Building on Beuys

Our Emotional Participation in the World
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April 5, 2021

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Ausgabe 30 / 2021:
|
April 2021
Kunst öffnet Welten
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Am erreichten Epochenrand

Wir befinden uns am Ende einer Epoche, in der wir unsere Mitwelt zum Objekt gemacht haben. Die Folgen zeigen sich in den derzeitigen ökologischen und sozialen Krisen. In unserem Gespräch blickt die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt über diesen »Epochenrand« hinaus in eine mögliche Zukunft, die aus einem neuen Miteinander entstehen könnte.

evolve: Du beschäftigst dich seit vielen Jahren intensiv mit den Kern­ideen von Joseph Beuys und führst diese in deiner eigenen Arbeit weiter. Ist Beuys’ Sichtweise auf Kunst und Gesellschaft in unserer heutigen Zeit überhaupt noch relevant?

Hildegard Kurt: Das Beuys-Jubiläumsjahr korrespondiert derart passgenau mit der Gegenwartslage, dass man meinen könnte, Beuys selbst habe sich das als posthume Aktion ausgedacht. Noch vor zehn Jahren wäre die Relevanz weniger akut gewesen. Jetzt aber, gefühlt seit dem Dürresommer 2018, gelangen ökologische und soziale Schieflagen, die schon im Schaffen dieses Künstlers zentral waren, weltweit in unmittelbare Nähe von Kipppunkten.

Bis in den Alltag hinein wird gegenwärtig spürbar: Die große Erzählung der Moderne mit ihren Verheißungen des endlosen Schneller, Höher, Weiter, Mehr und der Kontrollierbarkeit sämtlicher Lebensvollzüge überzeugt nicht mehr, trägt nicht mehr, entpuppt sich gar vor aller Augen als von Anfang an irreführend und falsch. »Der Kaiser ist nackt.« Zugleich werden wir durch Phänomene wie die Erderwärmung oder Covid-19 gewahr, wie zunehmend ein ganz anderes Narrativ – machtvoll, katastrophisch, verstörend – sich Ausdruck verschafft: das des lebenden Systems Erde. Dieses Narrativ hat zutiefst mit uns Menschen zu tun, ist durch unser Handeln während der letzten zweihundert Jahre entstanden, betrifft und bedroht uns existenziell, während die Federführung für die neue große Erzählung nicht bei uns liegt. Welch beispiellose Lage!

Beuys’ radikaler Ansatz und seine außerordentlich wirkungsvolle kreative Kraft kommen hier wie gerufen. Denn nun wird es überlebenswichtig, in die Tiefe des Denkgebäudes der Moderne hinabzusteigen und gründlicher als bisher in transformativer Intention den Grundstein zu inspizieren, worauf das (noch) bestehende System basiert: nämlich auf der Annahme, nur das rationale Selbst sei ein Subjekt. Und alles, was nicht identisch damit ist – der eigene Körper, andere Lebewesen, die ganze lebendige Mitwelt – sei Objekt. Bis heute bereitet dieser Dualismus der neoliberalen Ökonomie, ihrem Vermarkten, Verbrauchen, Vernutzen, Verramschen, Verwüsten von Lebendigkeit immer wieder neu den Boden.

Ein blinder Fleck in Kultur und Kunst

Allerdings – und fatalerweise – ist gerade der Kultur- und Kunstbetrieb, worin man Beuys ja primär verortet, aufs Engste mit dem neoliberalen Paradigma verquickt. Denn in beiden Bereichen sind Kriterien wie Wettbewerb, Konkurrenz, Produktfixierung und Marktfähigkeit zentral. Schon der moderne Kunstbegriff selbst, entstanden in der Renaissance, ist in seinen Grundannahmen verschwistert mit dem kurz zuvor, Ende des 13. Jahrhunderts, in den urbanen Zentren Italiens erfundenen Kapitalismus. Und nun führt uns ­Covid-19 gnadenlos vor Augen, wie sehr Kultur und Kunst am Tropf der neoliberalen Wachstumsgesellschaft hängen. Solange das der Fall ist, werden künstlerisch-kulturelle Nachhaltigkeitsaktivitäten letztendlich zahnlose Tiger bleiben. Den Erweiterten Kunstbegriff, für den Beuys eintrat, auf gesellschaftlicher Ebene zu praktizieren, würde an dieser Stelle bedeuten: Kultur- und Kunstinstitutionen, vor allem aber die Kulturpolitik, überwinden ihre eigenen Pfadabhängigkeiten und Systemlogiken, indem sie sich tatkräftig in das Ringen um eine Postwachstumsgesellschaft, hin zu Ansätzen wie Gemeinwohlökonomie und einem Commons-basierten Wirtschaften einbringen.

Ließe Kultur sich neu entdecken als Fähigkeit einer Gesellschaft, kraft Imagination und Kreativität empfänglich, berührbar, erreichbar zu werden für die legitimen Bedürfnisse des Lebendigen, das jetzt extrem bedroht ist?

 NUN WIRD ES ÜBERLEBENSWICHTIG, IN DIE TIEFE DES DENKGEBÄUDES DER MODERNE HINABZUSTEIGEN. 

e: Braucht es, um das anzusprechen, wirklich diese Perspektive der erweiterten Kunst? Andere Kritiker verwenden zum Beispiel das Denken der System-Theorie, um aufzuzeigen, wie sehr wir uns von der lebendigen Mitwelt abgegrenzt haben. Was ist das Besondere am erweiterten Kunstverständnis, das Beuys für uns eröffnet hat? Warum ist das wichtig?

HK: Eine sehr schöne Frage. Beuys hat seine Erkundungen auf eine Weise durchgeführt, die oft als schamanisch empfunden wurden. Seine Interaktionen – mit einem Pferd, einem Kojoten, einem Moor, Bäumen, Pflanzen oder auch einem toten Hasen und genauso die so ungemein zarten Zeichnungen etwa von Hirschen und Bienen – zielen auf eine Befreiung aus unserer selbstauferlegten Abtrennung vom lebendigen Ganzen. Während die Systemtheorie ihre Erkenntnisse aus rationaler Analyse schöpft, was Beuys ja nicht zurückweist, erkundet er, wie ein sinnenhaftes Kommunizieren mit dem Lebendigen Sinn stiftet. Deswegen wohl hat Rüdiger Sünner seinem Beuys-Film »Zeige deine Wunde« das Zitat des englischen Dichters William Blake vorangestellt: »Wenn die Tore der Wahrnehmung gereinigt wären, würde dem Menschen alles so erscheinen, wie es ist – unendlich.«

Vom Ding zum Du

Das ist der Zugang, den Beuys auskundschaftet. Provokant, spannungsreich erprobt er kreative Strategien, um die Automatismen, in denen das Wahrnehmen gefangen ist, zu durchbrechen und eingefleischte Denkgewohnheiten zu konterkarieren. Damit Bewusstheit entsteht – wodurch die lebendige Mitwelt, in der Moderne zum Ding gemacht, neu zum Du werden kann. Darin liegt zu einem guten Teil die bewusstseinsgeschichtliche Dimension seiner Erkundungen, von denen er selbst immer gesagt hat, er stehe damit erst ganz am Anfang.

e: Es scheint ja auch so zu sein, dass Beuys ein Anfang für etwas war. Du bist aktuell an einem Vorhaben mit dem Titel »Building on Beuys« beteiligt. Worum geht es da?

HK: Wir bereiten eine viertägige transdiszipli­näre »ZUsammenKUNFT« im Frühjahr 2022 mit diesem Namen vor, also nach dem Beuys-Jahr, in Bonn und Wuppertal – Orte, wo Beuys einst diverse Spuren hinterließ, und die sich heute als »Nachhaltigkeitsstädte« und »Transformationslabore« verstehen. Zu den Trägern zählt die UN-Klimastadt Bonn. In Wuppertal mit seiner lebendigen Kunst- und Kulturszene manifestiert sich seit einigen Jahren ein beachtliches transformatives Potenzial in kreativen Bottom-up-Formaten rund um die Frage »Wie wollen wir leben?«.

Bei dieser ZUsammenKUNFT wird Beuys nicht wirklich im Mittelpunkt stehen, sondern eher eine Art Mentor sein. Wir schauen sozusagen mit ihm auf die hier eingangs skizzierte Gegenwartssituation – den erreichten Epochenrand. »Building on Beuys« will zum nun unaufschiebbaren »System Reset« beitragen. Wir wollen vom neuralgischen Punkt der westlich geprägten Moderne, der Subjekt-Objekt-Trennung aus eine postdualistische Weltsicht ausleuchten und fragen, wie diese auf den verschiedensten Lebens- und Arbeitsfeldern praktizierbar wäre oder bereits praktiziert wird. Inspiriert von Beuys sollen ­Wege hin zu einem verlebendigenden Weltbezug freigelegt werden, zu einem Terrain jenseits der modernen Verdinglichung: Wie können wir mit der lebendigen Mitwelt kommunizieren? Was würde es bedeuten, die Sphären des Sozialen und des Rechts über uns Menschen hinaus auf alle Lebewesen auszuweiten? Können wir den gegenwärtig grassierenden Beziehungsschwund überwinden, hin zu fairen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungsmustern – zwischen Menschen ebenso wie zwischen Menschen und der lebendigen Mitwelt?

Zukunft entsteht aus einem neuen Miteinander

Das Wort ZUsammenKUNFT bringt hier eine Grundannahme zum Ausdruck: Zukunft entsteht aus einem neuen Miteinander. Es ist nun wirklich an der Zeit, den schrankenlosen Individualismus – gemeinsame Grundlage des westlichen Kunstbegriffs und des Neoliberalismus – zu überwinden, hin zum Herausbilden von Individualität in Verbundensein. Beuys’ Idee der Sozialen Plastik sowie Begriffe und Konzepte wie Kokreativität, dialogische Intelligenz, collective leadership oder auch das HigherWe, dem ihr euch mit dieser Zeitschrift und den Dialogformaten von emerge bewusstseinskultur verschreibt, weisen hier die Richtung.

Mit all dem will »Building on Beuys« auch die Verbindung von Kunst, Kultur und Nachhaltigkeit, aktuell in der Kulturpolitik hoch im Kurs, aus der Tiefe heraus neu kalibrieren. Insgesamt wird es darum gehen, Orientierungswissen und transformative Praktiken zu generieren und zu teilen; mitzuweben an einer neuen großen Erzählung, die, frei nach Beuys, »Richtkräfte« generiert, um das, was ist und was kommen wird, freiheitlich, als offene Gesellschaft zu bewältigen.

Befreiung über den ­Menschen hinaus

e: Es gibt eine Soziale Plastik von Beuys, die mich nicht mehr loslässt. Das ist so ein Werk, mit dem er Richtkräfte buchstäblich in die Welt gesetzt hat, die erst über die Zeit langsam ihre Kraft entfalten. Ich spreche von seiner Kunstaktion »7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stattverwaltung«. Beuys ­pflanzte 1982 im Rahmen der Kunstausstellung documenta in der Stadt Kassel 7000 Bäume, die Hälfte davon Eichen. Jedem Baum ­stellte er eine Basalt-Stele zur Seite. Mittlerweile sind die einstigen Bäumchen zu Bäumen geworden. Die Stadt Kassel ist sozusagen verwaldet. Du hast Beuys als Schamanen angesprochen. Diese Stadtverwaldung kann auch als großes kulturgeschichtliches Ritual verstanden werden.

Kassel liegt ja in unmittelbarer Nähe von Fritzlar, jenem kleinen Ort, in dem um das Jahr 700 der Heilige Bonifatius die Donar-Eiche, das damalige Heiligtum der benachbarten Franken, gefällt hat. Jetzt kommt also Beuys im Jahre 1982 und pflanzt sozusagen am gleichen Ort einen Eichenwald. Als Bonifatius am Anfang des Mittelalters die Donar-­Eiche fällte, war das ebenfalls ein großer symbolischer Akt. Er wollte die Franken »bekehren« und von ihrer alten Naturreligion lösen. Das gelang ihm auch, indem er die heilige Eiche fällte. Und nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, pflanzte Beuys im Rahmen einer der größten Kunstveranstaltungen der Welt einen Eichenwald und direkt neben jedem Baum eine Basalt-Stele aus einem erloschenen Vulkan. Das ist doch eine symbolische ­Intervention in unsere Geistes- und Kulturgeschichte.

HK: Was du sagst, berührt mich sehr. Es veranschaulicht in der Tat ungemein eindringlich, wovon hier die Rede ist: von der Christianisierung des Abendlandes und damit zugleich der Abtrennung von den vorangehenden animistischen Kulturen, symbolhaft vollzogen im Fällen der Eiche. Und Beuys, der – als Schamane – gegen Ende des in vielerlei Hinsicht barbarischen letzten Jahrhunderts mit seiner Stadtverwaldung zum Ausdruck bringt, dass wir als Menschen nur eine Zukunft haben, wenn wir bewusst zu einem umfassenden In-Beziehung-Sein, zu einem mit allen Lebewesen geteilten Sein finden.

Im Christentum geht es um das Heil der menschlichen Seele, und in der Moderne stand die Erkundung der Freiheit des Menschen im Mittelpunkt. Jetzt aber, am erreichten Epochenrand, können wir unsere Freiheit und unser Seelenheil wohl nur dann neu konstituieren und finden, wenn wir die Suche danach mit der Befreiung und praktizierten Würdigung der anders-als-menschlichen Lebewesen verbinden.

Dabei geschieht auch eine Art Umstülpung, bei der die indigenen Völker, lange Zeit für rückständig gehalten, auf einmal vorne sind. Denn ihre oft animistischen Kosmologien beinhalten ein umfassendes In-Beziehung-Sein. So fangen wir nun, da die folgenschweren Irrtümer der modernen Weltdeutung offen zutage liegen, an, uns als Lernende dem »wilden Denken« (Claude ­Lévi-Strauss), oder, mit Andreas Weber gesprochen, der »Indigenialität« zuzuwenden. In der Hoffnung, Anknüpfungspunkte für jetzt anstehende Überlebensfragen zu finden.

WIE KÖNNEN WIR DEN GEGENWÄRTIG GRASSIERENDEN BEZIEHUNGSSCHWUND ÜBERWINDEN?

e: Ich würde noch gerne den Slogan »Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« aufgreifen, den Beuys bei dieser Aktion geprägt hat. Verwaltung ist in der Regel ein technokratischer Akt. Wir verwalten Städte. Dem setzt nun Beuys die Verwaldung entgegen. Diese Stadtverwaldung hat Kassel wirklich verändert. Auf einmal wächst mitten in der Stadt ein veritabler Wald. Diese Zusammenführung von Stadt und Wald, die Beuys hier bewerkstelligt hat, steht auch für eine andere Möglichkeit dessen, was Stadt sein kann – auch das hat uns Beuys hinterlassen.

HK: Hinzu kommt, dass Kassel mit der documenta ein künstlerisches Mekka der Moderne darstellt – einer Epoche, die ganz und gar linear nach vorwärts ausgerichtet war und ist: mit Fortschritt und Entwicklung auf der Grundlage eines quantitativen, endlosen Wachsens der Wirtschaft. In diesen linearen Sog hinein pflanzt Beuys Vertikalen. Einmal die pflanzliche Vertikale, den Baum, dann die mineralische Vertikale, die Basalt-Stele. Und in beiden nicht-menschlichen Vertikalen scheint eine andere Zeitqualität auf. Die Bäume mit ihren tiefen Wurzeln und einer Lebensdauer von mehreren Hundert Jahren, erst recht die Basalt-Stelen, Zeugen der frühen Erdgeschichte, eröffnen eine Zeitdimension, die dem Linearen, Messbaren, sich stetig Beschleunigenden diametral entgegensteht. So wird hier mitten im Straßenverkehr ein aufrichtender Impuls jenes lebenden Systems Erde manifest, dessen Narrativ – siehe den Anfang unseres Gespräches – nun die große Erzählung der Moderne ablöst.

e: Tatsächlich bekommt »Building on Beuys« an dieser Stelle nochmal eine andere Bedeutung. Was da, von Beuys gepflanzt, in Kassel wächst, steht auch für einen neuen Anfang in unserer abendländischen Kultur.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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