Wer schiesst eigentlich das Tor?

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Essay
Publiziert am:

October 29, 2014

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Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
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Über Teamgeist, Holakratie und das Einssein mit dem Leben

Laut einer aktuellen Studie sind selbst die Manager weitgehend unzufrieden mit dem Status quo in Unternehmen. Liegt eine Lösung dafür vielleicht auch in einer neuen Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern? Und was können uns die deutsche Fußballnationalmannschaft und alternative Unternehmensmodelle darüber lehren? Ein Streifzug, der von der Führungskultur geradewegs in die Frage mündet, wer wir als Menschen sein wollen.

In den Diskussionen um neue Formen von Leadership geht es – wen wundert es – meist um die Führenden. Aber viele erkennen heute, dass dieser Fokus zu kurz greift. Denn er verliert leicht diejenigen aus den Augen, die geführt werden. In Wirklichkeit stellt sich eine noch grundlegendere Frage: Wie könnte eine fundamental neue Beziehung zwischen Führenden und Geführten – zwischen Menschen, die gemeinsam etwas erreichen möchten – aussehen?

Partnerschaftliche Führung

Eine mögliche Antwort auf diese Frage kommt von „unseren“ Weltmeistern: Schon vor dem Finalsieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Brasilien wurde das Team mit Lob überhäuft. Ein immer wieder auftauchendes Motiv dabei war die Beobachtung, dass mit Deutschland ein Team, ein Wir, gegen die Mannschaften mit den Superstars gewonnen hatte. Der Teamgeist des Wir habe über große Egos triumphiert.
Gerade auch Menschen, die im Bereich der Mitarbeiterführung arbeiten und das Ende von starren Hierarchien herbeisehnen, erkannten im deutschen Team einen neuen Führungsstil, der diesen Zusammenhalt ermöglicht hatte. In Jogi Löw sahen viele einen Trainer, der nicht autoritär durchregiert, sondern vor allem auf die Förderung des Teamgeistes und eine partnerschaftliche Beziehung mit seinen Spielern setzt. In der Tat scheint Löw einen Weg gefunden zu haben, seine Spieler auch an strategischen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Ein Beispiel: Ihm wird nachgesagt, dass er Standardsituationen wie Eckbälle und Freistöße nie besonders trainieren lassen wollte. Aber einige seiner Spieler machten den Vorschlag, mehr Zeit damit zu verbringen, und Löw nahm diese Idee auf, und siehe da, sechs Tore der Mannschaft während der WM fielen nach Standardsituationen.
Diese partnerschaftliche Haltung und der gemeinsame Fokus auf ein Ziel schienen sich dann auch im Spiel der Mannschaft zu zeigen. Nach dem historischen 7:1 Sieg der deutschen Mannschaft gegen Brasilien im Halbfinale beschrieb beispielsweise der Leadership-Visionär Otto Scharmer das Spiel der deutschen Mannschaft so: „Was hat also den Erfolg der deutschen Mannschaft ausgemacht? Es ist eine Philosophie, die voraussetzt, dass alle Spieler aus einem gemeinsamen Gewahrsein des sich entwickelnden Ganzen handeln. Jeder muss sich allem, was auf dem Spielfeld geschieht, gewahr sein – die Veränderung der Positionen der Spieler, die sich öffnenden Räume zwischen den Mitspielern und den gegnerischen Spielern. Dieses gemeinsame Gewahrsein auf das sich entwickelnde Ganze erlaubte ihnen, den Ball schneller abzuspielen als es das gegnerische Team überhaupt vorhersehen oder darauf reagieren konnte.“

„Holacracy erlaubt es Mitarbeitern, wie Unternehmer zu agieren und ihre Arbeit selbst zu steuern“
Tony Hsieh


Nach der erfolgreichen WM wurde diese offensichtlich neue Führungskultur mit großem Interesse weiter analysiert. Viele Menschen schienen darin einen Hoffnungsschimmer gegenüber dem zermürbenden Alltag in vielen Unternehmen und Organisationen zu sehen. Tatsächlich scheint es eine große Sehnsucht nach neuen Formen der Führung zu geben. Eine kürzlich veröffentlichte Studie unter 400 deutschen Führungskräften bilanziert: „Dass ein Management, das aus der Hierarchie heraus steuert, noch Zukunft hat, daran glauben die allermeisten nicht mehr. Stattdessen betonen die befragten Führungskräfte, dass das Arbeiten in beweglichen Führungsstrukturen immer wichtiger werde. Als favorisiertes Zukunftsmodell sehen die Manager sich selbst organisierende Netzwerke an, mit denen man eine kollektive Intelligenz anzapfen kann, um so Innovationen hervorzubringen.“

Sie haben die Hierarchien abgeschafft!

Anfang des Jahres gab der amerikanische Online-Modeversand Zappos mit immerhin 1500 Mitarbeitern bekannt, das neue Holocracy-Managementmodell zu übernehmen. „Zappos sagt den Chefs Goodbye“ titelte etwa die Washington Post, und renommierte Organe wie Forbes, Fast Company oder Fortune bemühten sich zu verstehen, wie Führung ohne Bosse funktionieren soll. „Holacracy erlaubt es Mitarbeitern, wie Unternehmer zu agieren und ihre Arbeit selbst zu steuern“, erklärt Zappos-CEO Tony Hsieh im Firmenblog.
Der Ansatz der Holakratie, der von dem Unternehmer Brian Johnson konzipiert wurde, leitet sich aus dem Modell der Soziokratie ab, das maßgeblich von dem Reformpädagogen Kees Boeke begründet wurde. Es beruht kurz gesagt weder auf starren Hierarchien noch auf egalitärem Konsens, sondern auf Konsent. Entscheidungen dürfen nur getroffen werden, wenn niemand der Anwesenden einen schwerwiegenden und begründeten Einwand dagegen hat. Ein weiterer Aspekt von Holakratie ist die Organisation in selbstorganisierenden Kreisen statt in einem hierarchisch angeordneten „Organigramm“. Jeder Kreis hat bestimmte Aufgaben und die verschiedenen Kreise sind durch „Repräsentanten“ miteinander verbunden. Zudem hat jeder Mitarbeiter eine bestimmte Rolle in der Organisation, die er weitgehend selbstverantwortlich ausfüllen kann. Dies bedeutet nicht nur eine strukturelle Neuordnung, sondern auch eine vollkommen neue Beziehung zwischen Führenden und Geführten, die im Rahmen der Holakratie als „verteilte Autorität“  beschrieben wird.
„Als Erstes wird die Verantwortlichkeit verteilt“, erläutert John Brun von Zappos. „Dadurch kann jeder Mitarbeiter verstehen, was im Kontext der Organisation von ihr oder ihm erwartet wird. Danach wird die Autorität verteilt, denn jeder Inhaber einer Rolle kann bestimmen, welche Entscheidungen den Verantwortlichkeiten dieser Rolle am besten gerecht werden. Und wenn Verantwortlichkeit und Autorität zusammengenommen werden, dann entsteht etwas sehr Kraftvolles: eine verteilte Führung“, so der Unternehmer. Das bedeutet nicht nur für die Führenden eine große Umstellung, sondern auch für die Mitarbeiter selbst, die so mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortung erhalten.

„Die Führungskraft wird zu einer Kraft, die nicht auf eine Person beschränkt ist, sondern ko-kreiert wird.“
Wendelin Küpers


Neben dem eigenen Selbstverständnis und der Beziehung zwischen Führenden und Geführten verändert sich dabei auch die grundlegende Konzeption dessen, was wir „Führung“ nennen. Wendelin Küpers, Professor für Leadership an der privaten Karlshochschule, beschreibt es so: „Die Führungskraft wird zu einer Kraft, die nicht auf eine Person beschränkt ist, sondern ko-kreiert wird. Ko-Kreation bedeutet das gemeinsame Hervorbringens von dem, was die Situation, das Problem oder die Entscheidung erfordert. Dies geht noch weiter als eine partizipative Führung, wobei der Führende etwas Macht abgibt, sondern es ist von vornherein so angelegt, dass die Beteiligten Entscheidungen gemeinsam hervorbringen.“ Die Führungskraft wird also aus den Händen bestimmter Menschen genommen, die bisher als die Träger der Führung galten, und wird in das Feld einer dynamischen Gruppe gelegt, die die Führung intersubjektiv „hervorbringt“. Darin wird aber auch die Trennung zwischen Führenden und Geführten durchbrochen, die für beide Seiten in den vorherrschenden Führungskulturen zum Selbstbild gehört. Solch eine Veränderung erfordert also ein Loslassen bisheriger Vorstellungen von Führung und Organisation, die radikaler kaum sein könnte. Aber was ist die Voraussetzung für solch einen Umbruch?

Was will die Organisation?  

Ein Modell, das die Veränderung der Beziehung zwischen Führenden und Geführten anschaulich beschreibt, sind die vier Stufen auf der „Evolutionsuhr“ der Unternehmensentwicklung „Growth River“, die vom Berater Richard Hawkes entwickelt wurde. Die erste Stufe ist ein „Verbund von Individualisten“ mit flacher und loser Führungsstruktur, gefolgt von der Stufe der „direktiven Führung“, die hierarchisch strukturiert ist. In der dritten Stufe der „ineinandergreifenden Rollen und Strategien“ erhalten Mitarbeiter eine weitgehende Selbstständigkeit und Verantwortung im Bereich ihrer Rolle in der Organisation. Auf der vierten Stufe der „sich selbst entwickelnden Teams“ öffnet sich der Blick über Rollen, Strategien und funktionalen Zielen hinaus auf den Sinn und das Wesen der Organisation. Der oder die Führende beginnt zu spüren, wohin die Organisation sich entwickeln kann und „möchte“. Hier wird also der Führende zum Geführten, er oder sie „folgt den Bedürfnissen und Potenzialen“ der Organisation. Hawkes fasst es so zusammen: „Gute Führende müssen sich auch führen lassen. Und um geführt zu werden, muss man auch führen können.“
Es entsteht eine flexiblere Beziehung zwischen Führenden und Geführten, die es ermöglicht, dass je nach Thema, Bereich oder Entscheidung andere die Führung übernehmen und andere folgen. Wenn z. B. eine Marketingfrage ansteht, übernimmt derjenige, der diese Rolle ausfüllt, die Führung und alle anderen (einschließlich des CEOs) folgen und sind als Beitragende in dem Prozess präsent. Und bei einer anderen Zuständigkeit verändert sich die Beziehung wieder entsprechend. Hawkes beschreibt diese Flexibilität als „die Fähigkeit, mit der Welt zu tanzen“. Diese Flexibilität vermeidet die rigiden Machthierarchien, aber ebenso die zähen Prozesse von Konsensbildung, weil in jeder neuen Frage, Aufgabe oder Entscheidung eine neue natürliche Hierarchie emergiert, je nach Zusammensetzung des Teams und den Zuständigkeiten und Kompetenzen.

„Gute Führende müssen sich auch führen lassen. Und um geführt zu werden, muss man auch führen können.“
Richard Hawkes


Vor diesem Hintergrund besteht die Rolle des CEOs vor allem darin, den Kontext der Führung zu setzen. Das bedeutet, dass Motivationen und Werte eines Unternehmensleiters ganz wesentlich bestimmten, welche Motivationen und Werte im System lebendig sein können. Wenn diese Werte von einer lebendigen Beziehung zum Sinn der Organisation getragen werden, dann ist es für alle Mitarbeiter möglich, ebenfalls eine eigene Beziehung zum Sinn der Organisation zu entwickeln.
Dieser Sinn ist aber nichts Statisches, sondern selbst ein Prozess der Entfaltung. Eine bewusste Beziehung zu diesem Prozess bestimmt dann auch die Entscheidungsfindung. In der Holakratie spricht man beispielsweise von „integrativer Entscheidungsfindung“, bei der versucht wird, alle relevanten Perspektiven auf das betreffende Thema zu integrieren und so zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob die Beteiligten „für“ oder „gegen“ einen Vorschlag sind, sondern ob es Einwände gibt, dass ein Vorschlag dem Ganzen der Organisation schaden würde. So wird versucht, den Fokus von „egozentrischen“ Motivationen auf einen „transpersonalen“ Raum zu lenken, in dem die Entscheidung getroffen wird, die am ehesten dem gemeinsamen Ziel dient. Brian Robertson beschreibt diesen Prozess so: „Mit integrativer Entscheidungsfindung fühlt es sich oft so an, als ob die Menschen, die in dem Prozess involviert sind, nicht wirklich per se Entscheidungen treffen. Sie halten einen Raum und lauschen der Realität, und erlauben der kreativen Kraft der Evolution selbst die Entscheidungen zu treffen – durch sie, nicht von ihnen.“
Diese Form der Entscheidungsfindung hat natürlich weitgehende Implikationen auf Aspekte wie Strategie und Planung, denn wie Wendelin Küpers beschreibt, ist solch ein „gemeinsames Hervorbringen“ in seiner Dynamik unabsehbar. Das gemeinsame Tun entsteht also aus dem Prozess, und so formt sich auch die Beziehung zwischen Führenden und Geführten flexibel in diesem Prozess.

Keine Trennung

Unternehmensmodelle wie Holakratie und Growth River versuchen Systeme und Strukturen in Organisationen zu etablieren, die solche Erweiterungen der Führungskultur möglich machen. Praxisberichte aus derart arbeitenden Unternehmen zeigen, wie befreiend neue Strukturen sein können, die den Mitarbeitern mehr Verantwortung, Wertschätzung, Freiraum und Zugang zum Sinn des Unternehmens ermöglichen. Aber klar wird auch, dass es bei allen Beteiligten, Führenden und Geführten – oder ko-kreativen Partnern, was vielleicht die angemessenere Bezeichnung ist –, eine Transformation des Bewusstseins erfordert, um diesen Wandel nicht nur systemisch oder instrumentell, sondern auch existenziell zu vollziehen. Sich einem gemeinsamen Prozess mit anderen Menschen zu öffnen und diesen eingebettet in die Entfaltung der Intention einer wesenhaften Organisation zu erleben, erfordert ein Durchbrechen der existenziellen Getrenntheit, die unsere Wirtschaft, unsere Organisationen, ja unsere ganze Kultur kennzeichnet. Wir müssen uns miteinander und dem Leben verbunden erfahren, um uns authentisch auf einen ko-kreativen Prozess einzulassen, in dem neue Potenziale emergieren können. Hier zeigt sich auch, welche Rolle Spiritualität in einer neuen Führungskultur spielen kann: nicht als persönliches Beiwerk oder im Sinne von Achtsamkeit zur Stressprophylaxe, sondern als Raum der Einübung von Einheit mit dem Leben, um die innere Offenheit, Freiheit und Flexibilität zu entwickeln, die uns erst in die Lage versetzen, bewusste ko-kreative Prozesse zu gestalten.
Zu dieser Möglichkeit gibt es zwei Zugänge: Das eine sind die Mitarbeiter in Organisationen, die aus innerer Sehnsucht einen Weg gehen, um ihr Bewusstsein zu entwickeln. Das andere sind die Organisationen und ihre Führungspersonen, die jene Strukturen etablieren, in denen bewusste Prozesse die Grundlage werden, um ein Unternehmen in seine Bestimmung zu entfalten. Wenn sich beides verbindet, entstehen Unternehmen, die nicht nur Ausdruck neuer Formen der Zusammenarbeit und des Wirtschaftens sind, sondern auch eines anderen Menschseins.

Author:
Mike Kauschke
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