Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2019
Disziplin hat heute oft einen schlechten Ruf. In ihrem neuen Buch möchte Doris Zölls, die der spirituellen Leitung des Benediktushofes angehört und Schülerin von Williges Jäger ist, ein anderes Verstehen und Erfahren eröffnen: »Disziplin ist weder blinder Gehorsam noch rücksichtslose Beherrschung. Sie ist ein Hören auf das, was das Leben für uns bereithält, und sich davon nicht ständig abbringen zu lassen.« Was es heißt, auf dem spirituellen Entwicklungsweg zu bleiben, beschreibt sie entlang einer berühmten Zen-Geschichte, in der ein Hirte einem Ochsen begegnet.
Zölls sieht die wesentliche Aufgabe des Zen-Weges darin, den Geist zu erfassen und zur Ruhe zu bringen, um darüber die unmittelbare, spirituelle Wahrnehmung zu erreichen. In der Geschichte vom Ochsen sieht die Autorin zunächst den Menschen als Suchenden. Er irrt in seinem Unbehagen umher. Im Bild zeigt sich der gesuchte Ochse zunächst überhaupt noch nicht auffindbar. Die Gedanken des Menschen sind hierhin und dorthin getrieben. Aber die Suche und das Bemühen um ein konstruktives Umgehen mit seinem Geist bewegen den Menschen voran. So entdeckt er im zweiten Bild dann auf dem Boden Spuren. Der Suchende nimmt diesen Teil der Wirklichkeit erstmals wahr. Er sieht den Geist in seinen Auswirkungen. Die Bewusstwerdung über den Geist und seine Folgen beginnt. Dann erscheint der Ochse. Der Geist wird in der jetzigen Ausprägung schmerzhaft wahrgenommen. Er erscheint noch überaus wild, in seiner Kraft nicht zu bändigen. Mit Geist ist hier zuerst die immer laufende Gedankenmaschine des Menschen gemeint.
Zölls empfiehlt Zazen, die stille Meditation des Sitzens, um den Geist langsam zur Ruhe zu bringen. Hier kommt die Disziplin ins Spiel. Sie ist nötig, um auf diesem Weg des Erkennens zu bleiben. Im fünften Bild ist ein Schritt gelungen, der Ochse gezähmt, der Geist zur Ruhe gebracht. Dass dies möglich ist, ist für viele Menschen, die das nicht erlebt haben, fast ein Wunder. Im sechsten Bild »Der Hirte kehrt heim auf dem Rücken des Ochsen« hat der Mensch gelernt, auf seinen Geist Einfluss zu nehmen. Danach verschwindet der Ochse, im achten Bild wird die Einheit erreicht: »Peitsche und Zügel, Ochse und Hirte sind spurlos zu Nichts geworden.« Die Trennungen sind aufgehoben. Das Verbindende, das Übergreifende wird zur Perspektive. Aber der Hirte geht nach der Zähmung des Ochsen nicht in den Rückzug: »Mit entblößter Brust und nackten Füßen kommt er herein auf den Markt. Das Gesicht mit Erde beschmiert, der Kopf mit Asche über und über bestreut.« Der Hirte bleibt im Leben, leistet seinen Beitrag, bleibt erdig und wird schmutzig. Aber eins ist anders, seine Haltung: »Seine Wangen überströmt von mächtigem Lachen.«
Das Verbindende, das Übergreifende wird zur Perspektive.
Insgesamt gibt Doris Zölls eine anschauliche Darstellung dieser alten Geschichte, der Philosophie des Zen und ermöglicht ein tieferes Verstehen der Notwendigkeit von Disziplin, um trotz aller Hindernisse und Ablenkungen auf dem Weg zu bleiben. Einige Fragen zum Zen-Weg bleiben für mich allerdings bestehen: Wie sehr ist die westliche Interpretation des Zen vom westlichen psychologischen Denken, insbesondere der Psychoanalyse, geprägt? Die unmittelbare Wahrnehmung sei überlagert. Was passiert bei dieser Überlagerung? Ist es ein ganz normaler Prozess, dass die wesentliche Wahrnehmung im Unmittelbaren und im Augenblick übertüncht ist? Liegt es am Bildungssystem, das in der Benennung und Konzeptualisierung aller Phänomene trainiert?
Die Rolle der Psychotherapie in der spirituellen Entwicklung wird von Doris Zölls erst relativ spät erwähnt, im Zusammenhang mit dem letzten der Ochsenbilder. Hier hätte ich mir einen deutlicheren Hinweis gewünscht. In der mönchischen Tradition der Klöster im Osten war die dauernde Begleitung des Zen-Schülers gewährleistet. Emotionale Ereignisse auf dem Weg, im Erleben und im Vollzug der spirituellen Entwicklung fühlen sich keineswegs immer leicht an. Meines Erachtens ist in der westlichen, nichtmonastischen Form Psychotherapie, persönliche Beratung oder Coaching als unterstützende Option des Zazen-Weges eine wichtige Ergänzung. Doris Zölls gibt in ihrem Buch viele Hinweise für eine zeitgemäße Ausdruckform des Zen-Weges. Sie können der Anfang eines Gesprächs darüber sein, wie ein spiritueller Entwicklungsweg, der in den zehn Ochsenbildern beschrieben wird, heute authentisch und konsequent gelebt werden kann.