Populismus, Spiritualität und die Verletzlichkeit des Lebens
Wir leben in einer Welt zunehmender Komplexität. Gleichzeitig erleben wir auch einen Aufstieg einfacher Antworten und das nicht nur bei Populisten und Verschwörungstheoretikern. Was bedeutet der Einsatz für den sozialen Wandel in Zeiten wie diesen?
Vor einiger Zeit machte ich Urlaub im Biohotel eines Freundes; zu den Gästen zählen Menschen, die man vielleicht als bewusst, alternativ, ökologisch sensibilisiert und spirituell interessiert bezeichnen kann. Eines Abends saßen wir in einer kleinen Gruppe zusammen, mein Freund hatte unter freiem Himmel auf dem Klavier improvisiert, der laue Abend senkte sich, geradezu Bilderbuchharmonie. Bis das Gespräch auch auf die Politik kam. Da war es dann vorbei mit achtsamer Ruhe. Eine Frau in unserer Runde vertrat die Ansicht, dass die Medien sowieso manipuliert seien. Eine Erklärung ihres Vorwurfs blieb aus. Ein anderer Gast stellte wenige Minuten später fest, dass wir Deutschen ständig auf den Nationalsozialismus reduziert würden, dass es vorher eine deutsche Geschichte gegeben hätte, würde in den Schulen gar kaum gelehrt. Ein älterer Herr neben mir bemerkte, das entspräche nicht den Tatsachen, er sei selbst jahrzehntelang Geschichtslehrer gewesen. Aber dieses Argument schien keine Wirkung zu zeigen. Am nächsten Tag traf ich den Mann, der das Geschichtsbild der Deutschen zurechtrücken wollte, wieder. Er kam gerade vom Kajakfahren auf dem Meer, dort fühle er sich eins mit Mutter Erde, sagte er. Und die Medienkritikerin freute sich schon auf ihren Kurs in Sacred Dance, der in den nächsten Tagen beginnen sollte.
Beide waren mir sympathisch und ich konnte ihren Unmut auch verstehen, der in unserer unüberschaubaren Welt nach Orientierung, Sicherheit und Klarheit zu suchen schien. Und die Hilflosigkeit, die aus ihren Worten sprach, kenne ich nur zu gut. Und ich empfand sie auch in unserer Begegnung, weil ich keine Worte fand, die aus unbegründeten Behauptungen ein menschliches Gespräch machen konnten. Ich blieb zurück mit der Frage, wie es kommt, dass sich Menschen, die scheinbar auf einem Weg wachsender Bewusstheit sind, in einer Weise äußern, wie ich es eigentlich eher von AfD-Anhängern erwarten würde?
Postfaktische Zeit
Die pure Fülle von Informationen, die heute über TV, Radio, Internet, soziale Medien auf uns einprasseln, ist an sich schon überwältigend. Nachrichten und Videos, die wir meist nicht selbst prüfen können, auf deren Echtheit wir uns verlassen müssen. Wie leicht aber selbst Videos inkl. Interviews aus Krisengebieten gefälscht werden können, wurde immer wieder gezeigt. Wenn ich selbst in diesem Sturm von Nachrichten sitze, von denen viele mit emotional-reißerischen Titeln Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, spüre auch ich schnell ein Gefühl des Überwältigtseins. Und die Frage: Wem kann ich glauben? Auf welche Nachrichten kann ich vertrauen? Aber selbst, wenn man darauf eine erste Antwort findet und wie ich eher der Berichterstattung der »Zeit« vertraut, als einem Russian-Today-Video, bleibt die Fülle an verstörenden Nachrichten, die uns erreichen, bestehen. Wenn ich Videos aus dem zerstörten Aleppo sehe oder von einer Bekannten, die auf Lesbos war, von den aussichtslosen Zuständen in den Flüchtlingslagern höre, überkommt auch mich Ohnmacht. Und ich will verstehen, warum sich Situationen so zuspitzen können, nur um einzusehen, dass es keine einfachen Antworten gibt.
¬ Im heutigen gesellschaftlichen Diskurs zählen immer weniger die Fakten, sondern Gefühle. ¬
Wir lernen gerade – zum Guten wie zum Schlechten –, dass wir in einer neuen Welt leben, einer global vernetzten Welt, in der alles mit allem zuinnerst zusammenhängt. Die spirituelle Weisheit des Verbundenseins, die buddhistische Lehre des bedingten Entstehens aller Phänomene wird uns heute in nie da gewesenem Ausmaß vor Augen geführt. Es ist eine Komplexität, die uns oft zu überfordern scheint, und uns schnell auch zu einfachen, zu vereinfachenden Antworten greifen lässt – seien es nun Verschwörungstheorien, Feindbilder oder einfach die Vermeidung dieser Komplexität.
Erschwert wird diese Situation dadurch, dass wir in einer »postfaktischen Zeit« leben, dieser Begriff macht gerade die Runde und sagt aus, dass im heutigen gesellschaftlichen Diskurs immer weniger die Fakten zählen, sondern Gefühle. Populisten wie Trump und die AfD machen diese Gefühle zu ihrem Programm. Die Menschen im Osten Deutschlands fühlen sich von Ausländern bedroht, von denen es dort kaum welche gibt, oder vom Islam, den man dort gar nicht kennt. Dieser Zeitgeist, der mittlerweile auch als »Gefühlsdemokratie« bezeichnet wird, kann sich dann auf fatale Weise auch mit einer spirituellen Haltung verbinden, die das Herz gegen das Denken ausspielt. Einer der Wahlsprüche vieler Seminare und spiritueller Lehrer ist, dass wir uns wieder mit unserem Fühlen verbinden müssten. Aber das kann eben auch schiefgehen, bzw. nur einen kleinen Bereich der Wirklichkeit berücksichtigen. Das Fühlen dem rationalen Denken und Argumentieren entgegenzusetzen, ist genauso einseitig und vereinfachend, wie einer klaren Ratio allein das Wort zu geben.
Schatten des Geistes
Vor einigen Tagen erhielt ich eine bemerkenswerte Email von Tami Simon, der Gründerin des spirituellen Audiobuch-Verlages Sounds True, in dem sie ihre Kunden und Partner aufruft, zur Präsidentenwahl in den USA zu gehen. Darin schreibt sie: »Manchmal wenden wir uns auf dem spirituellen Weg enttäuscht von der Welt ab und wollen uns nicht mit der momentanen Politik beschäftigen, vielleicht weil wir uns davon gelöst haben oder einem ›langfristigen Blick‹ der menschlichen Evolution folgen. Vielleicht drehen wir uns weg, weil das ›Hineingehen‹ bedeuten würde, dass wir mit zu viel Drama, zu viel Unsinn, zu viel Wahnsinn in Kontakt kommen. Oder vielleicht – eine dunklere Perspektive darauf – sind wir einfach zu selbstbezogen, als dass es uns etwas ausmachen würde. Aber diese ›losgelöste‹ oder ›unbeteiligte‹ Haltung könnten wir auch als einen möglichen Schatten eines spirituellen Weges sehen.«
Tatsächlich ist die Verheißung spiritueller Praxis unter anderem auch das Finden einer inneren Ganzheit und Einfachheit inmitten einer chaotischen Welt. Und dieses Sein, diese tiefe Stille, dieses Einssein, das die wahre Natur des Bewusstseins ist, und die wir durch spirituelle Praxis zunehmend erfahren können, kann uns eine existenzielle Einfachheit eröffnen, die uns tiefen Frieden und Erfüllung schenkt. Aber was machen wir mit dieser Erfahrung, wenn wir in die Welt des 21. Jahrhunderts treten? Stellen wir uns mit dieser inneren Ganzheit einer leidenden, unübersichtlichen, vielschichtigen Welt und finden unseren Platz, um daran mitzuwirken, dass diese Komplexität durch umfassende menschliche Werte wie Mitgefühl und Verbundenheit eine heilsame Veränderung erfährt? Oder ist uns diese Komplexität schlicht zuviel und wir versuchen, sie zu vermeiden oder auf einfache Antworten zu reduzieren?
Und selbst wenn wir uns zum Handeln entschließen, bleibt die Frage, wie dieses Handeln der Komplexität unserer Welt und unserer Verflochtenheit darin gerecht wird. David Loy, ein amerikanischer Buddhist und Ökologe macht eine interessante Beobachtung in Bezug auf den sozial engagieren Buddhismus: »Viele amerikanische Buddhisten akzeptieren heute, dass der Dienst am Nächsten, wie das Lehren des Dharmas in Gefängnissen, Hospizarbeit und Hilfe für Obdachlose ein wichtiger Aspekt des eigenen Weges sein kann. Mit anderen Worten, wir werden besser darin, Ertrinkende aus dem Fluss zu ziehen, aber wir werden nicht besser darin zu fragen, warum überhaupt so viele Menschen in den Fluss fallen. Wovon oder von wem werden sie mitgerissen? Wenn wir fragen, warum in einem der reichsten Länder der Welt so viele Menschen obdachlos sind oder in Gefängnissen sitzen, werden wir als Radikale oder Linke bezeichnet. ›Diese Dinge‹, so sagt man oft, ›haben nichts mit dem Buddhismus zu tun.‹«
Auf was Loy hier hinweist, ist vielleicht so etwas wie ein unpolitischer oder vereinfachender Aktivismus, in dem wir den größeren Kontext aus den Augen verlieren. Ich selbst war jahrelang in der Hospizarbeit engagiert und habe erlebt, dass man dabei in einer Blase agieren kann, in der es dann oft auch stark um die eigene Selbstverwirklichung geht und das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Das Gleiche gilt heute wohl ebenso für andere Formen des ökologischen und sozialen Aktivismus. Nur wenn wir den größeren Kontext und die systemischen, komplexen, verwobenen Ursachen von Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Unmenschlichkeit verstehen, wird sich eine gesellschaftliche Kraft formen können, die die Radikalität – den Blick auf die Wurzeln – besitzt, um unsere Lebensweise nachhaltig zu verändern.
Meditieren für den Weltfrieden?
Neben dem sozial engagiertem Buddhismus gibt es mittlerweile auch neue Ansätze, um die Menschen, die man vielleicht als »spirituell aber nicht religiös« bezeichnen könnte, zu einer neuen Form von Aktivismus zu inspirieren. Namentlich der Ansatz des »Sacred Activism« von Andrew Harvey oder der «Subtle Activism«, den David Nicol in einem neuen Buch recherchiert hat: »Subtiler Aktivismus ist eine Aktivität des Bewusstseins oder Geistes wie Gebet, Meditation oder ekstatischer Tanz, mit der Absicht, kollektive Heilung und sozialen Wandel zu unterstützen. Der subtile Aktivismus erwächst aus der Idee, dass es neben offensichtlicher politischer Aktion viele effektive Wege gibt – einige gerade erst im Entstehen, andere so alt wie die Menschheit –, um sozialen Wandel positiv zu beeinflussen.« Seit Menschengedenken haben Weise, Heilige, spirituell Übende ihre Praxis und die Verdienste daraus dem Wohl der Menschheit gewidmet. Diese subtile Dimension des Aktivismus heute wieder zu betonen, ist not-wendig, um zu einem integraleren Blick zu kommen.
¬ Die Botschaft »Meditieren für den Weltfrieden« kann leicht zu einer selbstgenügsamen Passivität führen. ¬
Aber es ist auch nicht so einfach. Das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, z. B. für die Welt zu meditieren. In meiner Erfahrung ist es schon schwer genug, im Chaos des eigenen Geistes zu einer meditativen Tiefe zu finden, geschweige denn, wenn ich mich dem Chaos der Welt öffne. Praktiken wie das Tonglen des tibetischem Buddhismus, bei dem man die Leiden anderer auf sich nimmt und verwandelt, gelten in ihrer ursprünglichen Form als höchste Errungenschaften dieses Praxisweges. Und Sri Aurobindo, von dem gesagt wird, dass er mittels subtilen Aktivismus in die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges eingegriffen hat, empfahl seinen Schülern, die ihn dabei unterstützen wollten, doch besser mit der Waffe gegen Japan zu kämpfen, weil diese Form des Aktivismus umfassende geistige Voraussetzungen erfordert.
Was ich damit sagen will? Dass auch der subtile Aktivismus allein nicht die Antwort ist. Wenn ich für den Weltfrieden meditiere, dann fühle ich vielleicht, dass ich etwas für die Welt getan habe. Und wahrscheinlich ist dem auch so. Aber wir sollten uns auch im Klaren sein, dass das allein unsere Welt nicht verändern wird. Die Botschaft »Meditieren für den Weltfrieden« kann leicht zu einer selbstgenügsamen Passivität führen. Denn »das entlastet in einer gnadenlos unübersichtlichen, heillos komplexen Welt ungemein. Wer ein guter Mensch sein will, muss nun nicht mehr die anstrengende Frage nach Gut oder Böse stellen, muss sich nun nicht mehr den Kopf zerbrechen über politische, womöglich militärische Antworten auf die Krisen und Kriege weltweit. Der brave Deutsche darf jetzt tun, was er gerne tut: die Augen schließen, die Hände in den Schoß legen, sich in sich selbst versenken.«, schreibt natürlich etwas überzogen der »Cicero«. Aber auch David Nicol ist sich dieser möglichen Nebenwirkung eines subtilen Aktivismus bewusst: »Es gibt auch eine potenzielle Falle beim subtilen Aktivismus, denn er könnte als eine spirituelle Rechtfertigung dafür verwendet werden, sich von den Belangen der Welt fernzuhalten – eine Art soziales spirituelles ›Bypassing‹ oder Vermeiden. Aber solch eine Haltung würde eine narzisstische Verzerrung meines Vorschlags bedeuten, der einen subtilen Aktivismus in der Welt unterstützen will, indem er mit konventionellen Formen des Aktivismus verbunden wird, als Teil eines ganzheitlichen Ansatzes des sozialen Wandels.«
Raum zum Spüren
Solch ein ganzheitlicher Ansatz bedeutet vielleicht vor allem, dass wir uns nicht auf einfache Antworten verlassen. Wenn wir die Komplexität der Welt und unsere Verflechtung mit ihr anerkennen, öffnet sich ein Raum, in dem wir zunächst einmal nicht wissen. Nicht wissen, was zu tun ist oder wie wir reagieren können. Aber vielleicht liegt in dieser Lücke die Quelle einer anderen Antwort. Die Fülle der Nachrichten und Meinungen deckt für uns diese Räume zu. Ich merke immer wieder, wie schnell ich von einer schrecklichen Meldung zur nächsten scrolle, ohne diese Lücke zu lassen, wo allein Berührung möglich ist. Aber wenn ich nicht nachspüren kann, was Menschen in Syrien empfinden, die in Krankenhäusern bombardiert werden, dann kann kein wirklich ganzheitliches Handeln daraus entstehen. Diese Verletzlichkeit, dieses Nicht-Wissen zu spüren, ist keine Ohnmacht, sondern vielmehr ein tieferes Einlassen auf das Leben. Denn es geht vielleicht nicht nur darum, uns als Antwort auf die Krisen der Welt zu engagieren, sondern dem eigenen Leben eine andere Grundlage zu geben. Es ist das Vergegenwärtigen unseres Nicht-getrenntseins mit der Welt in all ihrer Komplexität, ihrem Chaos, ihrem Schrecken und ihrer Schönheit und Herrlichkeit. Aus dieser Verbundenheit zu leben, im offenen Raum der Verletzlichkeit, wird sich uns zeigen, was unsere Antwort sein kann, ohne dass wir uns darin jemals sicher fühlen könnten. In dieser Verletzlichkeit liegt vielleicht die Kraft eines Aktivismus, der sich der Vielschichtigkeit und des Eingebundenseins unseres Lebens nicht verschließt. Oder, wie Charles Eisenstein schreibt: »Das gleiche Intersein, das uns so unglaublich verwundbar macht, macht uns auch unglaublich stark. Daran sollten wir uns immer erinnern! In Wirklichkeit gehen Verletzlichkeit und Kraft Hand in Hand, denn nur wenn wir den Schutz des getrennten Selbst loslassen, können wir uns mit der Kraft verbinden, die jenseits davon liegt. Nur dann können wir Dinge erreichen, die für das getrennte Selbst unmöglich sind. Oder, um es etwas anders zu formulieren, wir werden fähig zu Dingen, von denen wir nicht wussten, wie wir sie geschehen ›machen‹ sollten.«