Bildung für den Wandel

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

February 2, 2024

Mit:
Alice Priori
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AUSGABE:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Ein Transformationslabor in Berlin

CitizensLab (CLab) startete 2016 als Pilotprojekt der gemeinnützigen Organisation MitOst mit dem Ziel, lokale Aktivistinnen mit europäischen Entscheidungsträgern zusammenzubringen. Seitdem arbeiten Projektleiterin Alice Priori und ihr Team daran, ein Netzwerk von sozialen Innovatoren in ganz Europa aufzubauen. Wir sprachen mit ihr über das Projekt, wie es sich verändert und mit welchen Herausforderungen sie dabei konfrontiert ist.

evolve: Auf welchen Prinzipien basiert eure Arbeit?

Alice Priori: Wir haben drei Kernpunkte identifiziert, die die Basis unserer Erfahrungsworkshops und transformativen Prozesse bilden: Erstens, wir sehen den Menschen als integrierten Teil eines lebendigen Systems. Wir möchten über das mechanistische Denken der Trennung hinausgehen und schaffen einen Raum, in dem die Teilnehmenden reflektieren können, wie sich diese Denkweise in ihrer Arbeit, in ihrer Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Mehr-als-menschlichen-Welt manifestiert: Welche Stimme fehlt? Inwieweit wird die Komplexität unserer Verflechtung ernst genommen? Wie können wir unsere Trennung von der Natur überwinden?

Zweitens sprechen wir über Machtdynamik. Wir bringen ein Verständnis für Macht als fließende Dynamik ein, wir erforschen unsere Machtlosigkeit und was uns ermächtigt, wie wir unsere inneren Kräfte aktivieren können, um mehr kollektive Stärke aufzubauen. Dazu schaffen wir Räume für Zusammenarbeit, kollektive Sinnfindung und gemeinsames Handeln, wechselseitiges Lernen und für den Aufbau von Netzwerken.

Die dritte Säule ist die Auseinandersetzung mit kolonialen Denkstrukturen. Wir müssen die Folgen einer kapitalistischen Lebensweise erkennen und das kollektive Trauma ansprechen, das die westliche, eurozentrische Gesellschaft nicht bewältigt und nicht geheilt hat. Wir schaffen einen Raum, in dem das kollektive Trauma, das durch ausbeuterische Systeme entstanden ist, sichtbar, benannt und anerkannt wird.

e: Welche Art von Erfahrungsräumen bietet ihr derzeit an?

AP: In diesem Jahr haben wir in Berlin ein »Art of Hosting«-Training mit mehr als 60 Teilnehmern veranstaltet, bei dem es um die Frage ging: Wie können wir eine Kultur der Fürsorge und Verwandtschaft gestalten? Das ist der aktuelle Schwerpunkt unserer kollaborativen Forschung als eine Form von »Action Research«. Wir organisieren ein weiteres transformatives Lernformat für 2024 in Berlin, bei dem wir uns intensiver mit dekolonialen und machtdynamischen Fragen auseinandersetzen werden, insbesondere für Menschen, die Begegnungsräume anbieten und Gruppen moderieren.

»Wir wollen den Kreis derer erweitern, für die wir Sorge tragen und Verantwortung übernehmen.«

Seit letztem Jahr initiieren wir in Berlin eine Community of Practice von Aktivistinnen, Moderatoren und Künstlerinnen. Wir tun dies in Zusammenarbeit mit Ulex, einem Lernzentrum in Spanien. Durch diese Zusammenarbeit versuchen wir, ein stärkeres CLab-Kollektiv in Berlin aufzubauen.

Außerdem haben wir eine einjährige Online-Lernreise ins Leben gerufen: einen Lernprozess, bei dem wir uns alle drei Monate treffen und uns mit den Jahreszeiten und den von mir erwähnten Kernpunkten des Wandels verbinden. Dieses Format wollen wir wieder anbieten, und zwar sowohl als Präsenz- als auch als Online-Prozess, wofür uns aber noch die Mittel fehlen.

e: Welche Art von Menschen bringt ihr bei euren Veranstaltungen zusammen?

AP: Wir verbinden die Menschen, die durch unsere Einladungen angesprochen werden. Wir bieten keine Ausbildung an, sondern eine transformative Erfahrung und einen Raum des Lernens. Normalerweise laden wir offen mit einer inspirierenden Frage ein. Und jede, die mit dieser Frage in Resonanz geht, ist willkommen. In der Community of Practice in Berlin arbeiten einige mit Theater oder Film, manche als künstlerische Kuratoren und Event-Gestalter, einige sind Vermittlerinnen von regenerativen Praktiken, veranstalten und kreieren Begegnungsräume, andere sind Aktivistinnen.

Für uns ist es entscheidend, dass diese Arbeit die Vielfalt der Menschen anspricht, die den Wandel vollziehen. Und wenn wir diese Seminare nur für Menschen anbieten, die sich 600 Euro für drei Tage leisten können, sprechen wir nur bestimmte Bereiche der sozialen Innovation an. Die meisten Menschen, die zu den benachteiligten und unsichtbaren Stimmen gehören, erhalten nicht einmal Zugang zu diesen Lernräumen. Hier möchten wir als CLab möglichst für alle zugänglich sein. Das ist auch der Grund, warum wir nicht so viele Angebote entwickeln können, denn sie hängen von den finanziellen Ressourcen ab, die wir finden können. Die meisten der zur Verfügung stehenden Mittel sind mit sehr kurzen Zeiten und begrenzten Formaten verbunden, die nicht wirklich zu unserer Arbeitsweise passen.

e: Wenn ihr Lernräume gestaltet, gibt es da bestimmte Qualitäten, die für euch besonders wichtig sind?

AP: In der Gestaltung unserer Prozesse geben wir den Menschen zunächst die Gelegenheit, anzukommen und wirklich präsent zu sein. Am Anfang gibt es ein Check-in, aber auch verkörperte Praktiken wie gemeinsames Atmen oder Meditation. Manchmal nutzen wir Storytelling und bitten jeden, seine direkten Erfahrungen durch eine Geschichte mitzuteilen. Auf diese Weise schaffen wir den Raum und die Zeit, um unser ganzes Selbst einzubringen. Dann nutzen wir die Praxis von Art of Hosting, um durch Fragen und partizipative Praktiken genügend Offenheit und Unsicherheit zuzulassen. Wir wollen bei den Teilnehmenden das Gefühl auslösen: Oh, wir verlieren die Kontrolle, die Gruppe übernimmt die Führung. Wenn das geschieht, können Kreativität und neue Ideen in Erscheinung treten. Die besten Prozesse sind die, bei denen die Gruppe denkt, dass sie alles selbst macht und nicht einmal das Gefühl hat, dass es einen Container gibt, in dem wir eine bestimmte Richtung und Absicht einbringen.

Wir nehmen uns auch Zeit, um draußen in der Natur zu sein. Wenn wir in der Stadt sind, gehen wir zumindest an der Spree spazieren. Ein weiterer kraftvoller Prozess ist die gemeinsame Ernte, das Harvesting. Dabei können wir die »kollektive Intelligenz«, die durch die Prozesse entstanden ist, tiefer verstehen und das Gelernte sichtbar machen. Manchmal bitten wir eine Dichterin, den Prozess der Gruppe mittels poetischer Sprache zu reflektieren, oder es gibt eine grafische Reflexion durch Bilder und Symbole. Manchmal nutzen wir auch Musik, gemeinsames Singen und somatische Praktiken, die es dem Körper erlauben, sich zu bewegen und Teil des Prozesses und der Lernerfahrung zu sein. Für uns ist es wichtig, unsere vielfältigen Intelligenzen durch Kunst, Körper, Musik und Poesie zu aktivieren.

e: Wie verändern sich die Menschen, die diese Prozesse durchlaufen, und welche neuen Impulse bringen sie in ihre Arbeit ein?

AP: Manche Menschen beginnen, die gesamte Situation an ihrem Arbeitsplatz zu hinterfragen. Selbst im sogenannten sozialen Sektor erkennen sie, wie dysfunktional die Systeme sind, wie viel Verleugnung und Unstimmigkeiten es gibt. Manche Menschen führen einfache, aber transformative Praktiken ein, wie zum Beispiel die regelmäßige Durchführung von Check-ins in ihren Teamsitzungen. Manchmal sind die Veränderungen klein und schwer zu verfolgen. Die Menschen bringen die neuen Impulse nicht nur in ihre Teams und am Arbeitsplatz ein, sondern auch in ihre Familie und in den Umgang mit ihren Kindern. Deshalb sprechen wir von Fürsorge und Verwandtschaft, denn wir wollen den Kreis derer erweitern, für die wir Sorge tragen und Verantwortung übernehmen, nicht nur für unsere engste Familie, sondern auch für die Menschen in der Nachbarschaft, die Bäume, die Vögel, die ganze Erde.


Author:
Mike Kauschke
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