sensibilität, wohingegen andere Disziplinen wie die Naturwissenschaften auf Rationalität beruhen, auf Distanz, auf Objektivität. Man ist nicht persönlich involviert. Ich bin mir sicher, dass viele Wissenschaftler mit Leidenschaft dabei sind, aber bei der Wissenschaft als Disziplin sind Objektivität, Rationalität und Distanziertheit die Norm. Die Ästhetik dagegen fordert die persönliche Beteiligung, sie ist subjektiv. Deshalb kann sie eine großartige Strategie der Weltgestaltung sein, wenn sie in die richtige Richtung fokussiert wird. Wenn wir sie dagegen missbrauchen, führt es, wie die Geschichte zeigt, zur Katastrophe. Das ist der Grund, weshalb wir einen größeren Respekt vor der Kraft der Ästhetik und vor unserem Umgang mit ihr entwickeln müssen.