Willkommen in der Wirklichkeit

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

October 19, 2016

Mit:
Hubert Dreyfus
Charles Taylor
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
Was können wir tun?
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Zum Buch »Die Wiedergewinnung des Realismus« von Hubert Dreyfus und Charles Taylor

Sie wussten nicht, dass Sie nicht in der Wirklichkeit leben? Eigentümlicherweise meint der Großteil der neueren europäischen Philosophie, dass wir nur Bilder und Konzepte der Wirklichkeit haben. Sie selbst bleibt uns verschlossen. Das war einer der großen Gedanken von Kant, einem der Begründer der modernen Philosophie. Friedrich Nietzsche, der Vater der postmodernen Philosophie, ging hier noch einen Schritt weiter. In seiner »Fröhlichen Wissenschaft« beschrieb er, wie wir uns die Wirklichkeit selbst erschaffen.

Auch wenn nicht viele Menschen Kant oder Nietzsche gelesen haben, ihre Auffassungen prägen bis heute unsere westliche Sicht auf die Welt. Der moderne Wissenschaftsbetrieb ist eine Methode, sich der Wirklichkeit mit den Mitteln der Logik und der Berechnung anzunähern und viele postmoderne Kritiker haben Theorien entwickelt, die besagen, dass unsere Wirklichkeit ein Konstrukt ist.

¬ Wir sind mit der Wirklichkeit immer schon in Kontakt, noch lange bevor wir anfangen, ihr Namen zu geben. ¬

Genau darauf möchte das Buch von Hubert Dreyfus und Charles Taylor eine Antwort sein. Es ist ein bemerkenswertes Buch, kein einfaches – man muss sich auch in die Tiefen akademischen Philosophierens vorwagen, um ihren Argumenten zu folgen. Aber hier schreiben zwei der anerkanntesten amerikanischen Philosophen darüber, dass wir in unserer westlichen Kultur neu darüber nachdenken müssen, was es bedeutet, dass wir im Grunde nicht getrennt sind.

In ihrem Buch untersuchen Dreyfus und Taylor einige unserer ganz tiefen kulturellen Selbstverständlichkeiten. So führen sie, aufbauend auf vielen Einsichten der postmodernen Philosophie, vor, wie zum Beispiel unsere Annahme, dass ein Ding einfach ein Ding, ein Objekt ist – dass ein Tisch einfach ein Tisch ist –, einem genaueren Blick nicht standhält. Die postmoderne Philosophie nennt diese scheinbare Selbstverständlichkeit den »Mythos des Gegebenen«. Für den Alltagsgebrauch ist es oft völlig angemessen, Dinge zu isolieren und als unabhängiges Objekt zu verstehen – solange wir wissen, dass wir hier eine Trennung schaffen, die es eigentlich so nicht gibt.

Dreyfus und Taylor sprechen davon, dass für unsere Wahrnehmung der Welt »eine gewisse Form von Holismus unabdingbar ist«. Wir sind mit der Wirklichkeit immer schon in Kontakt, noch lange bevor wir anfangen, ihr Namen zu geben. Ihre Argumente gehen direkt gegen die allgemeine Annahme der modernen Wissenschaft, wir könnten die Welt ausschließlich durch geistige Repräsentationen, Worte, wie dem Wort »Tisch« verstehen. Bevor wir anfangen zu benennen, sind wir bereits mit allem in einer lebendigen Beziehung.

Unser Bewusstsein ist nicht etwas, das in einem Gehirn entsteht, das, wie die moderne Gehirnforschung manchmal unterstellt, auch auf sich gestellt in einem künstlichen Tank schweben könnte. Alles ist Teil unseres In-der-Welt-Seins. Und noch ein Punkt ist den Autoren wichtig: Vor allem anderen sind wir zunächst durch unseren Körper in der Welt. Unsere erste Intelligenz ist eine körperliche, eine leibliche Intelligenz. Lange bevor wir anfangen, Sprache und sprachliche Intelligenz zu finden, haben wir eine körperliche Intelligenz – eine Intelligenz, die uns bis heute nicht verlassen hat. Dreyfus und Taylor geben in ihrem Buch einige einfache Beispiele dazu. Ein Fußballspieler, der im Verlauf des Spiels eine Lücke in der gegnerischen Abwehr wahrnimmt, reagiert in der Schnelligkeit des Spiels viel mehr mit der Intelligenz seines Körpers, als mit einer verstandesmäßigen Intelligenz. Oder jeder von uns kennt z. B. auf Partys Gesprächssituationen, in denen wir klar wahrnehmen, dass unser Gesprächspartner zu nahe oder zu weit weg steht. Das sind Einsichten, die wir nicht versprachlichen müssen.

Die Botschaft ihres Buches ist: Wir sind schon in der Welt. Der Kontakt ist unmittelbar. Deswegen müssen wir viele unserer objektivierenden Denkweisen hinterfragen, um zu lernen, wieder bewusst anwesend zu sein. Das ganze Buch durchzieht auch eine freundschaftliche Kontroverse mit Richard Rorty, einem Fixstern der postmodernen Philosophie. Was die Autoren mit Rorty verbindet, ist die gemeinsame Kritik am »Mythos des Gegebenen«. Aber Dreyfus und Taylor wenden sich mit sehr detaillierten Argumenten gegen Rortys postmodernen Relativismus, in dem es nur mehr Perspektiven gibt und keine Wirklichkeit.

Es gibt die Wirklichkeit, auch wenn sie im »robusten pluralistischen Realismus« von Dreyfus und Taylor viele Dimensionen hat. So lebt zum Beispiel die Frage, was Gold ist, in verschiedenen Dimensionen. In der Naturwissenschaft ist Gold »ein Element mit dem Atomgewicht 79«. In der altägyptischen Kultur war aber das Atomgewicht nicht die wesentliche Eigenschaft des Goldes. Sie bestand darin, »dass Gold heilende Kräfte hat.« Beide Antworten sind gültig, denn sie beziehen sich auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit. Es ist möglich »dass die Eigenschaften des Goldes, die die Ägypter gesehen haben, nur durch bestimmte religiöse Praktiken offengelegt werden« – Eigenschaften wie die Heilkraft der Akupunktur, die sich dem naturwissenschaftlichen Blick entziehen.

Um der Wirklichkeit unmittelbar zu begegnen, müssen wir uns ihr in ganz unterschiedlichen Bereichen öffnen. Aber die Kernaussage des Buches ist einfach: Auch wenn unsere Kultur und unsere Sprache uns den Blick verstellen – wir leben bereits in der Wirklichkeit, wir müssen nur neu lernen, uns unmittelbar auf sie einzulassen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Teile diesen Artikel: