Jeder Mensch hat ein Dorf verdient

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November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Wenn Zugehörigkeit und Kreativität zueinander finden

Wie können wir heute neue Formen einer gelebten Zugehörigkeit finden, die lebendige Beziehung nährt und Ko-Kreativität ermöglicht? Vielleicht kann ein neues Verständnis des Dorfes als eine Kultur der Bezogenheit eine Kernzelle bilden für ein Zusammenleben, in dem wir die Rollen der Geschlechter und das Wechselspiel zwischen individueller Entfaltung und gemeinsamer Teilhabe neu gestalten können.

Das alte afrikanische Sprichwort »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen« ist in gewisser Weise zum Gemeinplatz geworden. Aus der Sicht gestresster Eltern, die ein missgelauntes Kleinkind für die Kita fertig machen müssen, wenn sie ohnehin schon zu spät zur Arbeit kommen, wäre es offensichtlich eine große Hilfe, wenn sich mehrere Hände und Herzen um unsere Kinder kümmern würden. Interessante (andere) Eltern und Spielkameraden in der näheren Umgebung zu haben, eröffnet für das Heranwachsen des Kindes ein reiches Forschungs- und Lernfeld. Aber das Dorf wäre nicht nur gut für die Kinder. Ich hätte auch gerne ein Dorf. Hand aufs Herz: Hat nicht jeder Mensch ein Dorf verdient?

In unserer globalisierten Welt gewinnt das Dorf größere Bedeutung für uns alle. Das sage ich im klaren Wissen darum, dass etwa 75 Prozent der europäischen Bevölkerung in städtischen Ballungsräumen leben – Tendenz steigend. Ich liebe die Stadt, lange Jahre habe ich in New York gelebt, aber das städtische Leben ist geprägt von Isolation und Geschäftigkeit. Ein Teil der Attraktivität der Stadt liegt in der Anonymität: Sie birgt gleichermaßen die Verlockung der Freiheit wie auch das Risiko der Einsamkeit. Sich mit dem Barista im Café um die Ecke anzufreunden, wirkt dann wie ein Rettungsanker. Die Überraschung einer unerwarteten Begegnung, ein Leben, wo einen nur ein kleiner, ausgewählter Kreis von Menschen kennt, gibt der Stadt etwas Berauschendes. Aber hat man hier jemals das Gefühl von Zugehörigkeit oder von Heimat?

Wenn die dominante, den mächtigen Institutionen zugrunde liegende Kultur auf Geld, Eigennutz und Nutzwert basiert, wird das menschliche Bedürfnis nach einem Ort, an dem man Anerkennung, Würde und Respekt findet, umso intensiver. Für viele spielt die Herkunftsfamilie in diesem Zusammenhang die entscheidende Rolle, auch wenn unterschiedliche Werte zu Spannung und Streit am Essenstisch führen können. Das Dorf bietet einen anderen, umfassenderen Raum, an dem sich die Seele in einem Gefühl der Zugehörigkeit verankern kann. Das bedeutet Heimat. Ich vermute, dass der Würgegriff, in dem die Rechtspopulisten den Begriff Heimat vereinnahmt haben, ebenso viel zu tun hat mit diesem Bedürfnis nach Zugehörigkeit wie mit Fremdenfeindlichkeit und einer Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit.

Das Dorf als Heimat gewinnt zunehmend an Bedeutung in einer Welt des Klimawandels und der in seinem Gefolge kaskadenartig hereinbrechenden Krisen. Es hat die passende Größe, damit Menschen aufblühen können. Ich möchte etwas von der tiefergehenden Dynamik erkunden – in Bezug auf Gender, Würde und Liebe –, die in Betracht gezogen werden muss, wenn eine neue, zeitgemäße Art des Dorfes entstehen soll. Können wir das Dorf neu erfinden als eine experimentelle Mikrokultur, die der Schlüssel zu unserer Entfaltung wie auch unserem Überleben sein könnte?

Das Zuhause ist nicht die Heimat

Wenn das Dorf zur Sprache kommt, entsteht vor dem inneren Auge oft das Bild idyllischer Bauernhäuser, umgeben von sanft geschwungenen Hügeln voll grasender Kühe, wie man es etwa im Allgäu findet. Das ist eine mächtige kollektive Fantasie von Zugehörigkeit. Angesichts der gegenwärtigen rechtslastigen politischen Landschaft sehen sich oft auch progressive Politiker genötigt, Dirndl oder Trachtenjanker anzuziehen, wenn es um Fotos für ein Wahlplakat geht. Wenn wir aber nur ein bisschen tiefer schauen, merken wir, dass diese Art Landschaft für die meisten ein Traum ist, keine Wirklichkeit. Das Gefühl der Zugehörigkeit wurzelt viel mehr in der Familie.

Heimat ist der Ort, an dem das innere Selbst keine Spannung zur umgebenden sozialen Welt empfindet.

Heimat, das ist nicht der Plätzchenduft im Advent. Auf Eigenheim und Familie reduziert, wird das Gefühl der Zugehörigkeit so zerbrechlich und persönlich. Im Laufe des Wandels von der traditionellen zur modernen Gesellschaft wurde anstelle des Dorfes zunehmend die Kernfamilie zum Herzen der Gesellschaft, wodurch der Radius der Zugehörigkeit schrumpfte. Die meisten Menschen – inklusive vieler Wissenschaftler – blicken in die Vergangenheit, sehen dort Familien und gehen davon aus, dass die Familie damals dieselbe Bedeutung hatte wie in der Moderne. Doch das ist ein Irrtum. So übersehen wir das größere Gewebe, das Familien in Teilhabe und Gemeinschaft verknüpft. Dieses Gewebe würde ich als Heimat bezeichnen. Heimat ist der Ort, an dem das innere Selbst keine Spannung zur umgebenden sozialen Welt empfindet. Das Gegenteil von Entfremdung.

Heimat ist eine Ausdrucksform von Agape – allumfassende Liebe, Zugehörigkeit, Ganzheit. Zugehörigkeit beginnt sicherlich in der Familie: in den Armen der Mutter. Das Gefühl, gehalten zu werden, ist die Grundlage, auf der sich ein Kind gesund entwickeln kann. Sehr rasch aber muss das Kind lernen, dass auch andere Arme es halten können. Dann lernt es, darauf zu vertrauen, dass Mutter Erde es hält, und weiß sich angenommen von Freunden und Lehrern. Im Idealfall entsteht so ein wachsender Kreis von Unterstützung, Verbundenheit und Gegenseitigkeit. Ein Nehmen und Geben – und das nicht als ökonomisch berechnendes Nullsummenspiel, sondern als Ausdruck von Fürsorge. Werden Fürsorge und Unterstützung verweigert oder sind unerreichbar, ist das Ergebnis oft paradox: eine Spaltung zwischen einer idealisierten, perfekten Mutter und einer Wut auf Frauen; ein hartes, unverletzliches öffentliches Selbst, und direkt daneben eine Flut der Scham. Die Persönlichkeit entwickelt sich entweder aus Vertrauen oder aus Misstrauen. Beschränkt sich Heimat auf das Zuhause, wachsen zerbrechliche Menschen heran, weil sie von der Resonanz mit einem weiteren Horizont von Sinn und Beziehung abgeschnitten sind.

Agape und Eros in der Heimat

Wenn Heimat wirklich lebendig sein soll, kann sie sich nicht von der Familie vereinnahmen oder auf reine Konformität reduzieren lassen. Liebe im Sinne von Agape wird hier leicht zur Deformation, zu einer erzwungenen Konformität, bei der »Liebe« nur denen gilt, die sich konform verhalten. Ein Manko des traditionellen Dorflebens besteht ja darin, dass es erstickend wirkt. Viele junge Menschen wandern ab in die Städte, denn wenn jeder jeden kennt, bleibt wenig Raum für Individualität, Selbsterforschung und Abenteuer. Unablässiges Getratsche, Angst vor Unterschiedlichkeit und ein unterschwelliger Zwang zum Konsens machen das Dorfleben oft langweilig und repressiv zugleich.

Eros ist die kreative Kraft des Lebens – und nicht nur Erotik. Er ist der Ruf, das eigene umfassende Selbst in ein kreatives Mitwirken für andere und für die Welt einzubringen, die eigene Hoffnung und Leidenschaft für das Mögliche zu geben. Wird Heimat als reines Familiengefühl definiert, bleibt jungen Menschen meist nichts anderes übrig, als ihren Heimatort zu verlassen, um ihre Möglichkeiten zum kreativen Selbstausdruck zu finden. Soll das Dorf zu einem Ort sowohl der Erneuerung als auch der Zugehörigkeit werden, muss die Heimat auch den Eros erblühen lassen.

Um die Reibung zu erzeugen, durch die sich das Feuer kreativer Inspiration entzündet, muss unser Begriff von Heimat die Fähigkeit beinhalten, Unterschiedlichkeit zuzulassen und gleichzeitig Diversität mit Zugehörigkeit zusammenzuhalten. Und damit Kreativität auf neue Weise aufblühen kann, müssen im neuen Dorf die Strukturen von Agape und Eros, die häufig mit Genderrollen in Verbindung gebracht werden, befreit werden. Wie schon gesagt, ereignet sich die erste Erfahrung von Zugehörigkeit und Liebe in den Armen der Mutter. Doch wenn Agape nur mit Frauen in Verbindung gebracht wird, müssen die Männer sich an den Eros halten, um sich ihrer Autonomie zu versichern. Damit das Feuer der Kreativität brennen kann, müssen sowohl Eros als auch Agape in der Erfahrung von Heimat ihren Platz finden. Insbesondere dann, wenn das Dorf zum Inkubator für künftiges Potenzial werden soll, müssen die Gender-Zuordnungen – Agape weiblich, Eros männlich – durchbrochen werden.

Der Philosoph Daniel Görtz beschrieb kürzlich in einem Gespräch mit mir eine metamoderne Möglichkeit, die Gender-Dynamik sozialer Gruppen zu durchbrechen. Damit eine neue Kultur neue kreative Impulse freisetzen kann, müssen die alten Dynamiken zerbrechen. Er bemerkte, dass sich die sozial stabilsten Bindungen zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern bilden. Dabei handelt es sich nicht um eine Partnerbeziehung und auch nicht um eine Mutterbeziehung mit der Dyade Mutter-Sohn. Vielmehr ist die ältere Frau die verantwortungsvolle Führungspersönlichkeit, eher kreativ und tatkräftig als bloß mütterlich und fürsorglich, und sie hat Lebenserfahrung zu teilen. Von älteren Frauen geleiteten Teams aus jüngeren Männern können sich dann auch jüngere Frauen anschließen. Die jüngeren Frauen betrachten die ältere Frau als Vorbild – und die jüngeren Männer verleihen ihr Autorität. Für die jüngeren Männer attraktiv zu sein, bedeutet dann weniger sexuelle Attraktivität (die Erotik), sie besteht eher darin, so zu sein wie die ältere Frau (Eros), und das führt zu einer fundamentalen Veränderung, wie heterosexuelle Beziehungen zustande kommen. Schließlich, sagt Görtz, können auch ältere Männer in dieses soziale Geflecht aufgenommen werden, ohne dass diese automatisch einen Führungsanspruch anmelden. So können sie endlich Seiten von sich zeigen, die häufig verdeckt bleiben. Die Absicht bei dieser Form von Unternehmensführung oder Projektarbeit ist es, stabile neue Strukturen der Beziehung zwischen Frauen und Männern, Jungen und Alten zu schaffen, die Eros und Agape gleichermaßen freisetzen, sodass in diesem Dorf eine neue Kultur wachsen kann.

Entwicklung und Demokratie

Wenn ich vom Dorf spreche und damit nicht die Welt von Dirndl und Lederhosen meine, was meine ich dann? Solch ein Dorf könnte ein Stadtquartier sein, ein Apartmenthaus, ein Co-Working- oder Co-Living-Space oder irgendein Ort, an dem zwischen 60 und 150 Menschen in wechselseitiger Abhängigkeit leben. Das Dorf lebt von gemeinsam getragener Verantwortung für die grundlegenden Dinge des Lebens wie Nahrung und Behausung. Wichtiger noch, eine Gruppe von Menschen wird dann zum Dorf, wenn sie sich nicht nur aufeinander beziehen, sondern einander brauchen.

Die ideale Größe für so ein Dorf liegt bei etwa 150 Menschen. Ein Dorf ist damit offensichtlich größer als eine Familie, auch als eine umfassende Großfamilie. Die berühmte »150er-Regel«, die der Evolutionsanthropologe Richard Dunbar aufgestellt hat, besagt, dass ein Mensch bedeutsame zwischenmenschliche Beziehungen mit maximal 150 Personen aufrechterhalten kann. Jenseits dieser Größe bedarf es anderer Strukturen, damit eine Gruppe gut funktionieren kann. In einer Gemeinschaft von etwa 150 Menschen gibt es genügend unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten und Persönlichkeiten, damit jedes Gruppenmitglied Freunde und Lebenspartner findet. Diese Größe ermöglicht strukturell eine direkte Demokratie, sodass alltägliche Entscheidungen von denen getroffen werden, die davon unmittelbar betroffen sind.

In einer postmodernen Welt mag es schwer anzunehmen sein, dass wir einander brauchen.

Ich betrachte die direkte Demokratie als wesentlich für ein Zusammengehörigkeitsgefühl, sie verbindet die Unterschiede im Dorf in dynamischer, dialogischer Einheit. Eins der schwerwiegendsten Probleme in unserer Gesellschaft sind die sehr unterschiedlichen Fähigkeiten verschiedener Weltsichten und Entwicklungsstufen, Komplexität zu halten. Durch demokratische Teilhabe in Verbindung mit Werten, die die Erfahrung von Heimat fördern, kann jeder Mensch Würde und Respekt finden – seine Präferenz und Stimme sind von Bedeutung für das Ganze. Je mehr Möglichkeiten ein Mensch hat, sich an Entscheidungen von unmittelbarer Auswirkung auf ihr oder sein Leben zu beteiligen, desto intensiver wird die Erfahrung der Zugehörigkeit, die wiederum den Grund legt für weitergehende Entwicklung.

Der entscheidende Faktor dabei ist, dass wir einander brauchen. Deshalb würde ich nicht viele Ansätze des Co-Living als Dorf im hier beschriebenen Sinn ansehen. Zwar bestehen in vielen Communities wechselseitige Beziehungen, aber oft fühlen sich ihre Mitglieder nicht wirklich verpflichtet, das organische Ganze der Gruppe dauerhaft zu stützen und aufrechtzuerhalten. Für den Moment mag man Zugehörigkeit empfinden, aber wenn die Gefühle sich ändern, gibt es nicht mehr viele gute Gründe dazubleiben.

In einer postmodernen Welt mag es schwerfallen anzunehmen, dass wir einander brauchen. Aber angesichts des Klimawandels lässt sich die Tatsache nicht mehr leugnen: Wir brauchen einander. Im Augenblick leben die meisten von uns nicht in einem Dorf – und selbst wenn, kultivieren wir sein Potenzial zu einer lebendigen Bezogenheit nicht weiter. Wenn wir jedoch die Veränderungen, die auf uns zukommen, ernst nehmen, kann das neue Dorf – ob in der Stadt oder auf dem Land – eine Mikrokultur von Nachhaltigkeit und Verbundenheit bilden. Das Dorf der Zukunft kann zum Inkubator für Demokratie und Entwicklung werden, gehalten in der tiefen Umarmung der Zugehörigkeit – eben Heimat.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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