Bewusstsein auf Entdeckungsreise

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

October 26, 2015

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Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Der Wandel westlichen Denkens im globalen Dialog

Globaler Dialog ist die lebendige Frage, wer wir sind und wer wir werden können. In ihrem kulturanthropologischen Streifzug betrachtet evolve-Redakteurin Nadja Rosmann, wie im Kulturkontakt die Dynamik zwischen dem Vertrauten und dem Fremden neue Bewusstseinsbewegungen möglich werden lässt.

Der Papst entschuldigt sich bei der indigenen Bevölkerung Amerikas für Jahrhunderte der kulturellen Einflussnahme, ja Unterdrückung durch die katholische Kirche. In Berlin wird mit dem Humboldt-Forum ein Megaprojekt entstehen, das die Teilhabe der Weltkulturen im internationalen Austausch stärken will. Es wirkt beinahe, als solle das 21. Jahrhundert zum Zeitalter eines globalen Dialogs werden. Eines Dialogs, der die alten Definitions- und Machtstrukturen, die sich seit den großen »Entdeckungsreisen« des 15. Jahrhunderts etabliert haben, durchlässiger werden und ein neues und wechselseitiges Miteinander hervortreten lässt.

Dieser Prozess fordert unser kulturelles, ja menschliches Selbstverständnis heraus. Das westliche Bewusstsein, das sich über Jahrhunderte eines Führungsanspruchs im globalen Prozess gewiss war, beginnt zu erahnen, dass in der Vielfalt der Weltkulturen Schätze schlummern, die zu erkennen ein völlig neues Sensorium erfordert. Das Sich-Vortasten zu Wertigkeiten jenseits des verinnerlichten Vorstellungsvermögens fragt nach einer Berührbarkeit, die sich nicht nur für bisher Übersehenes und Fremdes öffnet, sondern zugleich das Eigene, das zutiefst Vertraute, diesem Erkundungsprozess anvertraut.

Kulturelle Wunden heilen

Es war ein denkwürdiger Moment, als Papst Franziskus während seiner Südamerika-Rundreise im Sommer in Bolivien mit Vertretern der Volksbewegungen des Kontinents zusammenkam. Das Oberhaupt der katholischen Kirche war nicht zum Predigen gekommen. Franziskus wollte den Dialog. Im Bewusstsein, dass wirkliche Gespräche nur in aufrichtiger Offenheit gedeihen, stellte er die Autorität seines Amtes hintan, ja infrage. »Ich bitte demütig um Vergebung, nicht nur für die Sünden der Kirche selbst, sondern auch für die Verbrechen gegen die indigenen Völker während der sogenannten Eroberung Amerikas«, waren seine Worte. Ein Foto, das Franziskus zeigt, wie er mit einem Nachfahren der bolivianischen Ureinwohner spricht, der festlich und erhaben den traditionellen Federschmuck seines Stammes trägt, verdichtet Jahrhunderte wechselvoller und tragischer Geschichte in einem Augenblick – und eröffnet eine Ahnung, dass in diesem Zwischenraum zwischen zwei Menschen und ihren Kulturen die Möglichkeit einer anderen Zukunft wachsen könnte.

Als ich in den frühen 1990er Jahren mit dem Studium der Kulturanthropologie begann, war die Bekanntschaft mit dem Kulturrelativismus für mich wie ein Befreiungsschlag. Als engagierter Teenager rieb ich mich an den weltpolitischen Einseitigkeiten und den wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, die für mich einer kulturellen Unterjochung anderer Völker gleichkamen. Mich interessierte technologischer Fortschritt genauso wie die Praktiken indigener Kulturen. Die Möglichkeit, meine Hausarbeiten auf einem Computer zu schreiben statt auf einer klapprigen Schreibmaschine, bedeutete für mich Freiheit, ebenso wie die schamanischen Methoden der amerikanischen Ureinwohner, mit denen ich mich in meiner Freizeit beschäftigte. Entwicklung war für mich nicht der Weg von »rückständig« nach »fortschrittlich«, sondern ich suchte in der Erfahrung des Neuen wie des Fremden nach tieferer Bedeutsamkeit.

¬ IN DER BERÜHRUNG MIT DEM FREMDEN VOLLZIEHT SICH EINE INITIATION DES BEWUSSTSEINS. ¬

Die Nacktheit der Zivilisierten

Wo meine eigenen kulturellen Erkundungen ein Herzensprojekt waren, stellt heute das Erstarken ganzer Kulturräume, die einst als unzivilisiert galten, über die Jahrhunderte gewachsene Wahrnehmungskategorien des Westens auf breiter Basis infrage. Im vergangenen Jahr überholte China die Vereinigten Staaten und war die größte Volkswirtschaft der Welt. Ab etwa 2050 wird sich das Christentum, dem rund ein Drittel der Weltbevölkerung angehört, diesen Spitzenplatz mit den Muslimen teilen. Der augenscheinliche Verlust der Deutungshoheit unserer eigenen kulturellen Per­spektive fordert uns sehr offensichtlich heraus, uns mit der Vielfalt der Weltkulturen auf neue Weise zu verbinden.

Das Humboldt-Forum in Berlin, für das im Sommer Richtfest gefeiert wurde, erhebt für sich den Anspruch, ein gleichberechtigteres Miteinander der Weltkulturen zu etablieren. Hier sollen die Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz einmal ihre eindrucksvollen Sammlungen mit Exponaten aller Kontinente präsentieren, und dies unter den Vorzeichen einer »shared heritage«, was bedeutet, dass man Vertreter der Herkunftskulturen der Ausstellungsstücke künftig an deren Darstellung beteiligen möchte. »Das Humboldt-Forum wird Erfahrungen mit außereuropäischer Kunst und Kultur und dadurch Wissen über die Welt vermitteln, interkulturelle Begegnungen ermöglichen und so die Menschen neugierig machen und für andere Welten begeistern. Zukunftsfähige Formen des Umgangs mit dem Fremden und dem Anderen zu finden, ist in einer Zeit, in der die Kulturen der Welt in noch nie dagewesener Vielfalt, Geschwindigkeit und Komplexität aufeinandertreffen, eine Frage des guten Zusammenlebens. Das Verstehen kultureller Vielfalt und die Dialogbereitschaft sind wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung unserer Zukunft«, beschreibt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das ambitionierte Anliegen.

Bewusstsein braucht Bewegung

Ähnlich wie die Abbitte des Papstes zeugt die Agenda des Humboldt-Forums von einer Zäsur im zeitgenössischen Bewusstsein. Das moderne Selbstverständnis, das seine Überlegenheit über Jahrhunderte aus geopolitischer Macht und technologischem Fortschritt speiste, wird sich seiner Relativität bewusst. Und es steht gerade erst am Anfang herauszufinden, was dies für das, was es glaubt selbst zu sein, bedeutet. »Verstehen ist etwas ganz anderes als übersetzen. Es ist nicht die Zurückführung des Fremden auf ein Bekanntes, vielmehr das Ergebnis der Initiation in eine fremde Lebensform«, so der Ethnologe Hans Peter Duerr. Initiation ist ein radikaler Akt, denn sie sprengt die bisherige Identität. Und vielleicht ist diese Radikalität eine notwendige Voraussetzung für neue Formen des globalen Dialogs. Zumindest ist schwer vorstellbar, dass die Geisteshaltung, die über Jahrhunderte die Asymme­trien im weltweiten Kulturkontakt herbeigeführt hat, aus sich selbst heraus die Voraussetzungen für ein neues Miteinander kreiert.

Kritiker des Humboldt-Forums bemängeln deshalb auch, »eine punktuelle Umkehrung der Blickrichtung würde nicht genügen, um den kosmopolitischen Anspruch einzulösen. Es bedürfe eines Gesamtkonzepts, das die Frage nach der Perspektive, nach dem Ort, von dem her die Welt betrachtet werden soll, in seinen Mittelpunkt stellt« (»FAZ«). Das Herausfordernde dabei: Die Augen, die auf andere Kulturen blicken, können sich selbst nicht sehen. »Sobald eine kohärente Sicht der Wirklichkeit in uns etabliert ist, neigt sie dazu, zur alleinigen Realität zu werden, die alle rivalisierenden Möglichkeiten herausfiltert«, beschreibt die Linguistin und integrale Denkerin Susanne Cook-Greuter die Schwierigkeit, aus dem eigenen Bewusstsein herauszutreten. Die Stärke westlicher Weltzuwendung liege vor allem in der kognitiven Analyse: »Unser Denken wird in der Regel durch Linearität und eine logisch-­deduktive Präferenz gekennzeichnet. Wir verlassen uns auf einen analytischen Prozess der Differenzierung und auf klare Innen-­Außen- oder Subjekt-Objekt-Unterscheidungen. Und wir tendieren dazu, das Wachstum des Geistes durch seine Fähigkeit zu definieren, immer feinere Kategorisierungen vornehmen zu können.«

Spirituelles Lebensnetz

Herausragender Ausdruck dieses Vermögens ist beispielsweise die integrale Theorie, die es mit ihrem detaillierten Raster erlaubt, kulturelle Ausdrucksformen in ihrer Bedeutsamkeit zueinander in Beziehung zu setzen. Sie bringt das von den »zivilisierten« Kulturen lange Zeit geschmähte »Wilde« wieder in die Sichtbarkeit und schafft ein Panorama der kulturellen Fülle der Gegenwart. »Gemeinsam formen die unzähligen Kulturen und Sprachen ein intellektuelles und spirituelles Lebensnetz, das diesen Planeten umhüllt. Man könnte sich dieses soziale Lebensnetz als die Ethno­sphäre denken, als die Gesamtsumme aller Gedanken und Intuitionen, Mythen und Glaubenssätze, Ideen und Inspirationen, die von der menschlichen Vorstellungskraft seit dem Beginn des Bewusstseins erschaffen wurden«, beschreibt Wade Davis, Explorer in Residence der National Geographic Society, dieses Wunder des menschlichen Daseins. Gelänge es dem Humboldt-Forum, diese Bewusstseinslandschaft auszuleuchten, wäre bereits viel gewonnen.

¬ DER VERLUST DER DEUTUNGSHOHEIT UNSERER KULTURELLEN PERSPEKTIVE FORDERT UNS HERAUS, UNS MIT DER VIELFALT DER WELTKULTUREN AUF NEUE WEISE ZU VERBINDEN. ¬

Mein eigener schwärmerischer Multikulturalismus fand in der integralen Theorie vorübergehend zu einer Art Erlösung. Meine schamanischen Reisen als Bereicherung des Seelenlebens fanden auf der integralen Landkarte genauso ihren Platz wie die technologischen Errungenschaften der Moderne, die die äußere Welt gestalten. Alles war nun Teil dieses einen Bildes. Eines Bildes, dessen intellektuelle Umfassendheit Strahlkraft entfaltete. Doch mit der Zeit wirkte es auf mich auch irgendwie blass. Es war nämlich nur ein Bild. Eine Momentaufnahme, die alles, was war und ist, vereint, jedoch nicht die Lebendigkeit des Lebens selbst erfahrbar werden lässt. Die keine Koordinaten kennt für Begeisterung und für das, was entstehen könnte, wenn man die Puzzle-Teile immer wieder neu kombiniert: das Versprechen der Zukunft, die aus diesem kulturellen Reichtum erwachsen könnte.

Sich für die Lebendigkeit entscheiden

Am Beispiel des europäischen Ringens in der Griechenland-Krise beschreibt der Philosoph Byung Chul-Han, dass wir heute mehr denn je gefragt seien, einen »ganz neuen Seinszustand« hervorzubringen, aus Widersprüchen und Konflikten eine »höhere Position« erwachsen zu lassen. Es gehe um die »Anerkennung unterschiedlicher mentaler Konfigurationen, die im Prozess des dialogischen Prinzips vermittelt werden«. Sind wir dazu gewillt, werden kulturelle Unterschiede, wenn sie aufeinandertreffen, zu einer lebendigen Frage und ringen um neue Antworten.

Es ist gewissermaßen die Initiation des Bewusstseins selbst. Wir wissen, woher wir kommen und wer wir sind, und in der Berührung mit dem uns Fremden, womöglich Irritierenden, tritt das Bewahrenwollen in den Hintergrund und weicht der gemeinsamen Bewegung ins Neuland. Möglicherweise ist dieses berührte Bewegtsein die Verheißung des 21. Jahrhunderts. »Wer nicht in permanentem Prozess mit sich ist, ist nicht, ist tot«, meint Byung Chul-Han. Und wir erkennen, dass wir uns für die Lebendigkeit bewusst entscheiden können.

In die Zukunft sprechen

Ein globaler Dialog, der in die Zukunft hineinspricht, beginnt oftmals in der Intimität der kleinen Zwischenräume, mit dem Interesse für bisher Unverständliches, der Reibung an Ungenügendem oder schlicht der Neugier auf etwas, das erst als Ahnung wahrnehmbar ist. Bei einer Rundfahrt durch San Francisco konnte ich vor einiger Zeit erleben, wie im kulturellen Dazwischen die Vielfalt des Verschiedenen neue Blüten treibt. Unser Fahrer, ein junger Einwanderer aus Mexiko, versprühte typisch amerikanische Euphorie. Als wir durch ein Viertel fuhren, in dem besonders viele Obdachlose leben, zählte er uns all die sozialen Einrichtungen auf, die sich »so wonderful« um die Gestrandeten kümmern. Und die auch entfernten Verwandten von ihm wieder auf die Beine geholfen hätten. Mir war diese »Das Streben nach Glück«-Geschichte ein wenig zu plakativ, zu viel »american spirit« und vermeintliche Überanpassung an die US-Kultur. Als wir später über den Stanford-Campus flanierten, erklärte mir Ronaldo, dass die Elite-Universität der Geburtsort des Design Thinking sei, einer Innovationsmethode. Und in fast verschwörerischem Tonfall teilte er mit mir seinen Herzenswunsch – irgendwann einmal Design Thinking zu nutzen, um ein Social ­Business zu gründen, das es Zuwanderern, denen es nicht so gut gehe wie ihm selbst, erleichtere, in San Francisco Fuß zu fassen. Ronaldo lebt mit seiner Familie in einem der ärmeren Randbezirke. Und sein Traum war es nicht, im Technologie-Business einen großen Wurf zu landen, um selbst besser zu leben oder gar reich zu werden. Er war wach für die Impulse des Silicon Valley und ließ sich von ihnen in seiner eigenen kulturellen Herkunft berühren. Er wollte nicht die Träume anderer kopieren, sondern ließ in dieser Berührung eine Vision entstehen, die das, was ihn selbst ausmachte, mit einer Möglichkeit verband, die über ihn hinauswies.

»Der Zweck des Lebens läuft nicht auf die Gewöhnung an diese oder jene Lebensweise hinaus, sondern dass das Wesentliche immer bleibt, durch so viele neue Verhältnisse, in welche wir geworfen werden, immer wieder von einer andern Seite auf uns selbst zurückgehen zu müssen«, schrieb einst Georg Forster, der an der zweiten cookschen Weltumsegelung teilnahm, um fremde Kulturen zu erforschen. Heute haben wir alle die Chance, zu Entdeckungsreisenden zu werden – im Bewusstsein selbst wie in der kulturellen Vielfalt, die uns bereits umgibt.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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