Bewusstsein ohne Schnitt

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Essay
Publiziert am:

July 14, 2015

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AUSGABE:
Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Beinahe zweieinhalb Stunden ­Kino ohne Schnitt – vielleicht hätte ich mir ohne diese Ankündigung ­Sebastian Schippers »Victoria« gar nicht angeschaut. Und dann saß ich im ­Kino und musste mich fragen, wie lange es wohl gedauert hätte, bis ich ohne dieses Vorwissen bemerkt hätte, dass der Film keine Schnitte hat. Alle paar Sekunden ein Schnitt, das ist gang und gäbe im Kino, aber auch das bemerkt man nur, wenn man eigens darauf achtet.

Denn unser Bewusstsein macht eigentlich ständig Schnitte. Während ich diesen Text schreibe, springt mein Bewusstsein vom Inhalt zum Textbild, zur Frage nach dem einfachsten Modus, um eine Passage zu ändern, der Gedanke, noch einkaufen zu müssen, schiebt sich dazwischen, die Hose kneift, wie geht der Satz weiter, jetzt, wo es so windig geworden ist, mache ich aber doch das Fenster zu, sind das jetzt genug Beispiele, vergiss nicht, was du damit eigentlich sagen willst.

Auch einem äußeren Verlauf folgen wir keineswegs kontinuierlich, immer wieder steigen wir aus, reflektieren, besinnen, lassen uns stören. Das Bewusstsein pendelt zwischen beteiligtem Mitgehen und Rückzug auf sich selbst, und ohne diese dauernden Schnitte wären wir zwar Wesen, die die Welt mitlebten, aber davon kein Bewusstsein hätten. Menschliches Bewusstsein braucht im Unterschied zum Tier die Reflexion und den Rückzug auf sich selbst, braucht den Schnitt, der die Kontinuität des Geschehens immer wieder durchbricht.

Diese Bewusstseinsform macht uns auch zu Zuschauern der Prozesse und des Lebendigen, ja der Wirklichkeit. Was geschieht, ist draußen und ist eigentlich, wenn es mir bewusst wird, immer schon vorbei. Das ist so geworden, seit die Menschheit – mythisch ausgedrückt – vom Baum der Erkenntnis ­gegessen hat. Seit diesem schuldig-unschuldig verführten und gewollten Sündenfall sind wir aus dem Paradies vertrieben und können nur noch von außen auf das Lebendige und die Wirklichkeit blicken. Zwischen uns und dem Paradies liegt der Ur-Schnitt.

¬ WAS GESCHIEHT, IST DRAUSSEN UND IST EIGENTLICH, WENN ES MIR BEWUSST WIRD, IMMER SCHON VORBEI.¬

Spirituelle Praxis will diesen Schnitt überwinden. Manche Strömungen tun das, indem sie den geschnittenen Film des Bewusstseins anhalten. Was bleibt, ist so etwas wie ein leeres Kontinuum: kein Schnitt, aber auch kein Inhalt. Eine andere Richtung wäre, das Bewusstsein so zu entwickeln, dass es Prozessen folgen kann, ohne sich dabei zu verlieren. Rudolf Steiner nannte das »lebendiges Denken«, heute würde man vielleicht »fluides Bewusstsein« oder »fließende Wachheit« dazu sagen. Es ist eine höhere Wachheit, die das Selbstbewusstsein beibehält und sich zugleich einem Prozess ganz hingeben kann.

Man kann das üben, indem man Sta­tionen von Prozessen – zum Beispiel Wettersituationen oder Blätter einer Pflanze mit Blattmetamorphose – miteinander zu verbinden oder ganze Prozesse in der Erinnerung nachzuvollziehen versucht, auch rückwärts, ein Drama zum Beispiel oder ein Stück Musik, die ja der Inbegriff von ungeschnittener Kontinuität ist. Indem man also sein Bewusstsein kontinuierlich an etwas entlang führt.

Der Film »Victoria«, der den Deutschen Filmpreis gewonnen hat, gibt einem dazu 140 Minuten lang Gelegenheit, und es ist eine Wonne, nicht nur dem Film beizuwohnen, sondern auch, ihn im Nachhinein noch einmal durchzugehen, sogar rückwärts. Denn jeder Moment führt durch sich selbst zum nächsten bzw. zum vorigen, weil es eben keine Schnitte gibt, weil der Film lebensvolle Kontinuität ist.

Der Film wurde am 27. April 2014 von 4.30 bis 7.00 Uhr gedreht und ist keinesfalls ein Rückfall, in gefilmtes Theater zum Beispiel. »Victoria« ist hochartifiziell, nur möglich durch neueste Kameratechnik, unterstützt durch die wunderbare Musik von Nils Frahm, durch sorgfältigste Vorbereitung und andauernde Geistesgegenwart aller Beteiligten: Ein Fest der Präsenz eines Wirklichkeitsstromes, von dem dieser Film erzählt und der er zugleich ist.

Es ist stimmig, dass dieser Film eine kleine, verzwirbelte Sündenfall-­Geschichte erzählt, die vom Paradies auf dem Dach durch die Verführung bzw. Erpressung in der Tiefgarage zur Tragödie wird. Aber eine Figur ist dabei, die selbstbewusst die Kontinuität vom Paradies durch den Sündenfall hindurch hält und trägt und sich bewahren kann, weil sie innerlich an die Paradieses-Sphäre angeschlossen bleibt. Weil ihr Bewusstsein vom ersten bis zum letzten Moment ohne Schnitt ist und so kontinuierlich wie das Leben.

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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