»Die Hoffnung liegt in den ungeahnten Möglichkeiten«

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Interview
Publiziert am:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
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Wahrnehmen und Handeln aus unserem Verwobensein mit der Welt

Nora Bateson ist die Tochter des System-Denkers Gregory Bateson und erforscht in Weiterführung seiner Arbeit unser Sein und Wirken in den vielen Kontexten, in denen sich unser Leben vollzieht. Auch die Klimakrise werden wir ihrer Ansicht nach nur richtig verstehen können, wenn wir diese vielen Kontexte unseres individuellen und sozialen Lebens miteinbeziehen.

evolve: Wie verstehst du die Veränderung, die sich bei der Klimakrise vollzieht? Was geschieht hier gerade und wie können wir Menschen darauf antworten?

Nora Bateson: Es ist wichtig, dass wir uns nicht von der Klimakrise, mit der wir konfrontiert sind, ablenken lassen. Die Klimakrise ist eine der vielen Konsequenzen, die sich in einem komplexen, lebendigen System einstellen, wenn aus zahlreichen Richtungen das darin wirkende Leben geschwächt wird. Um in einer Ökologie lebensfähig zu bleiben, muss ein Organismus in dieser Ökologie relevant sein, das heißt, dass er mit vielen Kontexten, nicht nur einem, in Beziehung stehen muss. Die Interaktion des Regenwurms mit den Bäumen ist beispielsweise anders als seine Wechselbeziehung zu den Bakterien oder dem Myzel, den Pilzgeflechten im Boden. Aus all diesen unterschiedlichen Kontexten ergibt sich die Relevanz des Regenwurms für das gesamte Ökosystem.

Auch wir Menschen müssen relevant sein für das Ökosystem, in dem wir leben. Aber was erfordert es von uns, auf diese Weise relevant, wichtig, wirksam zu sein und zum Leben des Ökosystems beizutragen, es zu bereichern? Wenn man die soziale oder die kulturelle Ökologie betrachtet, sieht man, dass wir Bildung, Geld, Schlaf, Sicherheit, alle Arten von Prozessen – von einem guten Steuerrecht bis hin zum ehrenden Gedenken unserer Vorfahren und vieles mehr – brauchen. Aber aus bestimmten Gründen ist die Relevanz, die wir in unseren sozialen Systemen finden, nicht wirksam für die biologischen Systeme, in denen wir leben. Hier hat eine Spaltung zwischen unserem sozialen Leben und unserem Eingebundensein in das größere Ökosystem stattgefunden. Das Problem sitzt also tief und deshalb ist es wirklich wichtig, die Klimakrise mit Sorgfalt zu betrachten und daraus zu handeln. Wir dürfen weder die Biodiversität aus den Augen verlieren noch das Wohlstandsgefälle zwischen Armen und Reichen, noch die Tatsache, dass große Bevölkerungsgruppen der westlichen, sogenannten demokratischen Länder so unzufrieden sind, dass sie die demokratischen Prozesse dazu benutzen, genau diese zu gefährden, wie wir es beispielsweise beim Brexit sehen. Ein Grund dafür besteht darin, dass es im Inneren vieler Menschen und in unserem sozialen Gefüge tiefe Ozeane der Zerrissenheit gibt. Dieses Ausmaß von Zerrissenheit hängt mit Seinsweisen und Lebensformen zusammen, die konkurrieren und einander gar zerstören und deshalb auch destruktiv für die Biosphäre sind.

Man denke an das Spektrum von Problemen, das sich allein hinter einer so simplen Handlung wie dem Kauf eines Anzugs oder Kostüms bei einer großen internationalen Textilkette verbirgt, weil du irgendwo einen Vortrag über Ökologie halten willst: angefangen bei der Ausbeutung der Arbeiter, die das Kleidungsstück herstellen, über die zerstörerische Wirkung der Chemikalien in der Baumwolle und für den Erdboden, den Transport und das CO2, das dabei freigesetzt wird, bis hin zu dem merkwürdigen Bedürfnis, so ein Kleidungsstück haben zu wollen und sich selbst in einer Kultur wahrzunehmen, in der das völlig normal ist und sogar erwartet wird. Sobald man die Frage nach der Relevanz in verschiedenen Kontexten betrachtet, beginnt man zu erkennen, wie bizarr das Ganze ist. Deshalb sollten wir nicht in das Denken verfallen, dass wir es nur mit der Klimakrise zu tun haben. Wir haben es mit Fragestellungen zu unserer Lebensweise zu tun, die sowohl tief in unsere eigene Lebensführung und eigenen Entscheidungen reichen, als auch zutiefst mit gesellschaftlichen und globalen Zusammenhängen verflochten sind. Deshalb müssen wir auch die drohende Klimakatastrophe in diesen multiplen Kontexten verstehen und wahrnehmen.

Es geht darum, eine Alchemie der Vertrautheit in der wechselseitigen Verbundenheit wirken zu lassen.

Ein trans-kontextueller Blick

e: Manche Menschen gehen so weit, das menschliche Experiment inzwischen als gescheitert anzusehen. Wahrscheinlich – so argumentieren sie – wird die Weisheit des Biosystems Erde die meisten von uns im nächsten Jahrhundert ins Meer spülen.

NB: Wahrscheinlich ist es ratsam, diese Option eines gescheiterten Experiments, die mir durchaus plausibel erscheint, im Blick zu behalten. Aber es ist durchaus möglich, dass sich etwas auftut, das niemand vorher bedacht hat. Ich denke nicht, dass die Technologie uns retten wird. Ich denke nicht, dass die Politik uns retten wird. Ich denke nicht einmal, dass eine Revolution uns retten wird. Aber dennoch besteht diese unvorstellbare Möglichkeit – weil wir den menschlichen Geist nicht unterschätzen sollten und weil wir nicht unterschätzen sollten, dass das Leben selbst leben will. Letztendlich sind auch wir Teil des Lebens und der Natur.

Gerade jetzt sorgen zwei der wertvollsten Aspekte des menschlichen Wesens für eine tödliche Mischung: Wir wollen geliebt werden und wir wollen schöpferisch tätig sein. Wir leben heute in einem Zeitalter unkontrollierter Innovation – Innovation um ihrer selbst willen. Ich finde es wirklich interessant, dass diese wertvollsten Aspekte des Menschseins auch den Kern unserer tiefgreifendsten Probleme bilden. Mit einem trans-kontextuellen Blick auf die Situation könnten wir jedoch in eine andere Seinsweise kommen. Die Hoffnung liegt jetzt in den ungeahnten Möglichkeiten.

e: Was ist ein trans-kontextueller Blick?

NB: Das ist ein Wort, das ich aus der Arbeit meines Vaters, des System-Denkers Gregory Bateson übernommen habe und welches ich sehr hilfreich finde. Es hat meiner Arbeit mit Systemen und Komplexität viele Dimensionen hinzugefügt. Wenn man versucht, einen lebendigen Prozess zu beschreiben und seiner existierenden Komplexität gerecht zu werden, ist große Sorgfalt erforderlich, weil so viele Informationen sich ständig verändern. Wenn wir Daten und/oder Informationen generieren, isolieren wir die Dinge aus ihrem Kontext, damit sie gemessen und definiert werden können. Aber sobald man sie wieder zurück in ihren Kontext stellt, sind sie etwas völlig anderes. Sie stehen in einer sich kontinuierlich verändernden Reaktionsfähigkeit auf ihre Umgebung, die sich aus ihrem Eingebundensein in unterschiedlichste Kontexte ergibt. Das erfordert eine völlig andere Art der Wahrnehmung und auf jeden Fall eine andere Form der Analyse über diese verschiedenen Kontexte hinweg.

Die trans-kontextuelle Perspektive ist eine Betrachtungsweise komplexer, lebendiger Prozesse, die es erlaubt, Aspekte außerhalb des Kontextes, über den man zu reden glaubt, mit einzubeziehen. Das meine ich mit multiplen Kontexten. Multiple Kontexte sind von großer Bedeutung für Informationen, die nicht herauslösbar, messbar, definierbar oder wiederholbar sind, weil alles ständig in Bewegung ist. Wir sprechen über das Klima, aber das heißt nicht bloß, CO2-Einheiten in der Atmosphäre zu zählen, sondern auch zur Kenntnis zu nehmen, was es für zwei junge Menschen bedeutet, sich auf einem Uni-Campus gegenseitig mit ihrem Wissen beeindrucken zu wollen, oder für eine junge Familie, ihre Großeltern zu besuchen. Wir verlieren uns schnell in Einzelheiten, wenn wir uns immer stärker und enger auf das Thema konzentrieren, auf das wir uns unserer Meinung nach fokussieren sollten. Wenn man in einem komplexen System so vorgeht, wird man unweigerlich Fehler machen.

Viele von uns versuchen jetzt, mithilfe immer kleinerer Kategorien herauszufinden, wer wir sind. Dabei entsteht ein besonders hohes Risiko, die Fähigkeit zu verlieren, uns selbst in der Komplexität, in der wir uns derzeit befinden, wahrzunehmen. Wenn wir uns aber selbst schon nicht in dieser Komplexität sehen können, dann können wir mit Sicherheit auch nicht die anderen Menschen darin wahrnehmen. Hinzu kommt das Problem der Verantwortung. Gerade heute mache ich mir Sorgen um die Generation der unter 30-Jährigen, die in einer Welt aufgewachsen sind, die so anders ist als die, in der wir aufwuchsen. Sie fühlen Verzweiflung und stellen sich Fragen wie: Sollte ich mich überhaupt verlieben?, Was ist meine Lebensaufgabe?, Soll ich Kinder in die Welt setzen?, Bin ich ein guter Mensch?, Wie kann ich ein guter Mensch sein, wenn alles, was ich benutze, aus der Ausbeutung von Ressourcen kommt?

Wir sollten den menschlichen Geist nicht unterschätzen, weil wir nicht unterschätzen sollten, dass das Leben selbst leben will.

Wir müssen erkennen, dass uns in den bestehenden sinnstiftenden Prozessen unserer soziokulturellen Strukturen sogar die Sprache für das fehlt, womit wir heute umgehen müssen. Unsere Fähigkeiten der Beschreibung, des Verstehens und der Sinnstiftung sind so begrenzt durch unsere Sprache und durch das, was wir gelernt haben. Dabei wissen wir, dass wir schon seit Hunderten, Tausenden von Jahren ständig destruktive Verhaltensweisen wiederholen.

Intim gefühlte Komplexität

e: Denkst du, dass wir die letztendliche Unfassbarkeit unserer gegenseitigen Erfahrung in einem Kontext halten können, in dem wir uns verständigen und wahrnehmen können, um in eine Resonanz zu kommen?

NB: Ich glaube, dass Resonanz ein Teil des Lebens ist. Rhythmen und Resonanzen reichen tief in die Kommunikation aller Organismen hinein. Wenn du von mir wissen willst, wie ich unsere Aufgabe in der Klimakrise verstehe, dann ist es genau das.

e: Ist das auch das Anliegen des Warm-Data-Prozesses?

NB: Ja, der Warm-Data-Prozess erlaubt es Gruppen von Menschen, durch eine Fülle von spezifischen und besonderen Dialogen die gegenseitige Wechselwirkung allen Lebens zu erfahren. Dieser Prozess ähnelt dem »Mulchen« in der Aufbereitung des Bodens, indem man organisches Material auf den Boden aufbringt, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu verstärken. Dieser Prozess gleicht der Interaktion zwischen Bakterien, hier aber im Bereich von Ideen und der Überlagerung von Mustern. Alles geschieht unerwartet. Auch nach 500 Runden mit dem Warm Data Lab weiß ich nicht, was die Leute sagen werden; es gibt kein feststehendes Ergebnis. Das ist das Schöne am Warm Data Lab. Dabei geht es darum, sich durch verschiedene Kontexte zu bewegen und dabei eine Frage immer tiefer und umfassender zu erforschen, wie zum Beispiel: Was bedeutet Gesundheit in einer sich verändernden Welt?

Man hört etwas über die Großmütter der Menschen und über ihren Hochschulabschluss, und man hört etwas über ein Mem, das sie in der vergangenen Woche gesehen haben oder man hört einen Witz, den sie aufgeschnappt haben. Das Gewebe der Aussagen, die sich dabei zeigen, hält allerdings die Komplexität, die wir benötigen, sodass dabei kein flacher Diskurs aus Halbwahrheiten oder Stichpunkten zur Frage »Was ist Gesundheit?« entsteht. Es geht darum, eine Alchemie der Vertrautheit in der wechselseitigen Verbundenheit wirken zu lassen.

Es passiert so viel im Warm Data Lab und dabei dauert es jeweils nur wenige Stunden. Aber in dieser Zeit tauchen alle im Raum tief und vollkommen in die Komplexität des Themas ein, mit dem sie befasst sind. Das ist eine sehr persönliche und intim gefühlte Komplexität. Sie resoniert mit anderen Menschen und auch mit eigenen Erkenntnissen, Erinnerungen und Erfahrungen, die sich auch weit jenseits des verbalen Gebiets erstrecken.

Kompost für die Veränderung

e: Ist das nicht auch eine Erfahrung von Kreativität? Aber es ist eine andere Art von Kreativität als die, die von mir generiert wird, nicht meine Kreativität und auch nicht die unseres Teams oder wer auch immer die nächste neue Entdeckung macht, die uns Relevanz oder Liebe einbringt.

NB: Genau. Und in einem Warm Data Lab kann man auch nichts auf einen bestimmten Ort oder eine Person zurückführen. Der Prozess erzeugt eine geteilte Wahrnehmung und Erfahrung. Die Ideen, die Vorstellungen und Bilder, die Visionen und die Töne finden einander, weil genau darin die neue Wahrnehmung liegt.

e: Inwiefern ist dies eine Antwort auf die Situation, in der wir uns im Moment befinden?

NB: Wir müssen in der Lage sein, gemeinsam die wechselseitige Verbundenheit wahrzunehmen. Es geht nicht darum, dieselbe Wechselwirkung wahrzunehmen, denn sie gestaltet sich für jeden von uns anders; aber wir können sie gemeinsam erspüren. Das ist nicht das Gleiche, wir brauchen nicht die gleiche Landkarte. Aber wir brauchen ein gemeinsames Verständnis der wechselseitigen Verbundenheit, die reich an unseren tiefsten Erinnerungen ist.

Diese Art der Wahrnehmung ist chaotisch, ausschweifend, schwammig, zäh, verdreht. Sie ist nicht rein, klar, elegant und definierbar. Sie ist weder eine Strategie noch ein Ziel. Sie ist der Kompost für den Boden, auf dem wir alles neu verstehen können. Das ist der Ort, von dem aus wir die Veränderung in uns Menschen ermöglichen können. Es ist nicht irgendeine Idee, von der man Leuten erzählen kann, die sie dann verstehen und damit wäre es genug. So läuft das nicht. Diese Veränderung muss sich mit den Erinnerungen an unsere Großmütter, unseren Kindheitserinnerungen, unserem Verständnis der Beziehungen zu unseren Kindern, unserem Körper, unserer Sexualität, unserem Bankkonto und den Vorgängen in unserem Denken verbinden, wenn wir Heißhunger auf Schokolade haben und uns bewusst ist, dass sie von Sklaven produziert wird. Dahin, in dieses tiefe Verwobensein unseres Lebens, müssen wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Wir müssen also zu einer völlig anderen Art des Verstehens gelangen, weil wir mit unseren grundlegenden Instinkten zu tun haben, wenn es darum geht, relevant und kreativ zu sein. Es ist wichtig, auf kultureller Ebene darüber ins Gespräch zu kommen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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