Ein Nachruf an Gerhard Wehr
Am 22. April ist der Autor und Biograf Gerhard Wehr im Alter von 83 Jahren gestorben. Bekannt wurde er durch seine zahlreichen, sehr profunden Publikationen zur christlichen und jüdischen Mystik, zur Tiefenpsychologie, Alchemie und Anthroposophie.
Zum ersten Mal begegnete mir Gerhard Wehr vor fast 20 Jahren durch sein Buch »Spirituelle Meister des Westens«. Darin finden sich Kurzbiografien und Werkbeschreibungen zahlreicher Denker wie Rudolf Steiner, Jiddu Krishnamurti, G. I. Gurdjieff, C. G. Jung, Karlfried Graf Dürckheim und Valentin Tomberg. Schon damals faszinierten mich die breit gefächerte Darstellung und Wehrs Versuch eines brückenschlagenden Dialoges, der sein ganzes Werk durchzieht. In Bubers Sinne war es Wehr stets ein Anliegen, für die »Anderheit des Anderen« offen zu stehen und sich unvoreingenommen auf das ihm begegnende Du einzulassen. Wehr lag nie daran, einen Denker über den anderen zu stellen, vielmehr suchte er, ohne je müde zu werden, nach immer neuen Verständnismöglichkeiten. Er suchte Ergänzendes und Bereicherndes, um durch diese befruchtende Zusammenschau das Bewusstsein zu weiten. Bei der Lektüre bewegte mich ganz besonders ein Wort des Augustinus, das Wehr oft und gerne zitiert hat. Auch ich möchte es hier zitieren, da es mir wie ein Leitsatz von Wehrs Denken erscheint: »Lasst uns – auf beiden Seiten! – jede Überheblichkeit ablegen. Lasst uns auf keiner Seite behaupten, wir hätten die Wahrheit schon gefunden. Lasst sie uns gemeinsam suchen, als etwas, das keiner von uns kennt. Denn nur dann können wir in Liebe und Frieden suchen, wenn wir auf die dreiste Annahme verzichten, sie bereits entdeckt zu haben und zu besitzen.«
¬ ES WAR IHM STETS EIN ANLIEGEN, FÜR DIE »ANDERHEIT DES ANDEREN« OFFEN ZU STEHEN. ¬
Es ist eben dieser bescheidene und versöhnliche Ton, den ich an Wehrs Büchern besonders schätzen lernte. Seine dialogische Ader regte auch mich dazu an, mit den verschiedensten spirituellen Schulen das Gespräch zu suchen und mich nicht in der Enge einer einseitigen Weltsicht abzuschließen. Die bunte Vielfalt des unablässig sprudelnden Geistesstroms ist ein Geschenk, das uns an den Seelenreichtum erinnert, der in uns allen drauf wartet, entdeckt zu werden. In diesem Sinne räumte Wehr der eigenen Erfahrung einen entscheidenden Platz ein. Wie die Mystiker vertrat er die Ansicht, dass die inneren Wahrnehmungen ein kostbares Gut sind, dem wir uns anvertrauen sollten. »Voll zur Geltung kommen muss in jedem Fall der Faktor der eigenen Erfahrung. Ihm ist vor der ›reinen Lehre‹ des einen wie des anderen Lehrers Priorität einzuräumen.« So viele Lehren Wehr kongenial beschrieb, so wollte er doch nie diese Lehren dazu benutzen, um den Leser von etwas zu überzeugen. Wehr wollte dazu anregen, dass wir uns selbst auf den Weg der inneren Erfahrung begeben. Die Geistesgrößen, von denen er schrieb, sind Helfer und Inspiratoren auf diesem Weg, aber sie ersetzen nicht die Notwendigkeit, dass wir uns selbst aufmachen und uns auf das eigene Wagnis einlassen.
Die spirituelle Szene ist geprägt von schillernden Figuren, von selbst ernannten Meistern und Gurus, die, bei aller Weisheit, von der sie erzählen, doch auch oft von narzisstischen Motiven geleitet werden. Ganz anders Gerhard Wehr, der sich nie in den Vordergrund spielte. Er wollte kein großer Lehrer sein und lehrte doch durch seine tiefe Bescheidenheit sehr vieles. Persönlich bin ich Gerhard Wehr nur ein einziges Mal begegnet. Ich sah ihn nur wenige Minuten, doch vor mir stand ein Mann, der lebte, was er schrieb. Er wirkte genauso bescheiden, wie seine Werke vermuten ließen. Gerhard Wehr schien mir auch scheu und zerbrechlich, aber gerade diese Seite seines Wesens weckte meine besondere Sympathie, da er in aller Stille nach der Wahrheit suchte, ohne sich vom Glanz der Welt blenden zu lassen.