Aus der Quelle schöpfen

Our Emotional Participation in the World
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Projekt-Interview
Publiziert am:

July 14, 2015

Mit:
Silke Weiss
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AUSGABE:
Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Wege in eine nachhaltige Lernkultur

Silke Weiß bietet in ihrem Programm LernKulturZeit ein Training an, das neue Perspektiven auf Bildung vermittelt. Wir sprachen mit ihr über Wege, wie jeder von uns zum Gestalter einer nachhaltigen Lernkultur werden kann.

evolve: Du engagierst dich für eine neue Lernkultur. Was ist dir dabei besonders wichtig?

Silke Weiß: Ein wichtiger Punkt einer neuen Lernkultur ist, dass wir nicht mehr fragen, »Wie intelligent bist du?«, sondern, »Wie bist du intelligent?« Wir möchten verschiedene Dimensionen oder Entwicklungslinien der Menschen ansprechen – auch die emotionale, soziale und spirituelle Dimension. Dazu gehört, dass wir uns nicht mehr hinter Methoden verstecken, sondern wirklich in den Kontakt mit den einzelnen Menschen gehen und uns als solche ganz begegnen, jenseits von Rollen. Die negativen Folgen unserer Leistungsgesellschaft fordern ein Umdenken. Die Hauptfrage ist nun: Was will sich durch jeden Menschen, durch jedes Kind ausdrücken? Um die Menschen und uns selbst darin tiefer wahrzunehmen, schulen wir die intuitive und transpersonale Wahrnehmung. Eine neue, eine beseelte Lernkultur zu gestalten, erfordert mehr als ein Arbeitsblatt, das man dann austeilen kann, es braucht die gemachte Erfahrung davon. In der LernKulturZeit erfahren wir, wie sich ein Raum anfühlt, in dem ich als die- oder derjenige akzeptiert werde, die oder der ich bin. Aus dieser Erfahrung heraus und in Verbindung mit dem gefühlten Raum kann ich diesen dann auch anderen für ihre Entwicklung zur Verfügung stellen.

e: Wie schaffst du solch einen Raum?

SW: Ich glaube nicht, dass ich ihn erschaffen kann, er entsteht in der Gruppe durch Präsenz und Fokussierung auf das, was uns verbindet. Ein Aspekt ist zunächst der Blick nach innen, die Reflexion über die eigenen Erfahrungen und dann das Teilen mit anderen. Wenn ich ernst nehme, was in mir passiert, binde ich mich wieder an meine innere Stimme an. In dieser Anbindung an meine Tiefe kann ich eine neue Quelle für mein Tun und eine Antwort auf die Frage finden: Was will ich wirklich und worin liegt für mich der Sinn?

e: Was zeigt sich im Feedback der Teilnehmer deiner Trainings als die wichtigste Lernerfahrung?

SW: Sie schätzen die Erweiterung ihrer Perspektiven: Andere Menschen besser zu verstehen und zu erkennen, von welchem Platz aus sie handeln und sprechen, weckt ein größeres Verständnis und schafft Spielraum im erlebten Umgang. Wenn ich bei »schwierigen« Kollegen oder Schülern verstehe, was ihnen am Herzen liegt, findet sich leichter eine neue Basis für die Zusammenarbeit, und die Empathiefähigkeit steigt. Weil ich stärker spüre, was ich eigentlich will, wächst das Erleben der eigenen Authentizität. Habe ich mich vielleicht jahrelang verbogen, um meinen Job nicht zu verlieren? Folge ich noch meiner Berufung? Manche Menschen entscheiden, dass die Arbeit in den alten Institutionen für sie nicht mehr passt. Andere erleben ihre ­besondere Qualität und bringen sie dort ein, wo sie tätig sind.

e: Wie bist du dazu gekommen, dich so für die Gestaltung neuer Bildungswege zu engagieren?

SW: Ich hatte eine sehr schöne eigene Schulzeit und war später Lehrerin am Gymnasium für Biologie, Chemie, Deutsch und Spanisch. Ich habe meinen Beruf geliebt und konnte mich darin kreativ ausleben. Aber mit der Zeit habe ich die Grenzen des Lernparadigmas gesehen, in dem ich mich bewegte. In meinem Arbeitsumfeld war wenig Raum für die eigene Innerlichkeit und für den Austausch mit Kollegen über unser tieferes Anliegen in der Arbeit mit Kindern. Und ich sah immer mehr, wie Schüler zu angepassten Befehlsempfängern und Pflichterfüllern wurden. In mir entstand der Wunsch, ihnen die Freude am Lernen zurückzugeben, die mir selbst – auch heute noch – so wichtig ist. In meiner anschließenden Unizeit erforschte ich den Paradigmenwechsel vom Lehrer zum Begleiter über den Einsatz neuer Medien, aber schon bald merkte ich, dass es letztendlich um Fragen der eigenen Haltung geht. Muss ich als Lehrerin immer alles möglichst perfekt wissen und das den Schülern beibringen? Bin ich bereit, Räume entstehen zu lassen, in denen wir uns miteinander erfahren, uns ausprobieren und unsere Kompetenzen einbringen können? Aus vielen Erfahrungen heraus habe ich Fortbildungen konzipiert und bald gemerkt, dass diese besonders wirksam sind, wenn sie an Orten stattfinden, wo eine neue Lernkultur bereits gelebt wird, wie z. B. in der Lebensgemeinschaft Schloss Tempelhof. So ist die LernKulturZeit entstanden.

¬ WIR ALLE SIND AUFGERUFEN, DIE LERNORTE ZU SCHAFFEN, DIE WIR UNS WÜNSCHEN. ¬

e: Warum sind solche Orte so wichtig für dich?

SW: Das sind für mich Zukunftsinseln der Kulturveränderung hin zu einer nachhaltigen Gesellschaftsgestaltung. Während der Module tauchen wir in den Organismus einer Gemeinschaft ein und nehmen dadurch Informationen jenseits der Seminarinhalte auf. Dass Orte zu Inhalten passen, ist für mich einer von drei Aspekten nachhaltigen Lernens: Wie effektiv lerne ich? Wie gut unterstützt mich meine Umgebung beim Lernen? Und wie sinnvoll ist das, was wir lernen, für das Wohl des Ganzen. Oder anders gefragt: Wie weit blicken wir? Langfristig brauchen wir als Gesellschaft Menschen, die sich als Teil des Ganzen erfahren, die sich als Teil der Natur erleben und mit ihr verbunden sind. Dann wird der »Naturschutz« zu einem inneren Bedürfnis. Diese Verbindung mit der Natur bezieht sich sowohl auf äußere als auch innere Natur, es ist eine tiefe spirituelle Arbeit, in der wir zum Beispiel durch Kontemplation, Stille oder Naturerfahrung wieder zu unseren inneren Quellen kommen.

e: Denkst du, wir brauchen einen radikalen Umbau des Bildungssystems oder unterstützt du Lehrer, die zu dir kommen, dieses System sozusagen von innen zu verändern?

SW: Ein System ist an sich nichts Schlechtes, es hat die Eigenschaft, sich zu bewahren. Wir können nicht erwarten, dass es sich von alleine verändert. Wir können aber durch Bewusstseinsarbeit dazu beitragen, dass Menschen erkennen, dass sie Teil des Systems sind und an ihrem Platz die Möglichkeit haben, etwas zu verändern. Solch eine Kulturbildung passiert nicht von heute auf morgen, denn »das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht«.

Wo immer es geht, versuche ich Brücken zum Schulsystem zu bauen: Die LernKulturZeit ist vom staatlichen Schulamt in Hessen als Fortbildung anerkannt und erhält von der Hochschule RheinMain eine Zertifizierung zum Lernkultur-Coach für Potenzialentfaltung. Gleichzeitig weiß ich um die Belastungen im System: Viele Lehrer leiden unter Burn-out, Schüler stehen unter enormem Leistungsdruck. Ich glaube nicht, dass eine bestimmte Schulform oder die eine »richtige« Methode der Weg ist. Es bleibt ein Raum von Nichtwissen, denn niemand weiß schon jetzt, wie ein anderes Bildungssystem aussehen kann. Es geht vielmehr darum, es gemeinsam herauszufinden. Schüler, Eltern und Lehrer können schauen, was ihnen wichtig ist, welche gemeinsamen Werte und welche Kultur sie miteinander leben wollen im Rahmen der konkreten Voraussetzungen. Jede Schulgemeinschaft braucht den Diskurs darüber, was eigentlich der Sinn von Bildung ist und muss für sich eine eigene Ethik finden. Dann werden Schulen lebendige Organismen. Wir alle sind aufgerufen, die Lernorte zu schaffen, die wir uns wünschen. Das ist ein radikaler Schritt in die Selbstverantwortung, wo wir nicht mehr warten, bis uns eine neue Lösung vorgegeben wird.

Author:
Mike Kauschke
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