Beziehung ist alles

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 21, 2016

Mit:
Maya Cosentino
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AUSGABE:
Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Gesundheit als sozialer Prozess

Für Maya Cosentino liegt der Kernder Gesundheit in unseren Beziehungen – zur Umwelt, zu anderen Menschen, zu unserem eigenen Körper und seinen vielen »Bewohnern«. Wir sprachen mit der engagierten Medizinstudentin über Integrative Medizin und die Heilkraft der Begegnung.

 

evolve: Du studierst Medizin inWitten/ Herdecke. Was hat dich dazu inspiriert?

Maya Cosentino: Ich habe in den USA ein Psychologiestudium begonnen und interessierte mich sehr dafür, wie Bewusstsein,Gesundheit und der Körper in Beziehung zueinander stehen. Dabei stieß ich aufdas Feld der Psychoneuroimmunologie, in welchem die Wechselwirkungen zwischen der Psyche, dem zentralen Nervensystem und dem Immunsystem erforscht werden.Dieser interdisziplinäre Ansatz hat mich sofort fasziniert und so habe ich michdann für ein Medizinstudium an der Universität Witten/Herdecke entschieden, dahier Wert auf einen interdisziplinären Ansatz gelegt wird.

e: Wie würdest du dieseBrücke zwischen Bewusstsein und Immunsystem beschreiben?

MC: Eine zentrale Aufgabe unseresImmunsystems ist, zu unterscheiden, was eigen ist, was zu mir gehört, und wasfremd ist, also nicht zu mir gehört oder gehören sollte. Im Grunde ist es dieFrage, was zu meinem Selbst gehört und was nicht.

Bakterien und andere Mikroorganismen in unserem Körper müssen von unserem Immunsystemwahrgenommen werden, um festzustellen, ob sie den Körper gefährden oder nicht.So ist es auch mit unseren Zellen, wobei unser Immunsystem »erkennt«, ob dieZellen gesund oder krank sind. Bei Autoimmunkrankheiten und Krebs ist dieseDifferenzierung und Identifikation gestört. Wie gut das Immunsystem dieseAufgabe erfüllen kann, hängt auch mit den Lebensumständen zusammen.

Relativ neue Studien über den menschlichen Organismus und Gesundheit zeigen zumBeispiel, dass die Erfahrung von Einsamkeit – egal ob subjektiv wahrgenommenoder objektiv vorhanden – mit einer verringerten Lebenserwartung in Verbindung steht. Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen,Bewusstsein und Immunsystem. In unserer Beziehung zur natürlichen und auchsozialen Umwelt ist es zentral, dass wir zwischen Eigenem und Fremdenunterscheiden können.

e: Wann beginnt dieseUnterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem?

MC: Einige Studien haben sich aufspannende Weise mit dem Unterschied zwischen einer natürlichen Geburt und einem Kaiserschnitt beschäftigt. Im ersten Fall, wo der Körper auf Mikroorganismendes Geburtskanals trifft, wird angenommen, dass durch die Begegnung mit diesen Mikro­organismen das Immunsystem mitentwickelt wird. Auch wer auf einem Bauernhof aufwächst entwickelt ein anderes Immunsystem als in der Stadt. Diese Beziehung zwischen Fremdem und Eigenem zeigt sich auch bei der Nahrungsaufnahmedurch unser Verdauungs- und Ausscheidungssystem – wir essen und verwandelnNahrung zu einem Teil von uns. Das Gleiche gilt für unser ­Sinnes- undNervensystem, wenn wir die Welt wahrnehmen, mit der wir durch die Sinneverbunden sind.

Unsere Kulturneigt dazu, einen Hyper-Individualismus zu propagieren.

Meine Hypothese dabei ist, dass diese Prozesse der Auseinandersetzung mit der äußerenWelt, wenn sie denn gelingen, Gesundheit und persönliches Wachstum fördern. Inder Medizin wird immer deutlicher, dass gelingende Beziehungen unsereLebensqualität und sogar unsere Lebenserwartung positiv beeinflussen. Für michist also der zentrale Aspekt die Beziehung – ob zu Mikroorganismen, zur Nahrungoder zu anderen Menschen.

e: Warum denkst du, ist esheute wichtig, dass wir uns auf unser Eingebundensein in Beziehungen besinnen?

MC: Unsere Kultur neigt dazu, einenHyper-­Individualismus zu propagieren: Sei, wer du sein willst, mach eseinfach! Die Gefahr des radikalen Individualismus aber ist, dass Beziehungendarunter leiden können. Der Kontakt und die Beziehungen zu anderen Organismenund Menschen im Zusammenhang mit der Welt nehmen an Intensität ab.

Ich bin in einer Lebensgemeinschaft aufgewachsen und habe viel Zeit in der Naturund mit Tieren verbracht. Eine wichtige Erfahrung in dieser Gemeinschaft warfür mich, mit geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichenzusammenzuleben. Von ihnen lernte ich eine sehr besondere Art der Verbundenheitmit anderen Menschen kennen und wie Verletzlichkeit eine Rolle für authentischeBeziehungen spielen kann. Häufig haben diese Menschen nicht die gleichenAbwehrmechanismen wie wir, alltägliche Dinge fallen ihnen schwer. Gleichzeitigwird Unverfälschtheit häufig als positive Charaktereigenschaft in menschlichenBeziehungen gesehen.

e:Du engagierst dich bei der Sommerakademie für Integrative Medizin. Was steht dortim Mittelpunkt?

MC: In meinem Studium habe ich immer wieder beobachtet, wie wichtig ganzheitliche Zugänge zur Medizin und zumMenschen sind. Dies kann Traditionelle Chinesische Medizin, anthroposophischeMedizin oder auch Osteopathie sein. Bei der Sommerakademie versucht eine Gruppejunger Menschen, den Zugang zur Integrativen Medizin zu ermöglichen. Dies wirddurch diverse Vorträge und Workshops vermittelt, in welchen es darum geht, neueErkenntnisse zur Gesundung des Menschen zu entdecken. Wichtig ist dabei eininter­disziplinärer Ansatz, was nicht bedeutet, dass man alles miteinandervermischt, sondern unterschiedliche Perspektiven integriert werden. Das kannfür jeden Patienten anders aussehen und dabei ist vor allem der Dialog und dieBeziehung zwischen Arzt und Patient wichtig: Braucht dieser individuellePatient Osteopathie, Akupunktur oder rhythmische Massage?

e: Kürzlichbist du in den Think Tank 30, einem Ableger des Club of Rome für junge Menschen, aufgenommen worden. Was möchtest du dort einbringen?

MC: Diese Einladung ist eine große Ehre für mich und ich hoffe, dass ich einen interdisziplinären Ansatz zur Gesundheit und dessen gesellschaftliche Bedeutung dort aktiv einbringen kann.Politische Entscheidungen haben weitreichende Auswirkungen, deshalb sind gerade auch im Gesundheitswesen neue Ansätze nötig, die dem Menschen und nichtökonomischen Interessen dienen. Ich möchte mit anderen jungen DenkerInnen in den Dialog kommen, um die Frage zu stellen, welche sozialen, politischen undökonomischen Strukturen wir kreieren möchten. Was brauchen wir, damit Menschennicht krank, sondern gesund leben können? Ich denke, das ist unser allerVerantwortung, wenn wir wirklich nachhaltig leben wollen.

e: Woher nimmst du die Energie für dein Engagement? Hast du eine tägliche Praxis?

MC: Achtsamkeit im Alltag ist mir sehrwichtig, auch Yoga habe ich in den letzten Jahren praktiziert und natürlichfühle ich mich auch meinen anthroposophischen Wurzeln verbunden, da ich sowohlals Waldorfschülerin als auch in einer anthroposophischen Gemeinschaft in den USA aufgewachsen bin.

Ich denke, es gibt etwas in uns, das von dieser äußeren Welt unabhängig ist, das injedem von uns lebt, eine unabhängige, individuelle Kraft. Diese Quelle zunähren und ihrer bewusst zu sein, ist für mich zentral. Dazu gehört auch,alles, was ich tue, in eine größere Perspektive einzuordnen und damit inVerbindung zu sein. Dann spüre ich die Freude und Lebendigkeit, die aus dieserinneren Quelle kommen.

Das Gespräch führte Adrian Wagner.

Author:
Adrian Wagner
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