Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
February 2, 2021
Eine Ausbildung in der nächsten Stadt, ein attraktiver Job im Ausland, häufiges Umziehen wegen prekärer Mietverträge, eine neue Liebe, Flucht vor Krieg … Es gibt viele Gründe, warum Menschen einen ihnen vertrauten Ort verlassen und sich irgendwo anders neu niederlassen. Jeder Umzug macht es notwendig, sich an einem neuen Ort wieder zu orientieren, zu verorten, zu beheimaten. Oft stellt sich dann die Frage: Ist Heimat nur dort, wo man einmal war? An den Orten der Kindheit, wo einem jedes Häusereck, jede Nachbarskatze und all die Verstecke im Gebüsch vertraut sind? Wo man alle Jahreszeiten und ihre Früchte kennt? Woher kommt das Gefühl, an einem Ort heimisch zu sein? Und wie kann man es (wieder) kultivieren?
Susanne Fischer-Rizzi hat für diesen Prozess eine wunderbare Anleitung geschrieben, sie nimmt ihre Leser*innen mit auf eine spannende Forschungsreise in das eigene unmittelbare Umfeld. Heimisch werden bedeutet für sie zuallererst, mit dem eigenen Wohnort tiefer in Beziehung zu gehen, ihn auf vielfältige Weise wahrzunehmen und dadurch vielleicht auch (neu) lieben zu lernen. In ihren gut recherchierten und mitreißend geschriebenen Kapiteln über scheinbar simple Gegebenheiten wie Erde, Steine, Wasserläufe und Winde eröffnet sie einen neuen Blick auf unsere Alltagsumgebung. Was ich nie hinterfragt habe, wird plötzlich interessant: Auf welcher Erdplatte ist meine Stadt gebaut? Wie bewegt sie sich? Gab es hier mal Vulkane? Welche Gesteine formen den Untergrund und die nächsten Berge? In welcher Landschaft entspringt unser Fluss? Woher weht der Wind?
Einer der roten Fäden durch dieses Buch mit vielen praktischen Übungen ist die Einladung, selbst eine »Karte der Verbundenheit« zu gestalten, einen vielschichtigen Übersichtsplan der eigenen Bioregion (das ist eine Landschaft von ca. 30 km Durchmesser, in die der eigene Wohnort eingebettet ist). Im Laufe der Lektüre wird diese Karte immer reichhaltiger gefüllt: Welche Pflanzen wachsen durch die Ritzen in meiner Nachbarschaft? Wo finde ich einen guten Ort in der Natur, an dem ich auftanken kann? Welche Vögel landen auf meinem Balkon? Wie haben Menschen hier zu früheren Zeiten gelebt?
JE MEHR ICH SEHE, UMSO MEHR VERBUNDENHEIT ENTSTEHT.
All diese Fragen und Antworten führen zu einer sehr haptischen und geerdeten Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt. Das erscheint fast archaisch in einer Zeit, in der die digitalen Medien es immer leichter machen, sich ganz unabhängig von physischen Orten in virtuellen Räumen zu bewegen, dort wichtige soziale Beziehungen zu pflegen, zu lernen, dank der eigenen Homepage auch im Web zu Hause zu sein und im Online-Shop die eigenen Produkte zu verkaufen wie einst in einem Ladenlokal im eigenen Haus.
Die Beschäftigung mit den Geheimnissen meines Ortes lässt uns die Umgebung, in der wir uns täglich bewegen, mit anderen Augen sehen. So viel Lebendigkeit wird sichtbar wo man sie nicht vermutet hatte! Je mehr wir sehen, umso mehr Vertrautheit entsteht und auch ein tieferes Sinken im Ausatmen.
»Das Geheimnis deines Ortes – Anleitung zum heimisch werden« von Susanne Fischer-Rizzi ist nicht nur eine hilfreiche Inspiration für alle Menschen mit einer ungestillten Sehnsucht nach Verwurzelung, es ist auch dank der Fotos von Susanne Allgaier und der Illustrationen von Jens Hübner einfach schön zum Anschauen und Durchblättern. Dieses Buch ist eine willkommene Einladung, sich mit einem kleinen Stück Welt doch intensiver vertraut zu machen und auf diese Weise auch wirklich da daheim zu sein, wo man gerade lebt.