Aufklärung 2.0

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 21, 2016

Mit:
Prof. Dr. Harald Walach
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AUSGABE:
Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Auf dem Weg zu einer Bewusstseinskultur

Gibt es eine Zukunftsperspektive, in der die Freiheit der Aufklärung und spirituelle Verbundenheit zusammenfinden? Harald Walach setzt sich für solch eine Integration von wissenschaftlicher Erkenntnis und spiritueller Praxis ein. Wir sprachen mit ihm über die Werte einer neuen Aufklärung und was diese für unsere Gesellschaft bedeuten könnte.

evolve: Sie sind Gesundheitswissenschaftler, Wissenschaftstheo­retiker, Zen-Praktizierender und leiten das Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa Universität Frankfurt/Oder. Einer Ihrer Schwerpunkte ist eine Erweiterung unserer wissenschaftlichen Weltsicht, die heute unserem gesellschaftlichen und politischen Denken zugrunde liegt. Inwieweit muss sich unser Denken heute verändern, um auch mit den momentanen gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen zu können?

Harald Walach: Ich denke, wir müssen heute in Betracht ziehen, dass unsere westliche Aufklärung vielleicht über ihr Ziel hinausgeschossen ist, weil sie implizit ein materialistisches Weltbild als verpflichtend annimmt. Dieses Weltbild wurde nie explizit bewiesen, ist aber die implizite Haltung, aus der sich politische, ökonomische und ökologische Folgen ergeben, wie z. B. das Primat des Profits und des wirtschaftlichen Wachstums.

Gesellschaftlich sehen wir heute eine säkularisierte Welt, die ihre Grundlagen nicht gut genug reflektiert hat. In Form des islamischen Fundamentalismus stößt sie auf Strukturen, die sich dieser Form von Aufklärung verweigern und dadurch entstehen natürlich gesellschaftliche Spannungen. Dabei gibt es zunächst die Gefahr, dass unsere Aufklärung nicht ausreichend wertgeschätzt wird. Das ist immer dann der Fall, wenn fundamentalistische Positionen Einfluss gewinnen – das gilt sowohl für fundamentalistische Christen, die die Evolution leugnen, als auch für fundamentalistische muslimische Gruppen, die den ganzen westlichen Kulturkreis ablehnen.

e: Was sind die Errungenschaften der Aufklärung, die wir verteidigen müssen?

HW: Ein entscheidender Wert unserer Aufklärung ist das Individuum und die unantastbare Würde und Freiheit des Einzelnen, sein Leben so zu gestalten, wie er oder sie es gerne möchte, ohne sich irgendwelchen Dogmen zu beugen. Ein weiterer Wert ist das Primat einer kritischen Vernunft gegenüber allen Formen von dogmatischer Bevormundung. Hier würde ich auch eine Bevormundung im Namen einer kurzsichtig missverstandenen Wissenschaftlichkeit einschließen. Darin zeigt sich, wo unser europäisches Projekt der Aufklärung über das Ziel hinausgeschossen ist. Der Dogmatismus, der in der westlichen Welt lange von der christlichen Religion ausgegangen ist, wurde überwunden, aber durch einen subtilen Dogmatismus ersetzt, der sich aus einer falsch verstandenen Wissenschaftlichkeit ableitet. Darin tut man so, als wenn es bewiesen wäre, dass es zum Beispiel nur materielles Sein gibt und alles andere irrelevant ist. Ich finde diesen Dogmatismus genauso gefährlich, weil er nicht erkannt und reflektiert wird.

Was ist (uns) heilig?

e: In dem kulturellen Konflikt, in dem wir stehen, geht es ja weniger um Wissenschaftstheorie, als um Wertehaltungen und Erfahrungszugänge zur Welt. Ich glaube, eine Dimension, die hier eine Schlüsselrolle spielt, ist die Relevanz des Heiligen. Ist die westliche Aufklärung auch in dem Sinne über ihr Ziel hinausgeschossen, dass ihr nichts mehr «heilig» ist? Es gibt oft die Grundhaltung, dass alles, was als heilig bezeichnet wird, verdächtig ist, was in einer postmodernen Version des Aufklärungsprojektes zu einer Kultur der Ironie führt, in der im Grunde alles ironisierbar ist.

HW: Ich bin mir nicht sicher, ob das Heilige als solches das Problem ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass nichts mehr außer unseren eigenen idealisierten Werten absolute Gültigkeit hat. Das Heilige kann auch eine Art Platzhalter für das Gefühl sein, dass es irgendetwas geben muss, das meine individuelle Relativität transzendiert. Man könnte aus einer westlich aufklärerischen Sicht sagen, dass es auch hier im Prinzip das Heilige gibt, nämlich das Leben schlechthin. Das ist auch in unserem Grundgesetz enthalten, aber es wird nicht mehr religiös überhöht. Wenn man diese «Heiligkeit» zu transzendieren versucht, dann brechen das ganze Regelwerk und die gesamte Wertekultur in sich zusammen.

Es ist also nicht nur ein Konflikt zwischen dem Westen und dem Fundamentalismus, es stellt sich letztlich auch innerhalb unserer Gesellschaften die Frage, ob wir eine dialektische Haltung entwickeln können: auf der einen Seite den Wert der Aufklärung und damit die Wendung gegen Dogmen aufrechtzuerhalten und auf der anderen Seite aber auch absolute Werte oder die Transzendenz individueller Perspektiven anzuerkennen. Für mich scheint der Kern des Problems darin zu bestehen, dass wir im Westen Gefahr laufen, diesen transzendenten Aspekt, der von Ihnen als »heilig« bezeichnet wird, zu entwerten. Und im islamischen Fundamentalismus wird der Wert des Individuellen, der persönlichen Freiheit, der Möglichkeit, sich sein Leben frei von dogmatischen Bindungen zu gestalten, entwertet.

e: Für mich stellt sich die Frage, ob es eine progressive oder aufgeklärte Spiritualität geben kann, die die Aufklärung nicht infrage stellt, sondern sie weiterentwickelt.

HW: In allen Religionen gibt es eine mystische Tradition, die einen ganzheitlichen Erkenntnisbegriff formuliert. Darin geht es darum, dass wir die Verbundenheit mit allem unmittelbar erkennen oder erfahren können und aus dieser Erfahrung heraus entsprechend handeln und unser Leben gestalten. Das ist im Prinzip auch der Versuch vieler philosophischer Strömungen gewesen, nur fehlte ihnen das Instrumentarium, um dies zu einer Lebenspraxis zu machen. Aus meiner Sicht wäre hier eine regelmäßige Praxis entscheidend, die in der buddhistischen Tradition als »Kultivierung des Bewusstseins« bezeichnet wird. Darin wird sich das Bewusstsein seiner eigenen Bedingtheit bewusst. Es ist eine geistige Hygiene, in der man sich von Fremdbestimmungen und konditionierten Gedanken und Gefühlen löst, um im konkreten Leben eine direkte Verbindung mit der Wirklichkeit zu erfahren. Und das bedeutet aus meiner Sicht eigentlich immer, die Verbundenheit mit allem zu erfahren. Aber darüber kann man viel reden, man muss es tun und sich selbst in eine Praxis begeben. Das ist der Schritt, um den es heute geht. Wir sollten eine allgemeine Hygiene des Geistes oder eine Kultivierung des Bewusstseins ganz selbstverständlich in unser alltägliches Leben implementieren.

Erfahrung statt Dogma

e: Diese auf eigene Praxis basierenden mystischen Strömungen gibt es ja in allen Weltreligionen. Hier zeigt sich auch ein verbindendes Potenzial.

HW: Ja, und es gibt auch eine Verbindung zwischen diesen mystischen Unterströmungen der großen Weltreligionen und einer modernen, wissenschaftlichen Haltung, denn beide basieren auf Erfahrung. Mystiker beziehen sich ja im Gegensatz zu Dogmatikern auf die direkte Erfahrung. Für die Mystiker ist dies die Erfahrung der Verbundenheit, die wir heute in die Aufklärung einführen müssen. Denn das ist meines Erachtens der Punkt, wo unsere Aufklärung über das Ziel hinausgeschossen ist, weil sie die Trennung zwischen Subjekt und Objekt gewissermaßen dogmatisch festschreibt und damit selber wieder zu einem Dogmatismus wird, der sich eigentlich relativieren sollte.

e: Im gesellschaftlichen Diskurs gab es in den letzten zehn Jahren ein interessantes Ereignis: Jürgen Habermas, einer der größten Sozialphilosophen der Gegenwart, hat den Begriff einer postsäkularen Gesellschaft geprägt. Er bezeichnet sich selbst als »religiös unmusikalisch«, was eine interessante Formulierung ist, weil jemand, der sich als unmusikalisch bezeichnet, nicht die Existenz von Musik bezweifeln würde. Im Grunde geht Habermas davon aus, dass religiöse Werte in traditionellen Gesellschaften eine Orientierung gegeben haben, die eine säkulare Kultur so nicht setzen kann, weil sie zu relativistisch ist.

HW: Ja, da hat er wohl recht. Die überschießende Aufklärung hat das Wertegefüge zerlegt, nicht im juristischen Sinne, aber im moralischen, konzeptuellen Sinne. Wenn wir uns die Aussagen mancher Neurowissenschaftler ansehen, dann wird dort im Extrem und in der Konsequenz gefordert, das Strafrecht abzuschaffen, weil die Menschen in ihren Entscheidungen unfrei sind. Das hängt damit zusammen, dass durch die Aufklärungsbewegung das Fundament für ethische Normen ein Stück weit relativiert worden ist und dass es dadurch sehr schwierig wird, sie neu zu verhandeln. Bislang war die Basis für Werte vor allem die Religion. Fällt diese als Kollateralschaden einer missverstandenen und überschießenden Aufklärung völlig weg, dann ist auch die Grundlegung von Werten gefährdet. Wir können sie dann im Grunde nur noch politisch verhandeln, und das ist immer relativ.

Erkenntnis von innen

e: Glauben Sie, dass so etwas wie eine postsäkulare Kultur oder eine Inte-gration von Spiritualität und Wissenschaft eine reale Möglichkeit ist? Und dass daraus neue Lösungen für den Konflikt, den wir am Anfang beschrieben haben, gefunden werden können?

HW: Ja, ich sehe nicht, dass wir eine andere Möglichkeit haben. Die Errungenschaften unserer säkularen Entwicklung – wozu natürlich auch die Wissenschaft gehört – zu negieren, wäre aus meiner Sicht kultureller Selbstmord. Aber Stagnation zu predigen und so zu tun, als hätten wir schon alles erfahren und erkannt, ist reine Hybris und Überheblichkeit. Das ist genau die Überheblichkeit, die uns von vielen fundamentalistischen Gruppen vorgeworfen wird. Wir müssen einen Schritt weitergehen und dazu gehört für mich eine neue Form von Erkenntnis innerhalb der Wissenschaft, zu der auch eine Erkenntnis durch innere Erfahrung gehört. Daraus würden sich die Werte und Sinnstrukturen als erkannte – und nicht nur geglaubte oder akzeptierte – Werte ergeben.

Vielleicht wird dieser Schritt an einem Beispiel klarer. Wenn jemand mit Meditation beginnt, dann wird er oder sie durch diesen Prozess seinen Geist beruhigen und klären und zu Einsichten kommen, zum Beispiel über die Struktur des Lebens. Durch die Schulung von innerer Wahrnehmung, Innenschau oder innerer Erfahrung kommt der Mensch zu Einsichten über die Struktur der Welt. Dazu gehören aus meiner Sicht auch Sinnstrukturen, die wir direkt und unmittelbar erkennen können. Zum Beispiel, dass es nicht richtig ist, einem anderen Menschen Leid zuzufügen. Solche Grundsätze wurden auch von Religionsgründern aufgestellt und dann mit dem Etikett Gottes versehen und erhielten dadurch ihre Gültigkeit. Aber die Religionsgründer haben Erfahrungen gemacht und daraus diese ethischen Grundsätze formuliert. Durch eine neue Wertschätzung innerer Erfahrung können solche geglaubten oder akzeptierten Grundsätze zu solchen werden, die wir durch die eigene Erfahrung oder Erkenntnis nachvollziehen können.

e: Sie haben die Bedeutung einer Bewusstseinsübung für die individuelle Ebene angesprochen. Sehen Sie auch die Möglichkeit für gemeinsame, gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Praktiken einer Bewusstseinskultur?

HW: Ich denke durchaus, dass dies auch gesellschaftlich und vielleicht sogar wissenschaftlich vermittelbar ist. Das Problem ist, dass wir im Moment wissenschaftlich gesehen keinen Begriff von solch einer Methodologie der Erfahrung haben, weil wir die letzten 750 Jahre unserer westlichen Wissenschaft darauf verwendet haben, die äußeren Erfahrungen, also Sinneserfahrungen, zu stabilisieren und zu nutzen. In diesem Bereich haben wir mittlerweile viele Erkenntnisse gewonnen und besitzen eine robuste Methodik. Aber wie wir innere Erfahrungen stabilisieren können und was das genau ist, wissen wir eigentlich nicht. Wir haben in unserer Wissenschaftskultur keinerlei Methodik dafür entwickelt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass dies ein nächster wichtiger Schritt ist, in dem dann auch kollektive Prozesse stattfinden, die diese Praktiken und Erkenntnisse sichern können. Das wären Prozesse einer »Wissenschaft von innen«.

Die individuelle innere Erfahrung wird ein Anfang sein, aber es kann natürlich nicht nur im Individuellen bleiben. Auch die wissenschaftliche Erfahrung hat sich zu einer kollektiven Erfahrung entwickelt und dazu geführt, dass wir bestimmte gültige Erkenntnisse über die Welt gewonnen haben. Genauso wird es eine Form von kollektiver innerer Erfahrung geben müssen, die am Ende auch zu gültigen Erfahrungen über die Struktur der Welt kommt und das wären dann zum Beispiel Sinn- und Werte-Strukturen. Viele Erkenntnisse werden individuell bleiben, aber Werte sind ihrer Natur nach über-individuell.


Author:
Dr. Thomas Steininger
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