Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
January 21, 2016
Wie leicht wir als Menschen in Ideologien gefangen sind und uns von unserer innewohnenden Weisheit entfremden können, verdeutlicht diese Geschichte über Gehorsam und Gewissen.
Der Junge saß und war gerade dabei, sein neues elektronisches Gerät, ein Smartphone der neueren Generation, zu personalisieren. Weil er ein religiöser Junge war, vergaß er nicht, neben anderen Dingen, die seiner Persönlichkeit entsprachen, den edlen Koran herunterzuladen. Während des Downloads verspürte er jedoch ein Rumoren in seinem Bauch – diese bekannte Regung, die immer einer der primitivsten (und in diesem Moment allerwichtigsten) Aktivitäten des menschlichen Daseins vorangeht. Der Junge widerstand, bis der Download beendet war, dann steuerte er die Toilette an. Mitten auf dem Weg jedoch hielt er inne. Konnte er das Badezimmer mit seinem Smartphone betreten, das nun den edlen Koran enthielt? Würde das nicht eine Verletzung der Heiligkeit des gesegneten Buches bedeuten?
Mit schmerzendem Grummeln in seinem Bauch und schmerzhaften Zweifeln in seinen Gedanken schickte er eine Frage an eine der vielen Seiten, die innerhalb der sozialen Netzwerke auf die Aussendung der Fatwa spezialisiert sind – eine Rechtsauskunft durch eine muslimische Autorität. Er bat einen virtuellen Scheich, speziell für ihn eine Fatwa auszusenden, um ihn vor dem Abgrund zu retten, der sich plötzlich zwischen seinem Bauch und dem Smartphone geöffnet hatte …
In Gesellschaften mit einer Analphabetenrate von dreiviertel der Bevölkerung war die Fatwa bis vor über fünfzig Jahren überlebenswichtig. Aber die fehlende Technologie in dieser Zeit zwang Analphabeten dazu, über Belange des täglichen Lebens selbst nachzudenken und ihr Handeln einzuschätzen. In die großen Städte zu reisen war extrem teuer und erforderte viel Zeit. Deshalb musste sich jeder sein eigenes Urteil bilden, welches sein Gewissen – und damit auch Gott – zufriedenstellen konnte.
¬ KONNTE ER DAS BADEZIMMER MIT SEINEM SMARTPHONE BETRETEN, DAS NUN DEN EDLEN KORAN ENTHIELT? ¬
Heute geben die modernen Kommunikationsmittel jedem die Möglichkeit, in seinem eigenen speziellen Fall eine Fatwa zu erhalten. Eine Folge davon ist, dass es nicht mehr nötig ist, selbst nachzudenken, zu bewerten oder zu diskutieren. Die Moderne bietet uns eine Technologie an, die definitiv die Religiosität von der Rationalität getrennt hat. Gott hat scheinbar die modernen Kommunikationsmedien genutzt, damit jeder Gläubige an jedem Ort und über jedes Thema eine Fatwa erhalten kann, egal ob es im Besonderen die fragende Person selbst betrifft oder nicht. Das widerspricht dem, was der Islam als eine seiner wichtigsten Grundlagen betrachtet, welche sich für die Abwesenheit einer Vermittlung durch einen Geistlichen zwischen den Menschen und Gott ausspricht, zusammen mit dem Prinzip, das so beschrieben wird: »Befrage dein Herz, selbst wenn du eine Rechtsauskunft bekommen hast.« Tatsächlich ist das eigene Herz die letztendliche Autorität in der Beurteilung menschlichen Handelns.
Dieser Junge, der unsicher an der Schwelle zum Bad verweilte, ist weder ungebildet noch arm, es mangelt ihm auch nicht an Intelligenz. Er ist jedoch das Kind einer Kultur, in der der Sieg der Religion als Ideologie jede Möglichkeit zerstörte, eine kreative, persönlich fruchtbare Religiosität zu praktizieren. Gleichzeitig lebt er übereinstimmend mit den Vorgaben der westlichen Welt, wo die Überwindung von Religion als Ideologie dazu führte, dass die Religiosität aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurde und aufhörte, irgendeine Bedeutung zu haben, weder für die Person noch für die Gesellschaft. Die größte Niederlage der Religion ist allerdings ihre Transformation in eine Ideologie; es ist gleichgültig, ob sie gewinnt oder verliert – das erste Opfer wird in jedem Fall der einzelne Mensch sein.
Der virtuelle Scheich antwortete dem Jungen – der immer noch zwischen seinem Smartphone und dem Bad stand – mit einer Gegenfrage: »Hast du irgendetwas aus dem edlen Koran auswendig gelernt?« »Ja«, antwortete der Junge überrascht. Und in diesem Augenblick sandte der Scheich seine Fatwa: Der Junge sollte sowohl sein Smartphone als auch seinen Kopf außerhalb der Toilette lassen.