Oder: Warum wir einen modernen Begriff der Seele brauchen
Wie viele andere weiterdenkende und -fühlende Menschen gehe ich davon aus, dass wir am Beginn des Übergangs in eine in vieler Hinsicht andere Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur stehen. Sogar der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen einigte sich dafür auf den erstaunlichen Begriff einer »Großen Transformation«. Man schrieb dort von den nötigen »Pionieren des Wandels« und dass diese eine neue Art von Bildung und Forschung brauchen. Viel weiter ging der sicher nicht einfach errungene Konsens des Beirats jedoch nicht, denn bei der näheren Beschreibung der Koordinaten dieser Großen Transformation verblieb man weitgehend in den vorwiegend äußeren Denkmustern des Bisherigen. Das wird jedoch nicht ausreichen.
Gesellschaftliche bzw. kulturelle Systeme haben zwei sich ergänzende »Stabilisierungsmechanismen«. Einen »tiefenkulturellen«: die vor allem in sensiblen Phasen der Kindheit und Jugend durch Bezugspersonen und Schulen vermittelte Prägung unserer Primäremotionen zu einer kulturell passfähigen »emotionalen Matrix«. Und einen »hochkulturellen«: die alltägliche Legitimation der jeweiligen Gesellschaft bzw. Kultur bzw. emotionalen Matrix durch übliche Medien – früher Markt und Kirche, heute für ältere Generationen vor allem Radio und Fernsehen, für jüngere immer mehr die neuen Medien. Doch beide Stabilisierungsformen nutzen ein gemeinsames Kulturphänomen: Worte bzw. Begriffe, also Zeichen bzw. Symbole, die jeweils komplexe Gefühls- und Bedeutungsgehalte codieren und kommunikativ vermitteln. Deshalb sind – wie z. B. Berthold Brecht in seinem »Me-ti. Buch der Wendungen« schön formulierte – Begriffe für uns, bei aller Emotionalität letztlich hirngesteuerte Menschen, so etwas wie Be-Griffe, also geistige Griffe, mit denen wir die Welt formieren und bewegen. Haben wir die falschen oder zu schwachen Be-Griffe, nützt uns alle Anstrengung mit noch so guten Absichten wenig – dann verpulvern wir unsere Energie ohne entsprechende Wirkungen.
¬ WIE KÖNNEN WIR DIE GANZHEITLICHKEIT VORMODERNER UND DIE KONKRETHEIT MODERNER BEGRIFFE NEU INTEGRIEREN? ¬
Da Systeme aller Art sich primär selbst erhalten müssen und daher gegen Wandlungen oder gar Große Transformationen eher schützen als diese forcieren, ist verständlich, warum diese eigentlich dringend nötige Erforschung und Entwicklung der Be-Griffe für eine neue Gesellschaft und Kultur in den eigentlich für Begriffe zuständigen Subsystemen moderner Kultur kaum stattfindet. Sowohl Universitäten als auch die hierzulande reichlich ausgestatteten diversen öffentlichen Institutionen moderner Wissenschaft und Kultur widmen sich dieser Aufgabe quasi gar nicht. Man lehrt und erforscht dort zweifellos auch nützliche Aspekte einer ökologischen Welt wie Solarenergie oder Meeres- und Artenschutz. Weiterdenkende Zukunftsforscher wie Rudolf Bahro (der in diesem Jahr 80 geworden wäre) beschrieben diese Art von Tätigkeit als »Besenschwingen auf der (untergehenden) Titanic«.
Als Reaktion auf dieses Ungenügen moderner Wissenschaft und Kultur blühen jenseits davon viele alternative Gefühls- und Denkansätze. Oft greifen sie auf jene Begriffe zurück, die von der modernen Kultur verdrängt wurden, doch einstmals ganzheitlichere Weltwahrnehmungen und -bewahrungen ermöglichten, wie beispielsweise »Natur«, »Gemeinschaft«, »Spiritualität«, »Selbst« oder auch »Seele«. Doch meist führt das nicht wirklich weiter, da sie genau daran scheitern, wodurch diese früheren Wirklichkeiten der modernen Kultur unterlagen: Sie sind zu undifferenziert und unkonkret und damit für die Entwicklung einer nachhaltigen und trans-modernen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ebenso unpraktisch wie die modernen Begriffe.
Aus all dem ergeben sich die Konsequenz, Frage und Aufgabe: Wie entstehen entsprechend trans-moderne Kommunikationsmedien und Bewusstseinsentwicklungsnetzwerke, welche die Ganzheitlichkeit vormoderner und die Konkretheit moderner Begriffe integrieren? Als neue Kulturentwicklungsräume, die komplexere Weltsichten mit seelisch inspirierenden Resonanzen integrieren? Obwohl Jean Gebser und Aurobindo Ghose, als frühe Schöpfer des Begriffs »integraler« Kulturen, beide genau dieses intendierten, fehlt der heutigen »integralen Bewegung« meist diese »seelische« Dimension – mit der Folge, dass die integrale Bewegung zwar einige Intellektuelle umfasst, doch kaum größere Be-Geisterung darüber hinaus bewirkt. Welche Räume sich in dieser Seelendimension zu öffnen vermögen, lässt sich bei Aurobindo bereits erahnen: »Wenn Wissen die weiteste Macht des Bewusstseins der Seele ist, und seine Aufgabe darin besteht, zu befreien, so ist dennoch die seelische Liebe ihre tiefste und intensivste Macht. Nur diese spürt die rational kaum fassbaren tiefsten Dimensionen des evolutionären Mysteriums und ist diesen näher als der menschliche Intellekt in seinem Wissensstolz.«