Bewusstsein und Erotik

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Publiziert am:

January 24, 2018

Mit:
Rudolf Bahro
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
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Aus Anlass des 20. Todestages Rudolf Bahros

Die Trennung von Geist, Gefühl und Trieb war über lange Zeit ein wesentlicher Antrieb der Evolution. Heute scheint das Leben allerdings wieder nach einer Vereinigung dieser Dimensionen zu fragen. Im kürzlichen Radio-evolve-Gespräch zwischen Thomas Steininger und mir zum Buch »Liebe ist die einzige Revolution« wurde mir durch Thomas Nachfragen etwas deutlich, was mir zwar durch das Schreiben dieses Buches bekannt war, ich aber noch nicht wirklich in seiner ganzen Bedeutung erkannt hatte.

In seinem Buch »The Origin of Humanness in the Biology of Love« zeigt Humberto Maturana, dass sich die Entstehung des Menschen letztlich dem evolutionären Zusammentreffen von Mitgefühl und Erotik verdankt. Erst durch diese neue soziale Bindungs-, Kommunikations- und Organisationsqualität wurden auch andere wichtige anthropologische Entwicklungen, wie lange Kindheit und Lernfähigkeit, großes Hirn und freie Hände, integrierbar. Es ist nicht zufällig, dass unser alltäglicher, unreflektierter Begriff von Liebe immer diese beiden Dimensionen – Mitgefühl und Erotik – verbindet. Es fällt uns jedoch schwer, diese Verbindung zu verstehen, denn die moderne Wissenschaft bietet dafür bisher kaum Forschungen und Erklärungen.

Nach Jahrtausenden eines Zusammenspiels von Geist und Erotik entstand vor ca. 2000 Jahren eine Kultur ihrer Spaltung. Wahrscheinlich zur Emanzipation des menschlichen Geistes von seiner bloßen Eingebundenheit in naturnahe gesellschaftliche Funktionalität etablierte sich diese Spaltung zwischen Geist und Natur des Menschen in fast allen Bereichen menschlicher Existenz. Dazu gehörte die Entwicklung einer die Natur nur als Ressource betrachtenden Industriegesellschaft, aber auch die Herrschaft von Ideologien (Religionen, Wissenschaften, Kulturen), welche Geist (Bewusstsein), Gefühl (Herz) und Trieb (Sexus) stark dissoziierten. So entstanden Religionen und Wissenschaften, in denen sich der menschliche Geist ungestört von emotionalen und triebhaften Impulsen etablieren konnte. Dies hatte jedoch zur Folge, dass Emotionen und Triebe entweder verdrängt oder auf ihre biologische Funktionalität und Triebabfuhr reduziert wurden. Die heutige westliche Moderne ist so stark sexualisiert wie vermutlich keine andere bisherige Kultur – doch ebenso weit entfernt von einem erotischen Bewusstsein oder einer bewussten Erotik. Ausnahmen wie Bücher über »Spirituelle Sexualität«, »Soul Sex« oder »Sex und Gebet« sind zwar Lichtblicke, doch nach wie vor fernab von der Erkenntnis einer wirklichen »erotischen Bewusstseinskultur« (schon der Mangel an passenden Begriffen zeigt das Dilemma).

Entkörperlichung, gar in der Liebe, wird uns gewiss nicht zur Wiedereingliederung in die Natur verhelfen.

Rudolf Bahro

Es gab immer wieder Versuche der Integration – ob die Albigenser im Westen, die Tantriker im Osten oder die erotischen Blütezeiten des Orients –, doch diese konnten den Mainstream der Spaltung nicht ändern, oder wurden oft sogar von diesem bekämpft und zerstört. Seit den ersten Krisenerscheinungen der Industriegesellschaft um 1900 entstanden jedoch neue Ansätze einer Integration. Sowohl am Rande der Wissenschaft – hier ist besonders Max Schelers Philosophie zu nennen, der Geist und Trieb nicht spaltete, sondern verband – als auch in der Praxis der sogenannten Jugendbewegung oder der späteren 1968er »Kulturrevolution« oder in diversen spirituellen Bewegungen (Osho-Bewegung, modernes Tantra).

Meines Wissens gab es bisher nur zwei moderne Versuche, diese Spaltungen zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Mitgefühl und Erotik wirklich zu integrieren. Den ersten machte Herbert Marcuse mit Werken wie »Eros and Civilization« (1955). Rudolf Bahro ging in seiner »Logik der Rettung« noch weiter: »Nur aus der Wiedervereinigung unseres lebendigen Geistes mit seinen natürlichen Wurzeln können wir uns eine Chance gegen die entfremdete tote Arbeit, den entfremdeten toten Geist verschaffen … gesellschaftlich gesehen, geschichtlich gesehen, fehlt uns jetzt nicht Erleuchtung pur, sondern die Macht der Liebe, und deren sozialer Auftritt hängt nicht vom Eingang in die göttliche, sondern vom Eingang in die menschliche Mitte, die Herzmitte ab. Entkörperlichung, gar in der Liebe, wird uns gewiß nicht zur Wiedereingliederung in die Natur verhelfen. Wir sind geboren zum Gebrauch unserer Energien über alle Energiezentren unseres erotischen Bewußtseinskörpers … Dafür brauchten wir ›Schulen‹, Liebes- und Erkenntnisschulen …« 30 Jahre ist es her, seit dieser Text erschien, und 20 Jahre, seit Rudolf Bahro von uns ging. Daher ist diese Kolumne vor allem ihm gewidmet.

Author:
Mike Hosang
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