Brücken zum Wunder

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 17, 2023

Featuring:
Marica Bodrožić
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Issue:
Ausgabe 38/2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Ein Interview mit der Autorin und Dichterin Marica Bodrožić

Die aus Dalmatien im ehemaligen Jugoslawien stammende Schriftstellerin Marica Bodrožić hat mehrere Gedichtbände, Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht, die sich durch ein poetisches Einfühlungsvermögen in das Gewebe menschlicher Verbundenheit auszeichnen. In ihren ­Werken widmet sie sich Fragen nach dem Wesentlichen des Lebens, der Suche nach einem inneren Sehen der Welt. In Berlin trafen wir Marica Bodrožić in dem Gemeinschaftswohnprojekt, in dem sie mit ihrer Familie lebt.

evolve: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Marica Bodrožić: Ich wollte eigentlich nie Schriftstellerin werden, sondern studierte Kulturanthropologie, Europäische Ethnologie, Psychoanalyse und Slawistik. Das Studium gab mir tiefe Freude und einen geistigen Ansporn. Aber während ich diese fachliterarischen Texte las und sich die Sprache der Wissenschaft meiner bemächtigte, stieg in mir eine andere Sprache auf.

Eines Tages stand ich am Holz-Kleiderschrank meines damaligen Lebensgefährten und die Sonne schien darauf. Irgendetwas an diesem Honiggelb ließ mich innehalten. Das war ein tiefer Moment des Gewahrseins. Ich hatte damals schon kleine Skizzen über meine Kindheit in ­Dalmatien aufgeschrieben. Mit Blick auf diesen honiggelben Kleiderschrank spürte ich, dass ich schreiben muss und unbedingt meine Kindheitserfahrungen erzählen möchte. Das einfache Leben im Dorf mit meinem Großvater, die Blicke, das Zusammensein, überhaupt das Einfache.

Daraus ist mein erstes Buch entstanden, es wurde von Suhrkamp verlegt, ich erhielt Preise. Es hat sich alles gefügt, es war wie eine innere Tür, die in mir aufgegangen ist. Mein Leben, das auf mich gewartet hatte. Mit der Zeit ist das Schreiben meine Art zu sein, zu sprechen und zu leben geworden.

Weisung von innen

e: Gibt es einen bestimmten Prozess, den Sie durchlaufen, vom ersten Impuls und der Idee bis zum Schreiben eines Buches? Oder ist das für jedes Buch anders?

MB: Es ist jedes Mal sehr ähnlich und doch wieder anders. Da ist immer eine erste Eingebung, eine erste leitende Sehnsucht, und oftmals widerfährt sie mir genauso, wie die ­Situation am honiggelben Kleiderschrank. Eine Weisung von innen. Eine Reibung, so dass ich weiß, das wird ein langer Weg für mich. In der Regel ist es so, dass ich von diesem ersten Moment an Jahre brauche, um das Buch in seine Gestalt zu bringen.

Zum Beispiel bei dem letzten Buch »Die Arbeit der ­Vögel« hatte ich durch eine Begegnung mit einer syrischen Familie, die 2015 mit zwei kleinen Kindern zu Fuß von ­Syrien über viele Länder und mit dem Boot nach Griechenland geflüchtet und nach Deutschland gekommen war, eine Eingebung: Ich dachte, wie erzählt man diese Begegnung? Wie könnte ich darüber sprechen, dass ein Mensch mich anschaut und mein ganzes Leben dabei umgepflügt wird? Es gibt eine Stelle im Buch, da habe ich das so beschrieben: Da ist sie, diese Frau, die die Ozeane überquert hat. Und sie schaut dich so an, dass deine ganze Jugend vergeht und eine Gegenwart in dir entsteht, die so tief ist und so ernst, dass du selbst dieser Mensch wirst, der neu beginnt.

Das hat sich dann verbunden mit allem, was ich immer schon an Fragen in mir hatte: Wie kann ich heute über Wahrheit sprechen? Was ist Wahrheit im Einzelnen? Was ist die kollektive Spur in uns allen? Wie kann ich ein Jahrhundert erzählen? Und da wusste ich, das kann ich nur, wenn ich es durch mich selbst hindurchgehen lasse. Wenn ich in mir finde, was die Spuren, die Versatzstücke, die Themen, die Bedrängungen sind. Und das war zum Beispiel der Hunger meiner Familie, das Unterwegssein meines Vaters als Wanderarbeiter aus dem Süden ­Europas über Ungarn nach Deutschland. Letztlich habe ich bei diesem Buch gemerkt, es war doch tatsächlich der Hunger, der mich in mein Leben als Schriftstellerin geführt hat, nur ist mein Hunger von einer anderen Machart.

»Ich denke immer dorthin, wo ich nicht geschützt bin.«

Ich habe diese tiefe Bewegung in mir, die immer eine geistig seelische Bewegung ist, eine ganz tiefe Verbundenheit mit allem Lebendigen, auch mit der Geschichte als einem lebendigen Ort des Auftrags. Und dann brauche ich lange, um eine Form dafür zu finden. Ich trage es in mir, wenn ich einkaufe, wenn ich in der Straßenbahn sitze, wenn ich Zug fahre, wenn ich mein Kind anschaue.

Und dann ist es so, dass das Leben in Resonanz zu meinen Fragen tritt. Zudem lese ich auch viel, recherchiere, und dann nimmt ein Text allmählich Gestalt an. Im Fall von »Die Arbeit der Vögel« hat es drei Jahre gedauert, und es nahm noch immer keine Gestalt an. Da habe ich die Eingebung gehabt, ich sollte vielleicht den Fluchtweg durch die Pyrenäen gehen, den neben Walter Benjamin so viele Menschen gegangen sind.

Denn es ist bei mir immer so, dass es neben dem geistigen Impuls, etwas in Sprache zu bringen, auch körperlich erfahrbar sein muss. Ich schreibe mit der Hand. Ich stamme von arbeitenden Menschen ab, nicht nur von hungernden. Durch den Körper hindurch verstehe ich, wie es geht, wenn es wirklich richtig geht.

e: Gibt es bei Ihrer Art mit Sprache umzugehen eine besondere Herangehensweise, da Deutsch nicht Ihre Muttersprache ist?

MB: Erst nach langer Zeit des Schreibens habe ich erfasst, dass das Klangliche ganz wichtig ist. Die Beziehung zu diesem Klang wurde schon im Mutterbauch ausgeprägt. Das Hören der deutschen Sprache ist mein erster Bezug zur Welt und zur Sprache. Dadurch, dass die Beziehung zum Deutschen im Mutterbauch schon da war, ist es eine ­Ur-Beschriftung in mir selbst. Es hat für mich eine schicksalhafte Dimension, der ich nie entkommen wollte. In der deutschen Sprache kann ich einen Abstand zur erlebten Gewalt vornehmen, sie ist fast eine ozeanische Instanz in mir, die mich anders schauen lässt.

Ich erinnere mich an die ersten Lektüren von Rilke oder Hölderlin, an dieses Aufschwingen des Geistes, das im Grunde genommen supra-sprachlich, supra-national ist. Es ist eigentlich eine kosmische Dimension, und ich habe auch keine Scheu, diese in der deutschen Sprache zu formulieren, obwohl das verschiedenen gesellschaftlichen oder kollektiven Denkmustern entgegenläuft.

Inneres Sehen

e: Beim Lesen Ihrer Bücher ist mir aufgefallen, dass Sie immer wieder auch ansprechen, wie der Prozess des Schreibens eine Resonanz hat zu den Erfahrungen des Lebens. Wie erleben Sie diese Resonanz?

MB: Es ist eine Einheit. Deswegen ist es für mich unvorstellbar, etwas zu schreiben oder zu tun, was mir nicht im Innersten entspricht. Das ist eine heilige Grenze, ein innerer Kompass. Ich komme ja nicht aus gebildeten Verhältnissen, bin in einem kleinen Dorf im Sozialismus ­Jugoslawiens groß geworden. Mein Großvater war Analphabet, und ich habe nicht die Bildung erhalten, die mir immer alles erklärt hätte. Auch das, was ich heute weiß, stößt mich in ein tieferes Nicht-Wissen. Aber es ist immer so, dass aus dem Leben heraus die Stofflichkeit meines Fragens entsteht. Dann erst begegnet es mir in den Werken anderer oder in der Welt. Dann stehe ich zum Beispiel als hochschwangere Frau in einem Park und schaue mir mit Unbedingtheit diesen Baum an und verstehe plötzlich: Man kann nicht einfach immer schon oben sein und alles überblicken. Es gibt die Wurzelwelt, es gibt eine Erde, von der wir kommen. Es gibt etwas, was ich mitbringe, was ich in mir trage, was mich verbindet mit der Landschaft, mit den Menschen meines Lebens. Das kann ich verstehen und damit wachsen. So kann ich einen eigenen Weg in die Vertikale finden und eine eigene Art, dem Himmel und den Vögeln nahezukommen und dort zu sein, wo mein Geist eigentlich schon ist.

Ich wachse mit meinen Fragen und ­verwachse mit den Werken und Gedanken anderer. Wichtig war für mich immer die starke Beziehung zu den Schriften der Mystiker und Mystikerinnen, weil ich da immer denke: Ja, diese Art zu verknüpfen kenne ich. Sie suchen nicht nach einer logischen Beweisführung, sondern suchen im Unsichtbaren im eigenen Inneren. Dort ist die Brücke zum Wunder.

e: Sie schreiben in Bezug zu Mystikerinnen wie Teresa von Avila und Mechthild von Magdeburg über das innere Sehen oder das Auge hinter dem Auge. Wie verstehen Sie dieses innere Sehen?

MB: Das ist sehr schwer in Worte zu fassen – außer ich tue es. Vielleicht kann ich mit den Körpern beginnen. Als ich als Kind nach Deutschland kam, habe ich verstanden, dass es eine Sprache vor der Sprache gibt. Noch bevor ich Vokabular habe, noch bevor ich mich ausdrücke, sehe ich. Der menschliche Körper hat mir immer mitgeteilt, was gesagt wird. Diese Art des inneren Sehens habe ich beim Erlernen des Deutschen ganz tief empfangen, weil ich keine anderen Koordinaten hatte. So konnte ich die Körper lesen, und das mache ich bis heute. Auch die Landschaft kann ich so lesen. Dieses innere Sehen, das Sehen in Vollständigkeit ist für mich mit der Intuition verbunden, mit einem ganz tiefen, intuitiven Gespür für Wahrheit.

»Ich wachse mit meinen Fragen und verwachse mit den Werken und Gedanken anderer.«

Für mich ist es wichtig, mich selbst kennenzulernen, die eigene Verletzlichkeit, die eigene Ausgesetztheit, die eigenen Sehnsüchte zu fühlen, aber auch die eigenen Projektionen, Abgründe und Schatten zu sehen. Es gibt oft eine kollektive kulturelle Energie, die mitsprechen will, sie will bei den Siegern sein, bei denen, die es wissen. Und dann gibt es diese intuitive, stille Instanz der inneren Landschaft, die das Leben kennt, die das Leiden kennt, die die Gewalt kennt, die das Gefühl kennt, ein Mensch zu sein. Und da gehe ich immer hin, da kehre ich immer ein, ich denke mich immer dorthin, wo ich nicht geschützt bin.

Die Verletzlichkeit ist unser Schutz vor der Barbarei. Sie öffnet alles zum Wunderbaren hin. Daraus erwächst dieses innerste Leuchten, diese innerste Liebe für das Leben, für die Verbindung zu allem Lebendigen, zu den Tieren, zu den Pflanzen, zu den Menschen, zu den Dingen. Dieses tiefe Staunen über alles, was uns umgibt. Das ist vielleicht der Ort des innersten Sehens, eine Ebene des Seins, die niemals getötet werden kann.

Ein synästhetisches Gewebe

e: Sie schreiben oft aus der sinnlichen Wahrnehmung heraus, über die Berührung der Hände oder die Augen – an einer Stelle heißt es: »wie ein Körper, der voller Augen ist«. Welche Rolle spielt für Sie die Verfeinerung oder Erweiterung der Wahrnehmung?

MB: Das Schreiben ist ein Nach-Innen-Hören. Ich schreibe mit der Hand, mein Körper muss also die sinnlichen Wahrnehmungen, die sich in mir angesammelt haben, aushalten. Und das ist immer ein synästhetisches Gewebe. Die eigentliche Arbeit ist dann, es nicht zu trennen. Unsere Kultur ist stark chronologisch, zielorientiert, ergebnisorientiert. Alles muss irgendwie einen Sinn und ein Ziel haben. Beim Schreiben ist es für mich immer so, dass ich alles so zusammenhalten muss, wie es innen ist: die Gerüche, die sinnlichen Wahrnehmungen, das Körperliche, die geistigen Erkenntnisse, die Landschaft und die Natur, die Gegenstände, die Gefühle, die tiefen Empfindungen – all das ist für mich im Innen zusammen. Und die Arbeit beim Schreiben ist, diese verfeinerten Wahrnehmungen, die in mir schon sind, nicht zu trennen. Dann sitze ich da und empfange das, was in mir schon da ist, in Gestalt der Wörter.

e: In Ihren Texten nehmen Sie auch immer wieder Bezug zur gesellschaftlichen Situation. Möchten Sie in Ihrem Schreiben aus diesem inneren Ort heraus auch Impulse in den gesellschaftlichen Raum geben?

MB: Ich bin keine politische Aktivistin. Ich finde es wunderbar, wenn man dafür auf der Welt ist. Aber ich gehe immer vom Persönlichen, vom Individuellen, vom Einzelnen aus. Dabei gibt es Momente, wo ich ein dringliches Bedürfnis habe, den Einzelnen in Beziehung zu setzen zum Kollektiven. Ich möchte zeigen, dass der einzelne Mensch das Abbild seiner Zeit oder des Kollektivs sein kann.

In »Die Arbeit der Vögel« schreibe ich beispielsweise über Hoyerswerda, eine Stadt, die im kollektiven Raum praktisch nur negativ gedacht wird. Ich habe aber in Hoyerswerda auch andere Menschen kennengelernt, die ein liebendes und gütiges Herz haben und sich engagieren, und dieses Herz muss auch sichtbar sein. Wir beginnen schnell, in Kategorien zu denken und lassen nicht zu, dass es auch die hellere Seite der Welt tatsächlich gibt. Ich denke, es ist wichtig, diese Wirklichkeit ins ­Bewusstsein zurückzutragen.

Die poetische Wahrheit, die Wahrheit der inneren Verbindungen können wir nicht mit unseren logischen Sinnen erfassen, aber sie ist da, sie macht uns aus. Das möchte ich in die Welt tragen als ein Momentum, das unbedingt auch in diese Sphäre des Politischen hineinsprechen muss.

»Der Ort des innersten Sehens ist eine Ebene des Seins, die niemals getötet werden kann.«

Wenn unsere Außenministerin von einer feministischen Außenpolitik spricht, gerät sie immer mehr unter Druck, weil die Menschen sie beim Wort nehmen. Wenn man Worte benutzt, wird man auch beim Wort genommen. Die Worte sind der heilige Raum, sie verbinden das, was wir uns wünschen, was wir gestalten wollen, was uns herausfordert, was die Not der Menschen ist. Darin sind wir mit der Welt verbunden. Ich kann zum Beispiel die Belange der Frauen im Iran nicht trennen von dem, was ich als Leben empfinde. Ich fühle ihren Wunsch nach Selbstermächtigung, das Risiko, für das Leben zu kämpfen und sich nicht zu fügen. Wir leben in einer Zeit, in der es wichtig ist, diese Stimmen auch in der Literatur hörbar zu machen.

Viele meiner Leserinnen und Leser haben mir geschrieben, dass sie überrascht waren, dass ich mit meiner großen Sanftmut, die sie an mir schätzen, das kapitalistische System so rigoros angehe. Aber ich würde das so nicht auf der politischen Bühne laut hinausschreien, sondern immer in ein Palimpsest aus inneren Verstrebungen einbetten. Aus einer inneren stillen Welt heraus kann ich sagen: Da ist eine Näherin, die atmet Gifte ein, sie ist vielleicht Mutter, sie ist vielleicht Liebende, sie geht vielleicht gerade durch eine Krise, sie liebt einen Menschen, ein anderer Mensch liebt sie. Und diese Frau wird gerade vergiftet, weil wir glauben, 100 ­T-Shirts in 100 Farben in unserem Schrank haben zu müssen. Das muss ich beschreiben, das ist wichtig, das ist menschliches Leben. Und wir alle gestalten dieses Leben mit. Das ist meine Art, das Politische zu berühren – über den einzelnen Menschen zu weinen.

Die Wahrheit der inneren Verbindungen

e: In Ihren Büchern finden sich häufig solche Verknüpfungen zwischen literarischen, persönlichen, biografischen, historischen, politischen Elementen. Beim Lesen wird man mit hineingenommen in ein Bewusstsein der Verknüpfungen. Erleben Sie das Schreiben auch als einen Bewusstseinsprozess, der es möglich macht, diese Verknüpfungen in uns hineinzutragen und wirken zu lassen?

MB: Ja, unbedingt. Wie die Geografie, die Landschaft, die Stadt ein Ort ist, so ist das Schreiben für mich auch ein Ort. Ein Ort, an dem das Bewusstsein gestaltet werden kann. Wenn ich ein Gedicht schreibe, sehe ich einen Baum an, und es entsteht etwas in diesem Augenblick. Der Baum bündelt etwas. Ich bin dort, wo ich bin, und der Baum ist dort, wo er ist. Und dann wird alles in einer Sekunde blitzartig gesammelt. Das Schreiben ist ein Ort, der nichts trennt. Für mich ist es auch eine Arbeit am Selbst und am Bewusstsein. Je tiefer wir in die Welt der Verknüpfungen reisen, desto genauer wird die Möglichkeit, zu verstehen, wie alles miteinander in Beziehung steht. Ich kann es nicht trennen, das Persönliche und das Kollektive, das Metaphysische, das Mystische, das Lebendige, das Ökologische. Je länger ich lebe, desto mehr entsteht in mir der Eindruck: Es ist alles eins.

Author:
Mike Kauschke
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