Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
October 29, 2014
Am 9. November 1989 kam Judith Miller nach einer Reise nach Auschwitz auf der Rückfahrt in den Freudentaumel des wiedervereinigten Deutschlands. Diese Erfahrung veränderte ihr Leben – bis heute.
Im Jahre 1989 wählten mein Mann Marty und ich irgendeine Woche im November, um nach Polen zu reisen und Auschwitz zu besuchen. Wir flogen zunächst nach Berlin, weil das Flugticket billiger war. Ich wusste damals nicht, dass diese praktische Entscheidung eine ungeahnte Wirkung auf mein Leben haben sollte. Bei unserer Ankunft sahen wir die Mauer, die Ost und West voneinander trennte. Die westliche Seite der Mauer war lebendig und farbenfroh, mit allen möglichen künstlerischen Designs und Graffitis. West-Berlin war voller Straßencafés, Läden und Menschen. Als wir über die Mauer in den Osten schauten, bot sich uns ein anderes Bild: kaum Farben, Grenzsoldaten, die mit Gewehren patrouillierten, wenig Menschen und eine große, fast leere Allee.
Am nächsten Tag mieteten wir ein Auto und fuhren nach Polen und erreichten schließlich Auschwitz. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, das Gefühl zu beschreiben, dass mich bewegte, als ich den Ort des Leidens und Schreckens mit eigenen Augen sah – die düsteren, furchterregenden Baracken, die Folterräume, die Öfen und die Fotos ängstlicher oder nichtsahnender Opfer.
Am Abend sahen wir im Fernsehen, dass am Tag zuvor die Mauer gefallen war. Aber uns erschien das ziemlich unwichtig. Alles, was ich nach diesem Tag in Auschwitz empfinden konnte, war eine tiefe Wut auf alle Deutschen und ein unsäglicher seelischer Schmerz.
Nach dem Tag in Auschwitz fuhren wir am nächsten Morgen mit dem Auto zum Bahnhof, wo wir den Nachtzug nach Berlin nehmen wollten, um dann nach Hause zu fliegen. Unterwegs machten wir Halt bei einem Restaurant in einer polnischen Stadt und versuchten, etwas zu essen zu bekommen. Es waren nur wenige Menschen in dem Restaurant, nur ein paar Männer und Frauen, die in einer Ecke saßen, lachten und Alkohol tranken. Nachdem wir bestellt hatten, kam einer der Männer aus der Gruppe schwankend an unseren Tisch. „Wo kommen eure Vorfahren her?“, fragte er mit Hohn in der Stimme. Bevor wir antworten konnten, zeigte er mit dem Finger auf uns und schrie: „Jude!“ Marty und ich zahlten das Essen, das wir noch nicht angerührt hatten, und verließen schweigend das Lokal.
Wir waren unter den Ersten, die in den Nachtzug einstiegen, so dass wir zwei Plätze nebeneinander fanden. Wir fuhren die ganze Nacht durch und der Zug hielt in vielen ostdeutschen Städten und Dörfern. Schon bald war der Zug voll mit Männern und Frauen – Jungen und Alten, Kindern und Babys ¬–, die sich in den Zug zwängten und stehend die ganze Nacht durchfuhren, mit Tränen in den Augen, in den Händen zerknitterte Papiere mit der Adresse geliebter Menschen, die sie mehr als 30 Jahre nicht gesehen hatten, oder Blumen, die sie ihnen mitbringen wollten. Sie alle strahlten unglaublicher Freude aus, weil die Mauer gefallen war und sie endlich, endlich Verwandte, Freunde oder einfach den anderen Teil ihrer Heimat sehen konnten.
Irgendwann während dieser Zugfahrt ging mein Herz auf, der Hass und die Wut auf alle Deutschen, die ich nach meinem Besuch in Auschwitz empfunden hatte, begann sich aufzulösen. Meine spirituelle Reise durch jene Nacht führte mich vom finstersten Dunkel zum strahlendsten Licht. Als der Zug schließlich in Berlin hielt, rannten Marty und ich mit den anderen hinaus – umarmten sie, tranken mit ihnen an der Grenze Champagner und weinten Seite an Seite mit den ostdeutschen Soldaten, die ihre Gewehre niedergelegt hatten und wie alle anderen von ihren Gefühlen überwältigt wurden. Während wir gemeinsam ein monumentales Ereignis erlebten, spürte ich eine tiefe Verbundenheit mit meinen deutschen Brüdern und Schwestern, die mich mein ganzes Leben lang begleiten wird. Zum ersten Mal ging mir im Herzen auf, dass wir alle eins sind.
Meine spirituelle Reise durch jene Nacht führte mich vom finstersten Dunkel zum strahlendsten Licht.
Heute steht in meiner Wohnung ein Glaskästchen mit Knochensplittern meiner Vorfahren, die ich aus der Erde in Auschwitz gegraben habe, neben einem Stückchen der Mauer, die an diesem ganz besonderen Tag in sich zusammengefallen war.
Danach ging mein Leben zunächst wieder seinen gewohnten Gang. Dann veranstaltete Ingo Jahrsetz für das Spiritual Emergency Network im Jahre 1996 eine Konferenz im Schwarzwald. Wir hatten uns während der Ausbildung in Holotroper Atemarbeit bei Stanislav Grof angefreundet. Wir stellten fest, dass bei vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Atem-Workshops der Holocaust als Erfahrung auftauchte, wenn sie sich in erweiterten Bewusstseinszuständen befanden. Es schien keine Rolle zu spielen, ob sie jung oder alt waren, Amerikaner, Deutsche, Europäer, Christen oder Juden. Der Holocaust ist nach dem Zweiten Weltkrieg ins kollektive Unbewusste des Westens eingegangen. Wenn Menschen in ihrer Atemarbeit Zugang dazu finden, kann sie das mit Macht in einen tiefen spirituellen Prozess katapultieren. Wir beschlossen, gemeinsame Retreats anzubieten, um die Heilung vom Holocaust zu ermöglichen.
Immer wieder äußern sich jüdische Kollegen und Familienmitglieder betroffen und neugierig über diese Arbeit. „Warum gehst du da immer wieder hin?“, fragen sie mich. „Der Holocaust ist vorbei“, sagen sie. „Das ist mehr als 70 Jahre her. Heute haben wir andere Probleme: den radikalen Islamismus und Terrorismus, Israels Krieg im Gaza-Streifen, den wieder zunehmenden weltweiten Antisemitismus.“
Das alles ist natürlich richtig. Sie verstehen aber nicht, dass die Energie, die dem Holocaust zugrunde liegt, seit Anbeginn der Zeit existiert. Sie hat sich in vielen Ländern gezeigt, zu unterschiedlichen Zeiten in der Geschichte, unter den verschiedensten Namen. Für mich ist es ein Segen, dass ich zu der Heilung beitragen kann, die sich aus diesen Schrecken ergeben kann. Viele Deutsche der zweiten, dritten und in jüngster Zeit auch der vierten Generation, haben mit Ingo und mir diesen Heilungsprozess miterlebt. Auch sie erfahren diesen Segen.
Gemeinsam haben wir dies erreicht – Deutsche und Juden –, nach Auschwitz.