Geburtswehen einer neuen Zivilisation

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

April 17, 2018

Mit:
Terry Patten
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AUSGABE:
Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
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Eine Besprechung des Buches »A New Republic Of The Heart« von Terry Patten

Am neuen Buch von Terry Patten gefällt mir vieles, aber drei Dinge ganz besonders: Erstens die Art, wie er spirituell-evolutionäre Gedanken mit radikalem Engagement in unserer Natur- und Kulturkrise verbindet, für einen evolutionären Sprung, der gesellschaftlich ein »whole system change« ist, ein kompletter Systemwandel. Zweitens das, was auch Terry »we-space« nennt: Bestimmt das halbe Buch handelt nicht von ihm und »seiner« Sicht der Dinge, sondern von anderen Denkern und Aktivisten, ihren Ideen und Projekten. Was mir drittens gefällt, ist, wie verblüffend mühelos ihm gelingt, was in einer fernöstlich-postmodern geprägten Szene schwierig ist: enlightenment nicht nur als Erleuchtung, sondern auch als Aufklärung zu leben.

Terry Patten wurde 1951 in Chicago geboren, lebte als Kind in einer progressivchristlichen Kommune, studierte Anfang der 70er und wurde Schüler des westlichen Gurus Franklin Jones (Adi Da). In den 80er Jahren war er ein Pionier bei den Biofeedback-Geräten. 2004 stieß er zu Ken Wilbers Integral Institute (I-I) und ist KoAutor des Buches »Integrale Lebenspraxis«.

In seinem neuen Buch »A New Republic Of The Heart« ist mir die Vision eines integralen Natur- und Kultur-Aktivismus am wichtigsten. Ausgangspunkt war 2016 seine Horror-Vision der eskalierenden Umweltkrise: »Beim Schreiben dieses Buchs habe ich getan, wovor ich mich gefürchtet hatte und den möglichen Entwicklungen ins Auge gesehen. Und das ließ mich monatelang durch eine ›dunkle Nacht der Seele‹ irren.« (S. 7, alle Übersetzungen vom Rezensenten). Der Begriff des »Klimawandels« verharmlost ja, wie zerrüttend wir gerade nicht nur ins Klima eingreifen, sondern auch in Böden, Meere und Ökosysteme, und wie unser Wirtschaften die Erde sicher sehr bald an mehrere sogenannte Kipp-Punkte (tipping points) bringen wird, in deren Nähe sie in katastrophale Schwankungen gerät und wo sich dann neue Gleichgewichte einpendeln, einige davon zivilisationsfeindlich, ja vielleicht sogar lebensfeindlich (z.B. wegen der Übersäuerung der Ozeane).

Und doch gehen Emissionen, Vergiftung, Naturverbrauch und Verstädterung fast ungebremst weiter. Der moralische Abgrund, der sich auftut, wenn wir Westler für unseren Mittelschicht-Lifestyle so mit der Natur umgehen und die Zukunft der Menschheit (und sehr vieler Tier- und Pflanzenarten) derart aufs Spiel setzen – er ist ungeheuerlich. Hilflose Gefühle so gewaltiger Schuld führen zu Verdrängung und Lähmung. Hier könnte uns eine Einsicht Terry Pattens helfen: Der evolutionäre Flaschenhals vor uns ist etwas, durch das jede moderne Zivilisation hindurch muss. Man kann auch von einem Geburtskanal sprechen, und von den Geburtswehen einer integralen Zivilisation.

Es kann auch eine Totgeburt werden: »Viele Natur- und Geisteswissenschaftler sind sich einig, dass wir gerade in eine der [in der Evolutionslehre so genannten] ›punktuellen‹ Epochen schnellen Wandels eintreten – und uns schnell anpassen müssen, oder untergehen.« (S. 99) Folgen wir Patten, dann müssen wir nun den öko-esoterischen Klassiker der »bösen (männlichen) Moderne« hinter uns lassen, die alles ohne Not und mutwillig an die Wand fährt. Die Moderne mit all ihren Errungenschaften und Verwüstungen ist kein »Sündenfall«, sondern ein notwendiger und richtiger Evolutionsschritt, den bewahrend zu überwinden wir Mitverantwortung tragen.

Wir nehmen am Endspiel auf diesem Planeten teil. 

Eine im doppelten Sinn einmalige Chance: »In dieser Zeit haben wir die Gelegenheit, unserem Leben einen außergewöhnlichen Sinn zu geben, und mein Gefühl sagt mir, wir haben auch die Pflicht dazu. Wenn man als Maßstab eines Menschenlebens die Chance nimmt, einen Sinn über sich hinaus zu haben, dann haben wir den Jackpot geknackt. Wir nehmen am Endspiel auf diesem Planeten teil, wo alles auf dem Spiel steht, was uns lieb und wert ist, wo alle Mann an Deck gebraucht werden.« (S. 60)

Aber was, wenn es schiefgeht? Wenn das Schiff untergeht? Auch das – erst recht das! – wäre eine Chance integraler Bewährung: »Vielleicht werden wir einen neuen Lebenszyklus menschlicher Erneuerung und Evolution schaffen, geleitet durch Liebe und Weisheit. Sollte es ins andere Extrem gehen, werden wir Weisheit und Fürsorge einem Planeten und einer Gesellschaft entgegenbringen, die ein großes ›Hospizprojekt‹ brauchen – wo unter schweren Bedingungen unser Handeln und unser Mut nötig sind. In jedem Fall wird es dunkle Momente geben und sehr lichte.« (S. 346)

Ja, richtig gelesen: Hospiz. Postapokalyptische Öko-Kommunen-Romantik ist das nicht. Und hier liegt für mich die Größe des Buches und des Autors. Schon 2014 beeindruckte Terry Patten mich tief in einem Interview, wo er sagte: »Unweigerlich wird alles, was du liebst, dir einmal genommen werden. Und unser Glück muss radikal werden. Es geht nicht darum, das Spiel des Lebens zu gewinnen. Das Spiel des Lebens kann man nicht gewinnen. Aber man kann wahr, echt sein.« Merkwürdig: Terrys Mut, unserem Kairos, unserer Stunde der Wahrheit ins Auge zu sehen, tut mir gut.

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