Intuition in einer globalisierten Welt
Unsere moderne Welt ist vielschichtig und komplex. Kein Wunder, dass uns manchmal nach einem einfachen Leben sehnen, geprägt von unmittelbarer Schönheit und intuitiver Lebendigkeit. Gibt es in einer globalisierten Welt noch Platz für menschliche Intuition?
Tom Steininger
In den letzten Monaten habe ich viel Zeit mit Gorillas verbracht. Das Internet und YouTube erlauben uns, zumindest virtuell in die fast unberührte Welt der Gorillas einzutauchen. Einige Aufnahmen der Berggorillas im östlichen Afrika haben mich wirklich überrascht. Neben unbefangener Geselligkeit sah ich bei diesen uns so nahen Verwandten viel Zärtlichkeit, ja „Menschlichkeit“. In einer Filmsequenz hält eine Gorillamutter ihr Baby in beiden Händen. Mutter und Kind schauen sich minutenlang in die Augen. Es war ein langer „beseelter“, ja „menschlicher“ Blickkontakt, der mich noch lange beschäftigte. Andere Szenen zeigten die überraschende Weisheit oder auch den Witz dieser Tiere. Die Berggorillas leben in einer selbstverständlichen Einheit mit sich und ihrer Umgebung. Können wir vom intuitiven Leben der Berggorillas vielleicht etwas lernen? Ihre Unbekümmertheit und ihr spontanes Leben berührten mich. Aber wir haben die überschaubaren Berge der Gorillas seit langem verlassen. Welche Rolle kann in unserer hochkomplexen Welt die intuitive Lebendigkeit spielen, die uns diese nahen Verwandten vorleben? Vielleicht hilft ein Gang durch unsere gemeinsame Geschichte, um zu sehen, welche Rolle die Intuition für uns Menschen in einer globalen Welt spielen kann.
Am Anfang war die Sprache
Auf YouTube gibt es auch eine Vielzahl an Dokumentationen über die letzten verbliebenen Naturvölker unserer Erde. Wie leben sie? Was ist ihr Verhältnis zueinander und zu ihrer Umwelt? Mich fasziniert immer wieder, dass die Sprache der Anfang unseres Menschseins zu sein scheint. Ob in abgelegenen Gebieten des Amazonas oder bei den Buschleuten in Südafrika, überall sitzen Menschen zusammen und scherzen, sprechen miteinander, streiten sich. Es ist die Sprache, die uns zu Menschen macht. Bei den San in Botswana oder den Karitiana im westlichen Amazonas fällt auf, welche Rolle der Ahnenkult spielt. Vielleicht war das Gedenken der Ahnen eine unserer ersten großen menschlichen Kulturleistungen. Bei den Naturvölkern verschwinden die Verstorbenen mit ihrem Tod nicht einfach aus der Gemeinschaft, wie man es bei Gorillas beobachten kann. Die Ahnen werden über Generationen in Geschichten lebendig gehalten. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wir sterben erst, wenn der letzte stirbt, der von uns erzählen kann.“ Ein In-der-Welt-Sein, das nur uns Menschen möglich ist, denn die Sprache erlaubt uns, durch Erzählungen unseren Ahnen eine neue Form von Leben zu geben. Sie leben in unseren Geschichten.
Unsere Sprache eröffnet uns eine Welt – und lässt gleichzeitig eine andere hinter sich.
Die Geburt der Sprache war ein tiefer Umbruch unserer Welt. Aber es ging auch etwas verloren. Viele Naturvölker mit ihrer ausgeprägten schamanischen Kultur sprechen davon, dass ihre Vorfahren keiner Schamanen bedurften. Erst jetzt brauchen sie ihre Schamanen und deren Trancefähigkeit, um eine Brücke zu einer geistigen Welt offen zu halten, die ihren Vorfahren noch unmittelbar zugänglich war. Je mehr wir zur Welt der menschlichen Sprache aufwachen, umso mehr brauchen wir scheinbar Vermittler zu dieser anderen Welt, die uns früher offenstand. Unsere Sprache, die Dinge benennt und bestimmt, eröffnet uns eine Welt – und lässt gleichzeitig eine andere hinter sich.
Sprache selbst ist ein wunderbarer Gewinn. Mit ihrer Hilfe begannen Jäger- und Sammler-Gesellschaften damit, Samen nicht mehr sofort zu verzehren, sondern sie anzupflanzen. Tiere, die sie früher nur erlegt hatten, wurden gezähmt und aufgezogen. Die Neolithische Revolution, der Übergang zur Landwirtschaft, wurde durch die Sprache möglich. Durch die Sprache konnten die Menschen Ursache und Wirkung in einer viel größeren Dimension verstehen. Mit der „Erfindung“ der Zeit entdeckten wir die Jahreszeiten und wie sie einander bedingen. Mit den großen Mythen, später den großen Philosophien und dann der Wissenschaft erweiterte sich der Blick der Menschen zunehmend von ihrer unmittelbaren Umgebung zu einer immer umfassenderen Welt.
Platon verbannt die Dichter
Doch wie reagiert man auf eine Welt, die sich nicht mehr unmittelbar zeigt? In allen großen Kulturen entwickelten sich durch Denken und Sprache immer komplexere Strukturen. Vom mythischen Denken gingen wir weiter in ein philosophisches Denken. In der europäischen Kulturgeschichte steht vor allem Platon für diesen Schritt in die Philosophie. Einfach gesagt versuchte Platon, die Welt ganz auf Ideen zurückzuführen, um diese Ideen dann durch Logik zu ordnen.
Ein kleines Detail in Platons Philosophie illustriert für mich diesen Übergang vom Mythos zum Logos ganz besonders. In seinem Dialog über den idealen Staat stellt Platon eine eigentümliche Forderung auf. Er verlangte, dass die Dichter aus der Polis verbannt werden. Wie kommt jemand wie Platon dazu, die Dichter zu verbannen? Die Dichter, das waren Menschen wie Homer, dessen große mythologische Epen Ilias oder Odyssee auf die junge griechische Seele eine Wirkung ausstrahlten, die wir uns heute in ihrer magischen Kraft kaum vorstellen können. Im Gegensatz dazu verfolgte die Philosophie als sich gerade erst entfaltende Disziplin den Versuch, große Zusammenhänge durch Ideen und Logik zu verstehen. Insofern ist es verständlich, dass Platon diese junge Pflanze der Rationalität gegen die magische Kraft der alten Mythen schützen wollte. Durch diesen Übergang vom Mythos zum Logos entstand die ganze kulturelle Blüte der klassisch griechischen Kultur.
Der Rationalismus, das Vertrauen in die Vernunft, wurde nicht nur zur Grundlage der Aufklärung, sondern auch der Menschenrechte und der Demokratie. Wir verdanken ihm viel. Aber zu welch absurden Blüten blinder Rationalismus führen kann, zeigte sich beispielsweise im 17. Jahrhunderts. Wenn René Descartes über Tiere nachdachte, kam er zu eigenartigen Schlussfolgerungen: „Tiere sind nichts anderes als ‚Maschinen‘. Ihre Organe funktionieren wie eine Uhr. Das Herz wie eine Pumpe. Tiere sind gefühllos wie Metall. Der Forschergeist darf sie bedenkenlos erkunden, wie der Uhrmacher das Räderwerk einer Uhr.“ Wir müssen uns von unserer menschlichen Intuition schon sehr weit entfernt haben, um so denken zu können.
Gaia denken
Aber unsere Fähigkeit, mit unserem Denken die Komplexität der Welt zu erfassen, erlaubt uns auch eine Welt zu sehen, die wir sonst nicht wahrnehmen könnten. Ich denke hier zum Beispiel an die heute verbreitete „Gaia-Spiritualität“, in der wir die Erde als ein lebendiges Ganzes erfahren. Ohne Vertrauen in Rationalität und Wissenschaft gäbe es eine solche Gaia-Spiritualität nicht. Niemand von uns hat die Erde je gesehen – wir gewinnen allenfalls durch Aufnahmen aus dem Weltraum ein Bild von ihr. Allein dank unseres menschlichen Geistes, unserer Rationalität und der aus ihr hervorgegangenen Wissenschaft können wir die Erde als strahlend blaue Kugel im Weltall bewundern. Sie so „wahrzunehmen“, ist eine hochkomplexe intellektuelle Leistung. Es bedurfte der Philosophie und der aus ihr in den letzten Jahrtausenden erwachsenen Abstraktionsfähigkeit, um die Erde zu „sehen“. Doch wie können wir zu so etwas Komplexem wie der Erde (oder den Lebewesen auf ihr und dem Kosmos als Ganzem) eine lebendige intuitive Beziehung entwickeln?
Platon verlangte, dass die Dichter aus der Polis verbannt werden.
Spätestens seit der europäischen Aufklärung erleben wir dieses ständige Hin und Her zwischen Rationalität und der Suche nach einer neuen Form der Intuition, die der Unmittelbarkeit unseres Daseins gerecht wird. Die Romantik war die klassische Gegenbewegung gegen eine mechanisch-materialistische Aufklärung. Jean Jacques Rousseau zählt mit seiner Verherrlichung des „edlen Wilden“ zu ihren ersten Vertretern. Denker wie Novalis versuchten mit einer „Poetisierung des Denkens“ ein Gegengewicht gegen den Rationalismus zu formulieren. Auch Friedrich Nietzsche stellt in seinem Werk dem rationalen „apollinischen“ Denken ein wildes „dionysisches“ Denken entgegen, das die Welt wieder in ihrer Lebendigkeit erfahrbar macht. Auch im 20. Jahrhundert sehen wir immer wieder Bestrebungen, eine Lebenspraxis zu entwickeln, durch die wir der Welt auch intuitiv begegnen können. Die Reformpädagogik nach 1900 ist ein Beispiel dafür, auch die mit ihr verbundene Jugendbewegung oder das Werk Rudolf Steiners. Dort, wo die Romantik allerdings vor die Errungenschaften der Moderne und der Rationalität zurückging, zeigten sich auch neue Gefahren. Ein folgenschweres Beispiel ist die deutsche Jugendbewegung, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zu großen Teilen im völkischen Denken aufging.
Du statt Es
Können wir uns der Komplexität unserer Welt stellen, ohne die intuitive Unmittelbarkeit des Lebens zu verdrängen? Die unterschiedlichen Formen progressiver Spiritualität versuchen auf je eigene Weise hier Antworten zu entwickeln. Einen für mich besonders spannenden Ansatz fand ich bei Martin Buber. In seinem Buch Ich und Du schreibt er über die dialogische Natur unseres Menschseins. Erst im Dialog werden wir wirklich Mensch. Die „Ich-Du-Beziehung“ unterscheidet sich radikal von der intellektuellen „Ich-Es-Beziehung“. Ich-Du bedeutet immer ein lebendiges Wir. Dieses „Wir“ des Dialogs ist zunächst eine intuitive Wahrnehmung, keine logische Erkenntnis.
Ohne Vertrauen in Rationalität und Wissenschaft gäbe es keine Gaia-Spiritualität.
Der Dialog ist ein lebendiger Prozess, in dem wir uns als Menschen begegnen. Aber im Dialog treffen sich auch Weltzusammenhänge, denn Dialoge sind immer auch Begegnungen mit dem „anderen“. Nur weil wir uns auch fremd sind, ist Dialog möglich. Alles andere wären Formen des Selbstgesprächs. Der große hermeneutische Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht von der „Horizonterweiterung“, die in jedem Dialog möglich wird. Wir alle haben unsere eigenen Erfahrungshorizonte: persönlich, kulturell, auch spirituell. Wenn in einem gelungenen Dialog Verständnis entsteht, bedeutet das immer auch eine Verbindung unterschiedlicher Horizonte. Der Schlüssel zu allem ist diese Beziehungsqualität des Gesprächs. Auch Johann Wolfgang von Goethe war einer der Denker, für die Beziehung eine besondere Rolle spielte. Das zeigte sich unter anderem in seiner Haltung zur Französischen Revolution. Unter dem Eindruck der Terrorherrschaft in Paris wurde Goethe damals zu einem entschiedenen Gegner der Revolution. Er sah es als einen ihrer Grundfehler an, dass Idealisten aber auch Eiferer sich von abstrakten Idealen zu Terrortaten hinreißen ließen. Als Alternative formulierte Goethe ein politisches Ideal, demzufolge wir uns nur dort wirklich engagieren, wo wir auch in direkten menschlichen Beziehungen leben. Natürlich idealisierte Goethe hier auch die überschaubaren Verhältnisse in dem kleinen Fürstentum Weimar, in dem er als Minister diente. Aber Goethe versuchte Zeit seines Lebens, Aufklärung und Wissenschaft in einer Weise miteinander in Beziehung zu bringen, in der die organische Lebendigkeit des Universums nicht vergessen wird.
Von den Gorillas zum Internet
Ist es in einer globalisierten Welt möglich, die Komplexität dieser Welt denkend anzuerkennen, wie es durch Philosophie und Wissenschaft möglich ist, und gleichzeitig auf eine lebendige, intuitive Art mit uns und der Welt „in Beziehung“ zu bleiben? Wahrscheinlich ist genau das eine der Aufgaben einer progressiven, Spiritualität: Intellekt und Intuition gemeinsam zu entwickeln. Und lebendige Dialoge scheinen mir hier ein wichtiger Knotenpunkt zu sein, denn in ihnen leben beide Dimensionen – die Unmittelbarkeit der Beziehung und die vielschichtigen Erfahrungshorizonte, die jeder in sich trägt.
Im Dialog werden unsere Welthorizonte Teil einer lebendigen Begegnung.
Auch globale Zusammenhänge vermitteln sich über menschliche Dialoge. Ein sehr guter Freund von mir, mit dem mich eine lange gemeinsame spirituelle Arbeit verbindet, stammt aus Indien. In den letzten Jahren wurden die Verbindungen aber auch Gegensätze, die sich aus unserer kulturellen Herkunft ergeben, immer mehr Teil unserer Gespräche. Gerade weil mein Freund einen indischen Erfahrungshorizont hat, genauso wie mein Erfahrungshorizont tief mitteleuropäisch geprägt ist, haben unsere Gespräche oft auch eine globale Dimension. Aber weil uns eine menschliche Beziehung verbindet, haben diese Gespräche, die durchaus auch Streitgespräche sind, eine intuitive lebendige Basis, die auch unsere kulturellen Erfahrungshintergründe verbindet.
Besonders durch das Internet entsteht heute eine neue Chance. Das Internet erlaubt uns nicht nur online das Leben der Gorillas in Ostafrika zu studieren. Es erlaubt uns auch, in einer neuen Weise globale persönliche Netzwerke zu entwickeln, über die wir weltweit in Beziehung und im Dialog bleiben können. Wenn es uns gelingt, globale Strukturen aufzubauen, die diese auch persönlichen Dialoge und Beziehungen halten, dann entsteht eine neue, vernetzte Wirklichkeit. Darin können wir globale Zusammenhänge in intellektueller Tiefe, aber auch in intuitiver Lebendigkeit miteinander gestalten.