Corona und Blümchen

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Publiziert am:

July 16, 2020

Mit:
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Weil Schönheit nicht harmlos ist

Diese Ausgabe von evolve ist auch mit den Arbeiten des Künstlers Alfred Bast gestaltet worden. In seinem Werk nähert er sich dem oft versteckten Geheimnis des Schönen in vielen Formen - zeichnend, malend, denkend und schreibend. Wir sprachen mit ihm über seine Zwiesprache mit dem Schönen in einer krisenhaften Zeit.

evolve: Du scheinst eine besondere Beziehung zu den Blüten des Vergissmeinnichts zu haben. Darf ich dich zu Beginn einfach fragen: Was sagt dir ein Vergissmeinnicht?

Alfred Bast: Dazu gibt es eine Geschichte. Als 68er-Student habe ich ja keine Blümchen gezeichnet. Doch wollte ich meiner Mutter ein Blumenbild zum Geburtstag schenken und wählte, etwas humorig-ironisch, das Vergissmeinnicht. Beim Zeichnen stellte ich erstaunt fest, dass es ein exaktes Fünfeck, ein Pentagramm ist. Zudem ist die Farbe komplementär – die spiralig angeordneten Blütenblätter sind himmelblau, die Pollen in der Mitte leuchten in einem wunderschönen Gelborange. Dieses Blümchen lehrte mich die Ganzheit, weil es präzise Geometrie mit der Freiheit seiner schwungvollen Blätter vereint und sich die Farben komplementär ergänzen. Das war ein Schlüsselerlebnis und ich erforschte und malte es wieder und wieder.

Bäume als Lehrmeister

e: Du nennst das Vergissmeinnicht berechtigterweise ein Blümchen. Kann einem die Schönheit eines solchen Blümchens nicht auch den Blick auf die Wirklichkeit verstellen? Die ist ja alles andere als nur schön.

AB: Die Schönheit in einem solchen Blümchen tarnt sich in Harmlosigkeit, in Niedlichkeit, die dann ihre Macht und Großartigkeit nur dem Blick zeigt, der sich ihrem intimen Kraftfeld zu nähern und es zu öffnen weiß. Du beobachtest, wie sich die Blumen auf die Sonne ausrichten, und bedenkst, dass die Planeten Venus und Erde in ihrem Lauf um die Sonne einen exakten Fünfstern in den Raum zeichnen, eben so einen wie in dem Vergissmeinnicht. Dann erkennst du, oder ahnst es wenigstens, dass alles was wächst in einer subtilen Wechselwirkung mit planetarischen Vorgängen und Kraftfeldern steht, die aus dem Dunkel der Erde ins Sichtbare kommen. Das erfüllt mich mit Ehrfurcht und einer fast rauschhaften Nüchternheit. Wenn du eine Wiese anschaust, siehst du kein einziges Blättchen, das nicht seiner eigenen Ordnung folgt. Weil es harmonisch und stimmig ist, greift es den mediengewohnten Blick nicht direkt an. Dadurch wird eine Harmlosigkeit und Milde erzeugt, die Rilke so in Worte fasst: »Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.«

Schönheit ist eine ungeheure Macht, die sich in Lieblichkeit tarnt. Das kosmische Geschehen ist in diesen für uns optisch kleinen, harmlosen Blümchen niedergeschrieben. Weil sie uns nicht bedrohen, nehmen wir sie nicht ernst. Wenn wir angstfrei schauen und nicht mehr auf Bedrohung und Sensation fixiert sind, sondern das Naheliegende und Selbstverständliche anschauen wie zum ersten oder letzten Mal, dann öffnet die Schönheit weit ihre Tore. Sie zeigt die Übereinstimmung von Innen und Außen, von klarer Ordnung und wilden Prozessen, von geometrischen Gesetzmäßigkeiten und freien, tänzerischen Bewegungen.

e: Ich kann diesen kosmischen Blick, den Bezug zu einer durchdringenden Ordnung und Harmonie nachvollziehen. Aber liegt in diesem Blick nicht auch etwas Verlogenes – vor allem, wenn man das direkt auf unsere Zeit anwendet, die mit all den Unsicherheiten und z.B. den aktuellen Protesten in Amerika gegen Rassismus auch eine Gebrochenheit hinterlässt?

AB: Das sind zwei unterschiedliche Ebenen, die ich nicht so zusammenbringen würde. Wenn man in einer existenziell bedrohlichen Konfliktsituation ist, klar, dann sind Blümchen vielleicht nicht angebracht. Und die Flower-Power-Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, die eine starke Kraft entfaltete, lässt sich in dieser Form kaum wiederholen. Die erste Ebene bezieht sich auf die Natur der Blumen, die sich nicht an menschlichen Konflikten orientieren, sondern am planetarischen Geschehen. Insofern verweist die Naturschönheit auf einen grundlegenden kosmischen Zusammenhang, aus dem auch unsere Körperlichkeit gebildet ist. Diese Basis klingt durch die Naturschönheit an und wird verstärkt. Wenn wir als Menschen mit unserem Körper in einer intakten Landschaft sind, wenn wir einen Baum anschauen, dann sind wir in Resonanz mit der tiefen Grundlage unserer Natur. Dann sind wir nicht in Kontakt mit den Konflikten, die wir als Personen, als sozialisierte Gruppen gegeneinander und miteinander austragen. Und auf dieser zweiten, der Konflikt-Ebene lässt sich sagen: Wer da noch Blümchen malt oder wer nach Ausschwitz noch Gedichte schreibt (Adorno), verharmlost und beschönigt, was wirklich vor sich geht, und der schöne Schein lügt.

Aber ich sehe das genau umgekehrt. Denn die Kraft zur Konfliktlösung liegt nicht in den Konflikten selbst, sondern in einer Anbindung an die lebendige Wirklichkeit, in der diese Konflikte noch nicht oder nicht mehr stattfinden. Dann können eine Blume, ein Garten und eine Wiese zum Lehrbuch für gesellschaftliches Miteinander werden. Die Blumenwiese wird zu einem großen Entwurf, der nicht in Worten spricht, sondern in Gestalten, an denen wir uns als Menschen orientieren können. Deswegen ist das keine Verblendung oder Verharmlosung, sondern eine Perspektive, eine Vision, die uns vor Augen steht und an der wir uns orientieren können. Doch wir sind blind dafür in unseren Konflikten.

Briefe aus Coronien

e: Meine Frage hat auch damit zu tun, dass du mit ein Grund dafür bist, dass wir für diese Ausgabe von evolve das Thema Schönheit gewählt haben. Denn in dieser heftigen, vielschichtigen Krise, in der wir gerade sind, hast du in meiner Wahrnehmung herausgeragt. Du warst nämlich auf eigentümliche Weise von der Corona-Krise betroffen. Du warst im Frühjahr eingeladen, in Pondicherry, Indien, eine Ausstellung über deine künstlerische Arbeit zu gestalten. Die Reisebeschränkungen ließen das nicht zu. Darauf hast du dich in dein Atelier, das du Kunst-Kloster nennst, zurückgezogen und von dort täglich »Werktagebücher aus Coronien« geschrieben und an einen größeren Freundeskreis gemailt. Dabei fiel mir dieser Kontrast auf zwischen der Verunsicherung durch die Krise und dieser täglichen Kunst-Botschaft von dir. Deine Worte kamen aus einem Ort der Schönheit, der mir bedeutsam erschien. Du schriebst – und diese Arbeit begannst du jeden Tag um drei Uhr morgens – über deine Beschäftigung mit Gräsern, mit verschrumpelten Äpfeln, was leicht als künstlerisches Bypassing der Wirklichkeit verstanden werden könnte. Trotzdem kam es mir nicht so vor. Inwiefern ist das, was du durch Kunst und Schönheit in dieser Krisensituation angesprochen hast, wichtig und wert, gehört zu werden?

AB: Das freut mich, dass du das so erlebt hast. Bei diesen »Werktagebüchern aus Coronien« habe ich jeden Tag Texte in die kleinen Reclam-Universal-Notiz-Bücher geschrieben und Bilder gemalt unter dem Titel: »Corona – und was es sonst noch gibt«. Damit wollte ich der Hypnose, die mich und uns gebannt hat, die öffnende Realität der Natur gegenüberstellen, in der ich das Glück hatte, während der Krise sein und wirken zu dürfen.

In diesem Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein war zum Beispiel die großräumige Stille ohne Motorengeräusche ein tiefes Erlebnis, und dass keine Flugzeuge mehr den Himmel durchzogen. Ich habe hier vor Ort noch nie so einen blauen Himmel gesehen. Die Natur atmete auf, weil die Luft rein wurde, so schien es. Ich wurde zu einer intensivierten, bewussten Wahrnehmung dessen, was gegeben ist, was uns nährt, hingezogen, und empfand es als lustvolle Aufgabe, das in den »Werktagebüchern aus Coronien« zu formulieren und mitzuteilen. Es wurde eine Zeit der existenziellen Basisbesinnung. Wenn es kein Licht und keine Pflanzen mehr gibt, die nicht durch Menschen geschaffen werden, dann sind wir ganz schnell verloren.

Das Virus ist keine menschengemachte Bombe, sondern ein Teil des natürlichen Seins, das aus Atomen, Molekülen, Zellen diese unglaubliche Vielfalt erschafft. Daraus gehen wir als komplexe menschliche Einzelwesen hervor und besinnen uns kaum mehr auf unseren Ursprung. In dieser Zeit war (und ist) das Tor dazu offener als üblich. Da war der Zugang zum tiefsten Quell möglich, aus dem wir kommen – aus dem Licht, aus der Erde, die uns hervorgebracht hat, mit all ihren verschiedenen Gestaltkräften, die Milliarden von Jahren daran mitwirkten, dass ein Mensch entstehen kann, in dessen Miteinander Konflikte in einer ununterbrochenen Erbkette mehr und mehr in den Fokus rücken. Was wir jetzt erleben, deutet auch darauf hin, dass wir als Kollektiv den Bezug zum tiefen Mysterium des Daseins, das sich in unserer eigenen Natur ausdrückt, rasch in den brennenden Konflikten verlieren. Gewalt halten wir für real – sie ist es auch, Schönheit, die Ausdruck der Harmonie der Gegensätze ist, für Augenwischerei – das ist sie nicht. Auch schulen wir uns als Gesellschaft zu wenig in dem natürlichen Bezug zum Alterungsprozess und zum Sterben. Stattdessen isolieren wir uns als einzelne Segmente und kämpfen gegen andere isolierte Segmente. Deshalb ist es notwendig, sich auf unsere natürliche Basis zu konzentrieren.

WENN DU EINE WIESE ANSCHAUST, SIEHST DU KEIN EINZIGES BLÄTTCHEN, DAS NICHT SEINER EIGENEN ORDNUNG FOLGT.

Man braucht nur die Augen aufzumachen, einen Baum anzuschauen und zu fragen: »Was hast du mir zu sagen?« Und er antwortet: »Ich bin Einheit und Vielfalt.

Ich atme, durchlebe den Prozess von Blüte und Frucht und bleibe einen Winter lang still.« Diese einfachen Signale sollten wir neu entdecken. Wir haben die Natur als Lehrmeisterin und Inspirationsquelle als romantisches Klischee in der Moderne abgestreift. Wobei es nicht darum geht zurückzugehen, sondern zu erkennen, woher wir kommen, um dorthin zu gelangen, woher wir die Kräfte beziehen können.

Was da wächst, ist unsere Existenzbasis. Wenn wir uns dem zuwenden, erhalten wir Kräfte, um die schwierigen Probleme, die wir Menschen selbst erzeugen, zu lösen. Ich muss es nochmal betonen: Probleme lassen sich nicht aus dem Problem selber lösen, es braucht gewisse Orientierungen und Modelle dazu, die außerhalb der Probleme liegen. Und diese Modelle wachsen einem vor der Nase, sie duften sogar und heißen Blume und Baum. So sehe ich das jedenfalls.

e: Was du sagst, ist auch ein Aufruf, sich zu besinnen. Das Wort »sich besinnen« hat aber eine doppelte Bedeutung: Sinnlichkeit und Sinn. Wenn du die Schönheit ansprichst, ist es einerseits die unmittelbare Sinnlichkeit der natürlichen Schönheit. Du sprichst aber eine universelle Harmonie oder Gesetzmäßigkeit an. Ist diese doppelte Besinnung für dich auch gesellschaftlich relevant?

AB: Die gesellschaftliche Bedeutung ist modellhaft auch wieder im Baum zu erkennen: Es gibt den Stamm und seine Verzweigungen. Das zeigt vielfältige Qualitäten als komplexe Einheit. Die einzelnen Äste wachsen miteinander, teilweise auch gegeneinander, aber bleiben Teil des Ganzen, das sie zugleich bilden. Deshalb ist die Natur nicht harmlos schön, sondern es wirken extrem widersprüchliche Kräfte zusammen, die dennoch ein harmonisches Ganzes erzeugen. Das sind Prozesse, die auch für menschliches Zusammenleben relevant und vorbildlich sind.

Wenn ich allein im Atelier bin, besteht die Kunst auch darin, die Fülle der Impulse, Ideen, Vorhaben, die Hemmungen und Widrigkeiten, die Termine und Pläne auf ein offenes Ziel hin auszurichten und mit mir selbst eine dynamische Einheit zu bilden, in der sich die jeweils speziellen Fähigkeiten in geordneter Dynamik entfalten können. Jeder Mensch ist ein Ganzes, ein Universum. Mit ihm wird die ganze Welt geboren und geht wieder dahin. So kann er auch in sich dafür sorgen, dass sein Ganzes reift und sich erfüllt, damit es sich mit anderen zu einer neuen, größeren Figur verbinden kann. Dadurch ergibt sich die Fülle eines Miteinanders und der Vielfältigkeit in der Einheit. Diese Vielfältigkeit als Ausdruck von Einheit zu erleben, ist auch ein gesellschaftliches Modell. Wir sind EIN komplexes Ganzes. Es scheint so einfach, das auf ein gesellschaftliches Miteinander zu übertragen. Dass dies so wenig geschieht, ist eine zähe, jahrtausendealte Katastrophe und eine aktuelle, sinnstiftende, schöne Aufgabe.

Das Geheimnis eines welkenden Apfels

e: Die Ganzheit, die du ansprichst, ist auch die Ganzheit von Leben und Tod. Du malst ja auch Quitten oder Äpfel in verschiedenen Phasen ihres Vergehens, ihres Sterbens. Gibt es auch eine Schönheit des Sterbens?

AB: Ich habe mich gefragt, ob es eine Rückseite der Schönheit gibt oder ob immer nur die Oberfläche attraktiv erscheint. Wenn ich sehe, wie ein Apfel oder eine Quitte langsam verschrumpeln und äußerlich in den Zustand des Unschönen übergehen, oder wie eine Rose oder Lilie welkt, dann erfahre ich eine andere Art von Schönheit. Besonders, wenn ich das dann zeichne, also aufmerksam wahrnehme. Alles, was sich ändert, wandelt sich auf eine liebevoll langsame Weise. Es ist nicht plötzlich schockierend hässlich, sondern es bildet sich zurück. Es entformt sich, wie es sich in die Schönheit hinaus formt. Die Haut schrumpelt und diese Verschrumpelungen sehen aus wie Erdfurchen. Das pralle Rund der Frucht geht wieder zurück in träumerische, amor phe Strukturen, die sich in Gesteinen, Hölzern, Rinden wiederfinden. Nichts, was in der Natur in die Erscheinung kommt und wieder aus der Erscheinung tritt, fällt aus dem Sein. Ich empfinde dieses Entformen als etwas Heiliges, auch gerade, weil es sich der sichtbaren Attraktion entzieht und doch dieselbe Frucht bleibt.

DAS HERZ HÜTET DAS WAHRE, GUTE UND SCHÖNE.

Und wir wissen: Das Innere der Frucht birgt Zukunft, da reifen die Kerne. Da will gar nichts mehr nach Außen strahlen, sondern will äußerlich verschrumpeln, um zum Nährstoff für die Zukunft zu werden, die im Innern der Frucht bereits kernig anwesend ist. Diesen Prozess der Wandlung empfinde ich als unglaublich schön. Auch auf manchen vom Leben verlassenen Gesichtern liegt ein friedvoller, schöner Glanz.

e: Dieser Prozess der Wandlung ist unmittelbar, sinnlich, aber er ist eben auch universell. In einem schrumpelnden Apfel zeigt sich ein universelles Prinzip.

AB: Ja, das Besinnen ist der Fokus auf das, was wir nicht wissen, innerhalb dessen, was wir wissen. Das ist auch die Voraussetzung für Inspiration und Intuition.

Dazu gehört auch die Introspektion. Ich sehe nicht nur nach außen, ich sehe auch in mir, was da sieht und wie es interpretiert. Wenn ich zum Beispiel eine Blüte male, dann muss ich mich, indem ich mich mit der Schönheit als Kraft beschäftigte, durch die Schale des schönen Scheins hindurcharbeiten. Ich muss durch alles hindurchsterben, was darauf angelegt ist, etwas zu auf jeden Windhauch winkend reagieren. Du bist konfrontiert mit der Komplexität dieser Wirklichkeit, die so offen-sichtlich vor deinen Augen ist. Dazu sagen wir dann Mohnblume und denken an Mohnkuchen oder anderes. Oder wir finden es schön, weil es im Aquarell so ein schönes leuchtendes Motiv ergibt. Diesen äußern Deutungsring muss ich malend nach innen überschreiten, um zum Mysterium zu kommen, zu dem, was die Blüte dem Menschen heute zu sagen hat. Denn die Natur ist Ausdruck einer nicht anthropozentrischen Intelligenz, die in Gestalten und Prozessen spricht – sie hält Ausschau nach Augen, die sie sehen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Teile diesen Artikel: