Tod mit Wiedergeburt
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July 19, 2018
Christian Salchegger lebt in Filzmoos, einem Bergort in den Alpen, und Anuradha Joshi am Fusse des Himalaja. Wir sprachen mit ihnen darüber, was wir von der traditionellen dörflichen Lebensweise lernen können und wie das in der Beziehung zum Land Gewachsene unsere Zukunft trägt – womöglich auch in der Stadt.
evolve: Anuradha, du lebst am Fuße des Himalaja, und Christian, du lebst in den österreichischen Alpen. Wie erfahrt ihr das Leben auf dem Dorf? Gibt es eine besondere Weisheit, die ihr in dieser Lebensweise erlebt?
Anuradha Joshi: Wir begannen vor vielen Jahren mit dem Aufbau von kleinen Schulen in Dörfern, wo es bisher keine Schulen gab. Am Anfang dachten wir als Menschen, die aus der Stadt kommen, dass wir eine positive Veränderung auf den Weg bringen würden, kamen aber letztendlich aus einer bevormundenden Haltung. Ich hatte nicht erwartet, dass ich so viel von den Leuten im Dorf lernen würde, hauptsächlich durch Gespräche mit meinen Freundinnen. Diese Gespräche veränderten meine Perspektive auf Bildung und einen urbanen Lebensstil. Zu Beginn stellte mir besonders eine Frau, die ich heute als eine Art Mentorin betrachte, ganz einfache Fragen. Sie brachte mich dazu, meine vorgefasste Meinung über dörfliche Rückständigkeit, Moderne und Bildung zu überprüfen. Sie lehrte mich den Unterschied zwischen Alphabetisierung und Bildung. Bildung ist viel mehr als nur die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können.
Sie erklärte mir auch, wie man Prioritäten setzt, wie man das Essenzielle von Unwichtigem unterscheidet. »Was ist das Wichtigste?«, fragte sie mich einmal. »Ist es nicht die Nahrung? Wenn du hungrig bist, kannst du das Geld nicht essen, das du verdient hast.« So wurde die Nahrung und wie wir Nahrungsmittel anbauen zum Mittelpunkt unseres Gesprächs. Sie sagte: »Du tust mir leid. Dein Großvater musste wohl sein Land auf dem Dorf verkaufen und in die nächste Stadt gehen. Und deshalb musstest du studieren, dir Arbeit suchen und Geld verdienen. Mit dem Geld hast du dir Nahrungsmittel gekauft – diejenigen, die wir von unserer Ernte nicht wollten und an die Händler verkauft haben. Und wenn du noch etwas Geld übrig hattest, gingst du zum Doktor, weil deine Nahrung schlechte Qualität hatte und dich krankgemacht hat.« Sie sagte: »Sieh mich an, ich bin eine ungebildete Frau, aber ich kann mit der Arbeit auf diesem kleinen Feld acht Leute ernähren. Ich habe eine direkte Beziehung zum grundlegendsten Bedürfnis meines Körpers. Ich habe eine Herzensbeziehung zum Roti, dem indischen Brot.«
Wir müssen darauf achten, dass wir selber unsere »Erdung« nie verlieren, denn das ist das Geheimnis eines Dorfes.
Christian Salchegger
e: Christian, wenn du diese Geschichte von Anuradha, ihren Freunden und ihren Erlebnissen hörst, wie antwortest du darauf?
Christian Salchegger: Das ist sehr interessant, denn vor 60, 70 Jahren war es hier in Filzmoos noch genauso. Die Bauern machten alles selbst, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Es war sehr hart, hier zu leben und zu arbeiten, das Tal war im Winter von der Außenwelt für Monate abgeschnitten. Der Boden in unserem Tal ist karg, das Klima durch die Höhenlage (1060 Meter über dem Meer) rau. Die Bewirtschaftung war extrem schwierig, aber die Menschen kannten nichts anderes und waren an die Extreme angepasst. Sie liebten ihre Heimat, weil sie ihre gesamte Energie für das Überleben ihrer Familien und ihrer Tiere aufwenden mussten – da war der Glaube an den »Herrgott« essenziell! Die wenige Zeit, die für Freizeit, Feste, Hobbys oder musische Aktivitäten verblieb, wurde umso freudiger und intensiver gelebt. Ich verstehe also die Leute im Himalaja, von denen Anuradha erzählt, sehr gut.
e: Ich möchte euch beiden eine Frage stellen. Ihr sprecht davon, dass die Menschen auf dem Land seit Tausenden oder Hunderten von Jahren tief verbunden mit den grundlegenden Aspekten der Gesellschaft leben, also mit Nahrungsmitteln und Ackerbau. In diesem Gespräch sind wir per Internet verbunden, wir sprechen in einer globalen Welt, in der Städte eine dominante Rolle spielen. Was können wir als Menschheit vom Dorfleben lernen?
AJ: Die Leute hier sagen uns, dass bei der Landwirtschaft und einem selbstversorgten Leben das Gemeinschaftsgefühl und der Familienzusammenhalt besonders wichtig sind. Als wir 1989 hierherkamen, gab es viele Großfamilien, d.h. viele Brüder, ihre Frauen und Kinder lebten zusammen in einem Haus. Sie bestellten gemeinsam das Land und hatten eine tiefe Beziehung zur Landschaft und zu den Tieren, die ihnen bei der Arbeit halfen, eine wertschätzende Beziehung. Als die Großfamilien in Kleinfamilien auseinanderbrachen, entstand viel Armut. Die älteren Frauen erinnern sich: Unser Leben veränderte sich grundlegend, als das Wort »gut« in unsere Gespräche kam. Jeder hat eine andere Definition für das, was »gut« ist. Was für dich gut ist, ist für mich möglicherweise nicht gut. Und was wir für gut erachten, verändert sich auch ständig. Früher wussten wir, wie wir ausreichend Nahrung, ausreichende Kleidung und ein Dach über dem Kopf bekommen konnten. Unsere Bedürfnisse waren einfach. Wir arbeiteten zusammen. Es gab auch Konflikte, aber die Arbeit wurde geteilt. Die Frauen halfen einander bei Geburten oder wenn jemand krank oder alt wurde. Wir konnten auch abwechselnd auf unsere Kinder aufpassen, um unsere Mutter zu besuchen oder zum Markt zu gehen. Großfamilien sind wohlhabende Familien.
Aber das alles änderte sich, als Schulen eingerichtet wurden und die Menschen nach einem städtischen Leben streben ließen. Jede Familie wollte ihre Kinder auf eine »gute« Schule schicken und Frauen wollten »gute« Kleider tragen und »gute« Lebensmittel kaufen. Deshalb brachen die Großfamilien auseinander, weil innerhalb der Familien Konflikte aufkamen. Die Familien wollten ihre Kinder auf eine bessere Schule schicken, die mehr Geld kostete. Sie suchten Arbeit und sahen sich als rückständig und dachten, sie seien rückständig, weil sie auf dem Dorf lebten. Das Fernsehen zeigte ihnen Bilder eines »guten« Zuhauses, das sich von ihrem eigenen unterschied. In Schulbüchern sah man Bilder eines »guten« Heimes, was z.B. hieß, dass Frauen stehend kochten. In den Dörfern sitzen sie heute noch im großen Raum des Dorfhauses, der gleichzeitig die Küche ist. Jeder hilft bei der Essenszubereitung, sie sprechen miteinander und helfen einander. Sie waren miteinander verbunden.
e: Christian, eure Dorfwirklichkeit hat sich in den letzten 50 Jahren auch dramatisch verändert von einem Bauerndorf zu einem Dorf, das heute Teil der Tourismusindustrie in Österreich geworden ist. Aber es ist immer noch ein Dorf, und das ist ein Grund dafür, dass Leute aus den Städten hierherkommen. Was können wir als Menschheit von dem lernen, was wir Dorf nennen?
CS: Wir sind ein Touristendorf, aber Gott sei Dank noch keine Tourismusindustrie! Unser Dorf hat sich noch einen gewissen Charme und die Natürlichkeit eines kleinen beschaulichen Bergdorfs bewahren können und das erdet die Menschen. Sogenannte »Sommerfrischler« kamen bereits in den 1920er Jahren aus den Städten in unser Dorf. Mit dem Bau der ersten kleinen Skilifte in den 1950er Jahren begann auch der Wintertourismus und so kam mehr Geld ins Dorf und damit auch eine positive Energie und eine gewisse Aufbruchsstimmung. Die Leute konnten neue, moderne Kleidung kaufen, Häuser renovieren oder gar ein neues bauen, Erntemaschinen und vereinzelt sogar Autos konnten angeschafft werden. Neue Straßen wurden gebaut und der elektrische Strom wurde an jede Liegenschaft angeschlossen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden Fernsehen und Telefon zum Standard. Alle Bauern hörten auf, Getreide oder Gemüse anzubauen, weil es sich auf den steinigen Böden nicht mehr rentierte, sie betrieben nur noch Forst- und Viehwirtschaft. Mitte der 1990er Jahre wurden die Nahrungsmittel immer künstlicher und die alten gesunden Lebensmittel verschwanden. Seit einigen Jahren besinnen sich immer mehr Menschen in unserem Dorf zurück und verwenden wieder »Lebensmittel« anstatt Nahrungsmittel und viele haben wieder einen eigenen Garten. Einige Bauern fangen sogar wieder an, Getreide und Kartoffeln selber anzubauen, Rohmilch selber zu verarbeiten und zu veredeln. Unsere Ressourcen (Trinkwasser, Bauplätze, Wälder, Wiesen und Weiden) sind begrenzt, wir müssen deshalb sehr auf die Entwicklung unseres Dorfes aufpassen. Wir müssen darauf achten, dass wir selber unsere »Erdung« nie verlieren, denn das ist das Geheimnis eines Dorfes.
Wenn man in den Bergen lebt, wird man ein anderer Mensch.
Anuradha Joshi
e: Die Orte, an denen ihr lebt, sind umgeben von kraftvoller Natur und Bergen. Was heißt es, in dieser Umgebung zu leben und nicht bloß als Tourist hierherzukommen, sondern als Dorfbewohner Teil dieser Bergwelt zu sein?
CS: Es ist etwas anderes, hier geboren zu sein oder hier die Ferien zu verbringen. Wenn man hier geboren wird und hier aufwächst, erfährt man meistens auch ein gewisses »Heimatbewusstsein«. Es hängt zum einen mit den Vorfahren zusammen, weil diese meistens auch schon hier lebten, es hängt aber auch mit dem Idealismus zusammen, den jeder Einzelne in die Vereine einbringt und den es braucht, um ein Dorf lebenswert zu machen. Und es hängt auch mit den extremen Wettersituationen zusammen! Enorme Schneefälle und Schneestürme, Hagelschauer und Unwetter, bei denen Bäche über die Ufer treten, machen einen der Natur gegenüber klein und ehrfürchtig.
AJ: Wenn man in den Bergen lebt, wird man ein anderer Mensch. Man muss sich viel mehr auf sich selbst verlassen. Das Leben ist einfacher, aber die Berge machen das Leben auch einsamer, weil es keine Transportmittel gibt und man die Orte nur zu Fuß erreichen kann. Wenn man Felder bestellt, hat man einen langen Fußweg. Wenn man auf Regen wartet, dann hofft man darauf und betet zu den Göttern. Nicht in jedem Dorf gibt es ein Bewässerungssystem. Ich möchte damit sagen, dass sich die Menschen im Dorf mehr auf sich selbst und die anderen Dorfbewohner – und natürlich auch auf das Universum und eine göttliche Kraft – verlassen müssen.
e: Zum Dorfleben gehören auch die Traditionen. Welche Rolle spielen sie für euch?
CS: Viele Einheimische hatten die Möglichkeit, hinaus in die Welt zu gehen, um dort zu arbeiten. Dadurch erkennt man auf einmal viel bewusster die eigene Kultur, damit meine ich die Sprache (Dialekt), die bodenständige Bekleidung (Tracht), die Musik, die aus dem Volk kommt, die jahreszeitlichen Bräuche, Gewohnheiten und Traditionen, ja selbst die eigene Religion. All das gibt den Menschen Struktur und Gestalt!
Alle Bauerngehöfte in unserem Tal bestehen schon seit über 500 Jahren. Sie wurden ausschließlich aus den Materialien, die die Natur dafür bereitstellte, also Stein und Holz, errichtet. Immer in einem »goldenen Schnitt«, damit meine ich, dass die Gebäude in der Proportion immer dem Betrachter und der umliegenden Natur angepasst waren. Dass solche alten Gebäude irgendwann auch erneuert werden müssen, ist normal, dabei kommt es aber darauf an, mit welcher Absicht man das tut. Einige haben die alten Bausubstanzen ohne Dank und Achtung gegenüber den Vorfahren dem Erdboden gleichgemacht. Die neu errichteten Häuser brachten den Besitzern kein Glück, denn es fehlte der Segen der Ahnen. Einen Hof vererbt zu bekommen, bedeutet vor allem auch, die Arbeit und den Einsatz seiner Vorfahren zu achten und zu ehren. Auch das ist Tradition und bringt Segen.
AJ: Ja, vor allem die Musik ist sehr wichtig, auch für die Arbeit. Wenn in unseren Dörfern der Reis auf ein anderes Feld mit mehr Wasser umgesetzt werden muss, gibt es spezielle Lieder. Dieses Umsetzen der Reissetzlinge wird als Ropni bezeichnet und ist eine ermüdende und monotone Arbeit. Deshalb gibt es für diese Arbeit bestimmte Lieder und Trommelstücke. Die Musik nimmt diesen anstrengenden landwirtschaftlichen Arbeiten die Monotonie und Erschöpfung. So gehen Arbeit und Gesang Hand in Hand.
Einen Hof vererbt zu bekommen, bedeutet vor allem auch, die Arbeit und den Einsatz seiner Vorfahren zu achten und zu ehren.
Christian Salchegger
e: Berge sind nicht nur Berge. Es gibt auch eine tiefe mythologische Dimension, die Teil der Tradition auf dem Lande ist. Wie schätzt ihr die Wichtigkeit dieser Mythen und der tieferen, spirituellen Verbindung zum Ort ein?
AJ: Wenn man mitten in der Natur ist, kann man so viel lernen. Man ist vollkommen von der Natur umgeben. Diese reine Koexistenz in der Natur mit ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen Lebensformen; die wechselseitige Ergänzung und Bereicherung ist die Essenz der spirituellen Weisheit. Den Ort und die Stille vor dem Hintergrund der Mythen und der Präsenz Shivas kann man erfahren, auch wenn man nicht darüber spricht. Es ist eine Schwingung, es ist in der Luft, die dich umgibt. Deshalb kommen so viele Leute hierher, um zu meditieren. Es gibt einen Grund, weshalb Leute, die sich selbst erkennen wollen, hierherkommen. Für spirituelle Suchende ist dieser Ort seit Tausenden von Jahren eine Inspirationsquelle.
CS: Unser Ort war immer schon ein »Ausatmungsort«, das heißt, es gibt viele spezifische Plätze, die sehr gute Energie aussenden. Alle diese guten Plätze geben dem gesamten Tal eine wohltuende Atmosphäre. Dies wussten bereits unsere keltischen Vorfahren zu schätzen, die hier vor mehr als zweitausend Jahren Kultplätze hatten. Auch viele Gewässer-, Berg- und Flurbezeichnungen stammen noch aus dieser Zeit.
Die wechselseitige Ergänzung und Bereicherung ist die Essenz der spirituellen Weisheit.
Anuradha Joshi
Auf so einem besonderen Kraftplatz steht auch unsere Wallfahrtskirche zum »Filzmooser Kindl«. Dieses Jesuskind im Strahlenkranz über dem Altar ist die sichtbar gemachte Manifestation aller wohltuenden Energien, die in und über diesem Tal herrschen. Die Zusammenhänge aus den mythischen Überlieferungen und den Erfahrungen der Gegenwart werden zusehends verständlicher, weil die Dorfbewohner wieder beginnen, ganzheitlich zu spüren und zu denken.
e: Gibt es etwas, das wir vom Dorfleben lernen können, um die Lebensräume der Zukunft zu gestalten?
AJ: Die Wichtigkeit, unsere Nahrungsmittel anzubauen, unser Land und unsere Arbeit auf dem Land zu respektieren, unser Leben zu vereinfachen und die gegenseitige Ergänzung, die wechselseitige Bereicherung, die Harmonie und friedliche Koexistenz zu verstehen, sind Haltungen, die wir vom Dorfleben lernen können. Die Erde, die Pflanzen und Tiere haben an diesem Kreislauf der Harmonie teil. Wir müssen von der Natur lernen.
Als Menschen sind wir die einzige Spezies, die aus diesem Kreis und der Kraft der Gemeinschaft herausgefallen ist. Wir können wieder die Freude erfahren, wenn wir alle von unserem Handeln profitieren. Denn wir werden nur glücklich sein, wenn alle um uns herum auch glücklich sind. Leider hört sich das alles sehr klischeehaft an, aber es kann durch eine andere Form von erweiterter Bildung möglich werden, die nicht nur Lesen und Schreiben oder Fähigkeiten zum Lebensunterhalt vermittelt. Stattdessen können wir auch von der positiven Kraft des kollektiven Bewusstseins des Menschen lernen.
CS: Bei uns gibt es ein Sprichwort und das heißt: Je größer der Traktor des Bauern, desto größer wird der Abstand zum Boden, den er bewirtschaftet. Er verliert den Blick auf die kleinen Dinge, die am Boden und um ihn herum passieren. Dörfer sind kleine Einheiten – es gibt viele Dörfer, aber jedes Dorf ist etwas Besonderes. Kleine Einheiten sind flexibler und auch gesünder. Die Natur hat auch viele kleine Einheiten, die sich zusammensetzen aus jeweils verschiedener Tierwelt, Pflanzenwelt, Geologie, usw. und alles steht in einem Dialog und Austausch. Man spricht hier von Artenvielfalt, von Biodiversität. Das Gegenteil sind Monokultur und Massenproduktion, und deren Auswirkungen sind fatal und hinlänglich bekannt!
Ich glaube, dass die Lebensräume in den Städten der Zukunft aus vielen kleineren Einheiten bestehen sollen. Kleinere, individuell an die Gegebenheiten angepasste Bau- und Wohnkultur, angepasste Infrastruktur, usw. die die Menschen, die dort leben wollen, nach Möglichkeit selber mitgestalten können. Dazwischen immer wieder viel Natur zum Anfassen und Spielen!
Das Gespräch führte Thomas Steininger.