Bewusstseinskultur – ein erster Schritt

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

April 17, 2023

Mit:
Thomas Metzinger
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AUSGABE:
Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Über das Buch »Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise« von Thomas Metzinger

Bewusstseinskultur« ist ein wichtiges Buch, denn Thomas Metzinger stellt die Frage nach einer neuen Bewusstseinskultur direkt in den Zusammenhang der brennenden Krisen unserer Zeit. Er beginnt mit einer gnadenlosen Analyse der Klimakata­strophe. Es hat keinen Sinn mehr, sich in Zweckoptimismus zu verlieren. Die Idee vom grünen Wachstum ist eine Illusion und die Vision eines grünen Schrumpfens unserer Wirtschaft trägt in sich die reale Gefahr, den Populismus in der Politik nur weiter zu stärken. Wir sind in einem Dilemma.

Und Metzinger wagt auch eine Prognose für die Zukunft unserer Gesellschaft. Diese Prognose ist der Grund dafür, warum es heute so wichtig ist, über eine neue Bewusstseinskultur zu sprechen. Er geht davon aus, dass wir als Gesellschaft in absehbarer Zeit einen kollektiven Panikpunkt erreichen werden. Wir leben heute, trotz allem, noch in einer Zeit, in der große Teile der Gesellschaft die Wirklichkeit der Klimakrise letztlich nicht wahrhaben wollen. Die Gesellschaft als Ganzes gibt sich noch immer der Illusion hin, dass es irgendwo einen Ausweg geben wird. Dass es diesen nicht mehr gibt, bringt Metzinger mit einer klaren Aussage auf den Punkt: Unserer Erde und damit auch unseren Gesellschaften stehen 200 bis 300 Jahre dramatischer Krisen bevor, bis sich das Erdklima vielleicht wieder in einer neuen Weise stabilisieren wird. Was passiert an dem Punkt, an dem die demokratische Öffentlichkeit das nicht mehr leugnen kann? Wie werden unsere Gesellschaften mit dieser kollektiven Panik zurechtkommen? Das ist der Ausgangspunkt für den Aufruf zu einer neuen Bewusstseinskultur.

Thomas Metzinger ist Neurowissenschaftler, Philosoph und ein Mensch mit einer langjährigen Meditationspraxis. Im Zentrum seines Buches steht die Frage, was Praktiken wie die Meditation dazu beitragen können, um uns als Gesellschaft auf die uns bevorstehende Panik besser vorzubereiten. Mit Meditationspraxis meint er eine Praxis, in der sich das Bewusstsein seiner selbst gewahr wird, eine Praxis, in der wir unsere Narrative und unsere Identitäten beiseitestellen können, um etwas zu erreichen, was er epistemische Offenheit nennt. Es ist diese Offenheit, die uns hilft, uns selbst ehrlicher wahrzunehmen.

Ein Thema, das in diesem Buch immer wieder angesprochen wird, ist die Frage: Wie können wir als Menschen zu einer Lauterkeit der Absicht finden? Deutlich verbinden sich hier die Motive des Wissenschaftlers, sein Bemühen um intellektuelle Redlichkeit in einer dramatischen Situation, und die Motive einer buddhistisch geprägten Meditationspraxis, die darauf abzielt, unseren Selbsttäuschungen in einer Praxis der reinen Achtsamkeit entgegenzutreten. Man könnte auch von radikaler Ehrlichkeit und innerer Freiheit sprechen, Eigenschaften, die wir dringend brauchen. Können wir es zum Beispiel ertragen, dass wir angesichts der ökologischen Katastrophe so etwas wie eine scheidende Spezies sind? Und wie können wir eine radikale Ehrlichkeit praktizieren, ohne unsere Selbstachtung und unser Selbstmitgefühl zu verlieren? Aber eine Selbstachtung und ein Selbstmitgefühl, die nicht auf Illusionen und Selbstbetrug beruhen.

»Metzinger will die Bewusstseinskultur in unserer offenen Gesellschaft neu etablieren.«

Thomas Metzinger spricht von drei Ebenen der Bewusstseinskultur. Erstens: Können wir gegenüber unseren eigenen Bewusstseinszuständen eine ethische Haltung entwickeln, eine Haltung, dass es erstrebenswerte und weniger erstrebenswerte Bewusstseinszustände gibt? Zweitens: Wie kann es uns gelingen, Bewusstseinszustände, die wir als wertvoll erkennen, systematisch zu kultivieren? Drittens: Können wir diese Bewusstseinszustände in einer rationalen und evidenzbasierten Weise in unserer Kultur dauerhaft verankern?

Das Buch bezieht sich nicht nur auf die Praxis der Meditation. Metzinger bespricht auch seine eigenen experimentellen Erfahrungen mit bewusstseinserweiternden Drogen und die Bedeutung künstlicher Intelligenz, der neu entstehenden virtuellen Realität und der Nanotechnologie. Und er stellt auch die Frage, ob so etwas wie eine neue, säkulare monastische Tradition möglich wäre. Und wie wir unser Verständnis von Bildung ändern müssen, wenn wir Bewusstseinskultur ernst nehmen.

Metzinger will die Bewusstseinskultur in unserer offenen Gesellschaft neu etablieren. Er ist sich natürlich dessen bewusst, dass es in traditionellen Gesellschaften Formen der Bewusstseinskultur gab, die sich meist im Kontext der verschiedenen religiösen Traditionen entwickelt haben. Aber was bedeutet es in unserer säkularen Gegenwartskultur, diese Praxisformen neu zu verankern? Diese Frage ist eine der Stärken dieses Buches, seine Antwort eine seiner Schwächen.

Eine säkulare Bewusstseinskultur muss sich von ihren religiösen Vorreitern abgrenzen. Aber sie muss auch in der Lage sein, den Schatz dieser Traditionen in sich aufzunehmen und in einer heutigen Form zu integrieren. Metzinger bewertet religiöses Bewusstsein durchgehend in einer polemischen Form als ein »Gebilde von Wahnvorstellungen«. Die Grundlage dieser polemischen Haltung ist ein naturwissenschaftlicher Blick, der sich durch das ganze Buch zieht. Wenn er zum Beispiel anführt, dass man gegenüber der Frage nach Gott keine agnostische Haltung einnehmen kann, weil man ja auch nicht gegenüber der Frage, ob »der Osterhase existiert«, in seriöser Weise keine agnostische Haltung einnimmt, dann stellt er sich nicht der Frage, ob traditionelle Bewusstseinsformen mit Begriffen wie Gott, Tao, Brahman auch etwas ansprechen, das dem rein szientistischen Blick auf die Welt entgeht. Auch die Dimension des Heiligen braucht einen anderen Blick als den naturwissenschaftlichen, um überhaupt gesehen zu werden. Der Ansatz der meditierenden Atheisten wie Yuval Harari und Sam Harris, Bewusstseinswelten letztlich aus der Sicht der Naturwissenschaft zu verstehen, ist eigentlich Teil unseres Problems.

Dabei bietet zum Beispiel der Ansatz des Philosophen Markus Gabriel, dass es in der Wirklichkeit verschiedene Sinnfelder gibt und dass wir nicht alles auf das naturwissenschaftliche Sinnfeld reduzieren können, einen sehr modernen Ansatz, um mit dem Erfahrungsschatz der Religionen in Dialog zu treten, ­ohne sie allein als Wahngebilde zu verstehen. Die Bilderwelten des tibetischen Buddhismus sind reich an inneren Erfahrungsräumen, die auch einer säkularen Bewusstseinskultur viel zu sagen haben. Die Bildersprache christlicher Mystiker beschreibt einen Erfahrungsreichtum, der naturwissenschaftlich nicht beschreibbar ist. Vielleicht ist es ja die Aufgabe einer neuen Phänomenologie, diese Bewusstseinsräume neu zu übersetzen, ohne sie zu verlieren.

Thomas Metzingers Aufruf zu einer neuen Bewusstseinskultur würde auf eine noch völlig andere Weise wirksam werden, wenn er die Phänomenologie unserer individuellen und kollektiven Innenwelten, wie sie in den religiösen Traditionen Ausdruck gefunden haben, mit in den Blick genommen hätte. Wenn wir den Panikpunkt, den Metzinger so eindrücklich voraussagt, gemeinsam als Weltgesellschaft bewältigen wollen, dann braucht unsere Bewusstseinskultur auch eine Integrationskultur unserer eigenen Bewusstseinsdimensionen und der Bewusstseinsdimensionen, die wir in unserer globalen Gesellschaft vorfinden.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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