Kann Meditation uns verändern?

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Artikel
Publiziert am:

January 24, 2022

Mit:
Scott Barry Kaufman
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Von der Instant-Achtsamkeit zur tieferen Wirksamkeit

Achtsamkeit weckt viele Begehrlichkeiten. Wer sich heute etwas Gutes tun möchte, meditiert, um ausgeglichener und gesünder zu sein. Studien haben über Jahre dazu beigetragen, in Meditation geradezu ein Wundermittel zu sehen, das Stress kompensiert oder Zivilisationskrankheiten wie hohen Blutdruck oder gar Depressionen mildert. Die neuere Forschung legt allerdings nahe, dass die Wirkung insbesondere von kürzeren Übungseinheiten nicht nur positiver Natur ist. Das wirft die Frage auf: Kann Achtsamkeit uns eigentlich verändern? Und wenn ja, wie? 

Eine Studie der Universität Mannheim mit Yoga-Praktizierenden und Meditierenden lässt aufmerken, denn sie belegt: Das Wohlgefühl, welches viele Übende empfinden, resultiert nicht zuletzt daraus, dass ihre Praxis zu einer Selbstaufwertung führt und Überlegenheitsgefühle fördert. Selbst bei erfahrenen Übenden mit spiritueller Motivation konnten die Wissenschaftler diesen narzisstischen Ego-Boost beobachten. Für den Psychologen Scott Barry Kaufman ein Grund, nach einer »neuen Wissenschaft der Selbstverwirklichung« zu fragen, um das Spannungsfeld der Instrumentalisierung von Achtsamkeit in den Blick zu nehmen. »Wir haben am meisten davon, wenn wir spirituelle Praktiken nicht als Werkzeug nutzen, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen«, kritisiert Kaufman den vorherrschenden Achtsamkeitsfunktionalismus. 

Wir sollten spirituelle Praktiken nicht als Werkzeug nutzen.

Unter säkularen Vorzeichen scheint sich die Wirkung von Meditation als einer Praxis, die Mitgefühl wecken kann, nahezu in ihr Gegenteil zu verkehren. Während sie in spirituellen Traditionen, in denen das Üben auf Transzendenz, also ein Loslassen, ausgerichtet ist, das Ich durchlässiger werden lässt, wird sie in weltlichen Kontexten oft genutzt, um das Ich zu stärken, was das Ego natürlich füttert. Viele Achtsamkeitsprogramme sind sich dieser Problematik bereits bewusst. Und sie versuchen, ihr mit einer wohldosierten Übungsintensität zu begegnen. Kurse zur Mindfulness Based Stress Reduction etwa enden mit einem Achtsamkeitstag in Schweigen, ein Setting, das für viele herausfordernd ist, weil die lange Stille das Ego mit sich selbst konfrontiert und die Selbstbestätigung, die im Kontakt mit anderen entsteht, durchbricht. Das ReSource-Projekt des Max-Planck-Instituts, die bisher größte Längsschnittstudie zu Meditation, integrierte in sein neunmonatiges Übungsprogramm sogar drei Retreats. Wer schon einmal mehrere Tage auf dem Meditationskissen verbracht hat, weiß um die reinigende Wirkung dieser Intensität. Wenn der Körper schmerzt und die Gedanken rasen, stößt das Ich an seine Grenzen. Und vielleicht durchbricht es sie dann sogar, wenn man in der Übung verharrt. Womöglich liegt gerade in diesen Momenten, die sich der Verfügbarkeit entziehen, die eigentliche und befreiende Wirkung, die Achtsamkeit zugeschrieben wird. »Die Achtsamkeitspraxis als eine reflektierende Auseinandersetzung mit der Welt stellt den Menschen selbst anders in die Welt«, beschreibt Stefan Schmidt, der die Wirkung von Achtsamkeit bei Langzeitpraktizierenden erforscht, wie Meditation Selbstbilder grundlegend verändern kann.

Eine neue Studie aus den USA untermauert die Wirkung intensiver Praxis. Bei Retreat-Teilnehmenden, die acht Tage lang jeweils zehn Stunden meditiert hatten, zeigte sich eine Aktivierung des Immunsystems, die vor schweren Covid-Verläufen schützen könnte. Ein Effekt, der einen Einsatz fordert, weshalb das Szenario in den Augen der Wissenschaftler kaum alltagstauglich sei. Aber vielleicht ist genau diese Herausforderung der eigentliche Punkt. Bisher hat die Forschung mit einer Fokussierung auf kurze Übungsdauern den Weg für eine Instant-Achtsamkeit geebnet. Schon 15 Minuten Praxis sollen reichen, um sich nach einem stressigen Tag wieder von allen Sorgen zu befreien. Die neuen Erkenntnisse öffnen eine Tür in Neuland. Vielleicht hängt die heilende Wirkung der Meditation ja damit zusammen, dass man weniger mit sich selbst beschäftigt ist. Das könnte eine viel tiefere Revolution der Achtsamkeit sein. 

Author:
Dr. Nadja Rosmann
Teile diesen Artikel: