Das Ende der Postmoderne

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 24, 2018

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Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
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Wie gelingt der Schritt in eine neue Zeit?

Die Postmoderne hat die Kultur in den letzten 50 Jahren tief greifend verändert. Aber was ist aus dem revolutionären Geist dieser Aufbruchszeit geworden? Welchen Aufbruch brauchen wir heute – und was braucht er von uns?

In einem sind sich alle einig: Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und eine Epoche geht zu Ende. Aber wir erleben keinen Aufbruch. Im Gegenteil, viele sind beunruhigt von dem, was die Zukunft vielleicht bringt. Unser Zeitgefühl, das wir gerade durchleben, ist so anders als zum Beispiel jenes der 90er Jahre, als es für viele noch den Anschein hatte, dass die Zukunft, trotz aller politischer Herausforderungen weit und offen vor uns liegt. Können wir heute in dieser verunsichernden Zeit ein Tor zu einer gemeinsamen Zukunft aufstoßen, durch das wir auch gerne gehen?

In Zeiten der Verunsicherung, in denen die Nachrichten und die Ereignisse oft übermächtig über uns hereinbrechen, ist es vielleicht eine gute Idee, sich auch einmal vom Strom der Tagesnachrichten zu lösen. Wenn wir einige Schritte zurücktreten und uns auf ein größeres Bild einlassen als jenes, mit dem uns die Medien, auch die sozialen Medien tagtäglich konfrontieren. Ich meine einen historischen, einen geschichtlichen Blick auf die Gegenwart. In welcher Zeit leben wir? Woraus ist sie entstanden? Und wo will sie hin? Ich möchte mit diesem Artikel diesen Fragen nachgehen.

Dabei geht es nicht darum, »die wahre Perspektive« auf die Postmoderne zu finden. Das evolve-Magazin erhebt nicht den Anspruch auf letzte Wahrheiten. Unser Anspruch ist bescheidener, vielleicht ist er aber auch ambitionierter. Wir wollen aus unserer Perspektive fruchtbare Dialoge anstoßen. Denn aus unserer Sicht ist selbst Wahrheit ein dialogischer Prozess. 

Aber kein Dialog geschieht in einem luftleeren Raum. Auch Zeitschriftenarbeit ist Beziehungsarbeit. Wir machen dieses Magazin vor allem für eine bestimmte Gruppe von Menschen. Manche bezeichnen diese Gruppe als die Kultur-Kreativen, manche sprechen von einem evolutionär-integralen Milieu. Wir sprechen öfter auch von Menschen, die an einer aufgeklärten, engagierten und progressiven Spiritualität interessiert sind. Die meisten unserer Leserinnen und Leser haben einen oder mehrere dieser Hintergründe. Uns verbindet ein gemeinsames Interesse an innerer Bewusstseinsarbeit und äußerer gesellschaftlicher Veränderung. 

Aus dieser Perspektive wollen wir gerne mit Ihnen den Dialog über unsere postmoderne Gegenwart aufnehmen, eine Zeit, in der wir gemeinsam leben und die sich vielleicht gerade ihrem Ende zuneigt. 

Die letzten 70 Jahre

Wenn wir noch vor der Postmoderne beginnen, in den 50er und 60er Jahren, blicken wir auf eine Welt, die uns aus heutiger Sicht schon sehr fremd erscheint. Vor allem der Zukunftsglaube der damaligen Zeit, das ungebrochene Vertrauen auf die Technik und die Wissenschaft, erscheint uns heute fremd und naiv. Aber es war auch eine Zeit großer kultureller Starre. Die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren gerade erst überwunden und der Schock über das, was geschehen war, saß tief. Gerade in Deutschland waren viele Fragen nach der jüngsten Vergangenheit tabu. Aber auch in den anderen westlichen Ländern war man froh, endlich einen Status quo erreicht zu haben, der Normalität versprach. Experimente waren nicht erwünscht. Es war dieses, in gewissem Sinne auch ängstliche Klima, das die Voraussetzungen für eine ganz neue Epoche schuf, für eine kulturelle Explosion. Die Explosion von 1968.

1968 wurde zum Ausdruck für die Aufbruchsbewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre. In dieser Zeit entschied sich eine neue, unbelastete Generation, die Enge und Fantasielosigkeit der Nachkriegszeit nicht mehr zu ertragen. Die Geburt der Postmoderne war eine Explosion der »Kulturellen Befreiung«. Die Slogans der Zeit waren »Fantasie an die Macht!«, »Mut zur Utopie!« und »Trau’ keinem über 30!« Woodstock und der Protest gegen den Vietnamkrieg wurden zu den Symbolen dieser Zeit.

Diese Revolution kam aber bald ins Stocken. Ende der 70er Jahre glaubten nicht mehr viele an Flower-Power oder die politische Revolution. In der Popmusik wurden Bob Dylan, die frühen Rolling Stones und die Beatles übertönt von Boney M. und ABBA. In den 80er Jahren mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher zogen sich viele Intellektuelle der Postmoderne in den Kulturbetrieb und die geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten zurück. Gleichzeitig setzten die Ökologie- und die Friedensbewegung neue Themen auf die Agenda.

Längst befindet sich die postmoderne Kultur-Elite auf der Seite des Establishments.

Der nächste große Umschwung kam in den 90er Jahren, als nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa der Neoliberalismus für viele für einen kurzen Augenblick zur neuen Hoffnung für die Welt wurde. Das war auch eine Wende für viele postmoderne Menschen. Ihre Vertreter waren mittlerweile erwachsen geworden und viele machten Karriere. Meist nicht in der Politik, die eher den wirtschaftsliberalen Eliten vorbehalten war. Aber im Kultur- und Kunstbereich übernahmen die Postmodernen buchstäblich die Macht. Einige nutzten diese Macht zu einer »Akademischen Kulturkritik«, andere gingen einen anderen Weg.

Unter dem Einfluss der »Goldenen 90er Jahre« kam es zu der Koalition, die die westliche Welt bis heute mitbestimmt. Die neo­liberalen wirtschaftlichen Eliten und die postmodernen Kultureliten fanden zueinander. Aber die goldene Zeit dieser neoliberalen Koalition überdauerte nur einen kurzen Augenblick. Für einen Moment glaubte man damals, die menschliche Geschichte sei mit dem Neoliberalismus zu ihrem Ende gekommen. Der amerikanische
Philosoph Francis Fukuyama wurde mit dieser These berühmt. Doch bereits 2001, mit dem Terrorangriff auf New York, kam die Weltgeschichte auf grausame Weise zurück. Auf einmal wurde allen klar, dass es im globalen Süden einen militanten und auch fanatischen Widerstand gegen eine globale neoliberale Zukunft gab.

Der zweite Schock kam 2008, als die globale Finanzwirtschaft um ein Haar völlig im Abgrund der eigenen Spekulationen versank. Die ihr folgenden Wirtschafts- und Überschuldungskrisen sind bis heute nicht überwunden. Diese zwei Krisen haben die Grundkonstanten unserer Welt verändert. Ein militanter Islam ist bleibender Teil der Weltgeschichte geworden. Und die Glaubwürdigkeit des neoliberalen Wirtschaftsmodells wurde erschüttert. Zudem kam mit ihr auch das Ansehen der offenen Gesellschaft und ihrer demokratischen Werte in Verruf. Und im Schatten dieser Ereignisse verschoben sich die Machtgewichte in der Welt. Nach 500 Jahren westlicher Vorherrschaft wird die westliche Dominanz heute vor allem von Staaten wie China mit neuer Stärke infrage gestellt. Unsere menschliche Geschichte beginnt sich weiterzudrehen. 

Die postmoderne Kultur

Die Postmoderne begann als umfassende Protestbewegung in den 60er Jahren. Über die Jahre und mit dem Erfolg neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zog sie sich auf den Bereich der Kultur zurück. Wahrscheinlich liegen dort auch ihre größten Verdienste.

Da ist einerseits die postmoderne Philosophie. Nicht viele Menschen werden Philosophen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida gelesen haben. Aber diese Denker haben unsere Weltsicht stärker beeinflusst, als es vordergründig scheint. Sie haben unsere Vorstellung von Wahrheit verändert. Ihren Analysen verdanken wir die Einsicht, dass Wahrheit immer auch mit einer Perspektive zu tun hat, die wir einnehmen. Vieles, was wir einfach als gegebene Tatsachen hinnehmen, beruht auf kulturellen Vereinbarungen. Die postmodernen Philosophen begannen, diese bewussten oder unbewussten Vereinbarungen zu untersuchen. Ihre Einsichten sind oft auch von ihnen selber in einer Weise überzogen worden, dass es modern wurde zu glauben, es gäbe überhaupt keine Wahrheiten mehr. Aber ihre Erkenntnis, dass das, was wir in der Welt sehen, sehr viel mit uns selbst zu tun hat, erlaubte Einsichten in die menschliche Kultur, die früheren Generationen verschlossen waren. Durch diese Wendung des Blicks wurde sichtbar, dass unsere westliche, aufgeklärte Weltsicht fast ausschließlich von weißen, christlich geprägten, abendländischen Männern bestimmt wurde. Welchen Einfluss hat deren Blick auf das Erbe der Aufklärung? Sieht die Welt aus einer weiblichen afrikanischen Perspektive vielleicht ganz anders aus? Wie zeigt sich unsere Welt aus der Sicht eines taoistisch-konfuzianisch geprägten Chinesen? Ist es überhaupt möglich, unsere kulturelle Brille ganz abzulegen? Denn, falls wir das nicht können, wird es uns nie ganz möglich sein zu sehen und zu verstehen, wie die Welt aus einer anderen kulturellen Perspektive aussieht. Das kann verunsichern, denn wenn diese postmoderne Einsicht zutrifft, wie gehen wir damit um, dass wir nie ganz wissen werden, wie die Welt sich in anderen kulturellen Wahrnehmungen zeigt? Wie verständigen wir uns dann über universelle Werte, über Menschenrechte, Demokratie? Wird alles relativ? Viele postmoderne Denker gingen genau diesen Weg. Wie kann man die Sackgasse, in die er letztlich führte, wieder verlassen?

Der kulturelle Blick ist nur eine der postmodernen Einsichten, die unsere Welt verändert haben. Aber Postmoderne ist mehr als Theorie. Sie ist auch eine Lebenshaltung und eine Alltagskultur mit einem ganz besonderen Zentrum – dem Einzelnen.

In traditionellen Gesellschaften sind die einzelnen Menschen eingebunden in die gemeinsamen Traditionen ihrer jeweiligen Kultur. Es ist die Tradition, in der sich der Einzelne findet, die ihn bestimmt. Das waren dann das christliche Abendland oder auch die deutsche Nation. Die demokratische Kultur der Aufklärung brachte bereits eine erste Befreiung des Einzelnen von der Tradition. Kant sprach von der Befreiung aus der Unmündigkeit. Die Hoffnung der offenen Gesellschaft ist immer, dass wir gemeinsam in Freiheit unsere gemeinsamen Werte bestimmen und dass wir gleichzeitig jedem Bürger möglichst viel Freiraum lassen, um nach seiner oder ihrer eigenen »Fasson« glücklich zu werden. Die Postmoderne artikulierte in vielfacher Hinsicht Protest gegen die Moderne der Aufklärung. Sie betrieb aber auch in manchem deren radikale Weiterführung. Die radikale Befreiung des Einzelnen aus allen traditionellen Zusammenhängen führte zu einer postmodernen Kultur, in der wir uns in einer scheinbar radikalen Unabhängigkeit begegnen. Jeder von uns ist ein Universum für sich. Jeder, jede erfindet sich ganz für sich alleine. Aus der Befreiung des Einzelnen wurde so auch eine Kultur der Einzigartigkeit. Wie können Einzigartigkeit und Gemeinschaftlichkeit auf eine Weise neu gedacht werden, dass unsere Gesellschaften ihren Gemeinsinn und ihre kulturelle Identität behalten?

Die postmoderne Alltagskultur hat sich aber nach ihrer ersten, ihrer »revolutionären« Phase oft mit der neoliberalen Wirtschaftskultur unserer Zeit arrangiert. Am sichtbarsten ist das vielleicht in der Musikszene in ihrem Übergang von »Woodstock« zur Musik- und Unterhaltungsindustrie. Fing nicht alles mit Bob Dylan, den ­Beatles, den frühen Rolling Stones und Woodstock an? Wenn man die Popmusik über die 70er und 80er Jahre bis heute betrachtet, vom rebellischen Rock & Roll über Disco, Punk, Techno, Gangsta-Rap bis zu Beyoncé ist es schwer zu übersehen, wie der Sound des Protests immer mehr der Popmusik einer weltweiten Industrie gewichen ist. Natürlich gilt ähnliches für die Film- und Social-Media-Industrie. 

Die Revolte kommt heute nicht von der Postmoderne. Sie richtet sich gegen sie.

Diese Verbindung ist auch einer der blinden Flecke der postmodernen Kulturschaffenden. Ein guter Teil von ihnen, von Bono bis Madonna, ist, bei all ihrer rebellischen Haltung, zu einem Teil der kulturellen, globalen Elite geworden. Spätestens seit den 80er Jahren kam es zu einer Art neoliberaler Koalition wirtschaftsliberaler Wirtschaftseliten und postmoderner Kultureliten. Solange der Neoliberalismus der große Hoffnungsträger war, vor allem in den 90er Jahren, schien diese Verbindung die Zukunft der Welt zu sein. Bill Clinton, der US-Präsident mit dem Saxofon, stand fast symbolisch für die Verbindung dieser beiden Welten. Die Ereignisse seit 2001 haben das Bild verändert. Längst befindet sich die postmoderne Kultur­elite auf der Seite des Establishments. Die Revolte kommt heute nicht von der Postmoderne. Sie richtet sich gegen sie. Sie erwächst aus einer neuen Sehnsucht nach Identität. Die neoliberale Wirtschaftsordnung und die postmoderne Auflösung aller traditionellen Bindungen wird von vielen als eine Bedrohung durch »die globalen Eliten« erlebt. Das ist so in Moskau, in Teheran und Istanbul, aber auch in Warschau, Dresden und jetzt auch in Wien. Identität wird heute vermehrt in alten Werten, in kulturellen Traditionen, selbst in völkischen Fantasien gesucht. Wie können wir heute die Errungenschaften der Postmoderne verteidigen und gleichzeitig ihre Schattenseiten wahrnehmen und überwinden?

Der Schlüssel ist vielleicht die Frage nach Identität, nach einem neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber auch nach einem neuen globalen Zusammenhalt. Kann es uns gelingen, als Weltgemeinschaft nicht weiter auseinanderzufallen? Hier liegt vielleicht der Beitrag, den Menschen leisten können, deren Anliegen eine integrale Bewusstseinsarbeit ist.

Auf der Suche nach Antworten

Antworten müssen wir gemeinsam finden. Sie sind, genau wie die Wahrheit, ein Prozess. Aber Anstöße dazu kann man geben – hier einige kurze Gedanken:

  • Eigentlich erlaubt uns erst die multiperspektive Sicht der Postmoderne, die »anderen« in ihrer Andersartigkeit und Eigenheit wahrzunehmen und zu würdigen. Eine der Errungenschaften einer integralen Sicht auf die Welt, sei sie inspiriert von Ken ­Wilber oder anderen Pionieren, ist die Neubetoung der Einheit. In aller Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit stehen wir doch in einem gemeinsamen evolutionären Prozess unserer menschlichen, vielleicht auch kosmischen Geschichte. Wie können wir diese Gemeinsamkeit über alle Fremdheit hinweg finden? Durch Beziehung, durch Dialog. Unsere neue gemeinsame globale Geschichte wird eine Geschichte des kulturellen Dialogs sein.
  • Die radikale Beschleunigung der Globalisierung hat die Frage nach Identität neu auf die Tagesordnung gebracht. Identitäten müssen nicht die regressiven Identitäten von gestern sein. Es können auch neue Identitäten sein, die durch offene Dialoge in einer offenen Gesellschaft entstehen. Auch regionale kulturelle Identitäten können offen und progressiv sein. Und wir brauchen sie, wenn unsere globale Kultur mehr als McDonalds und Facebook sein will.
  • Die neoliberale Wirtschaft kennt nur berechenbare Wirklichkeiten. Eine Gemeinwohl-Wirtschaft braucht einen neuen Sinn für das Gemeinsame. Dazu sind Netzwerke menschlicher Beziehungen nötig, die sich dem Gemeinsinn und nicht der Marktlogik verbunden fühlen.
  • Es braucht ein radikales Überdenken unserer Beziehung zur Natur.
  • Eine der großen Spaltungen unserer Zeit ist unsere Beziehung zum Heiligen. In der Konfliktstellung zwischen unserer profanen neoliberalen Welt und der meist rückwärtsgewandten, anti­liberalen und autoritären Suche nach etwas Heiligem kann eine weltoffene, progressive Spiritualität Brücken schlagen – Brücken für einen offen aufgeklärten Sinn für das Heilige in einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft.

Die Antwort entsteht im Dialog, gerade auch durch Menschen, die mit ihrer integralen Bewusstseinsarbeit in unserer Gesellschaft Brücken bauen können. Mit dem evolve-Magazin, dem evolve-Radio und unseren evolve-Salons wollen wir dazu einladen.
Wir werden gebraucht. 

Author:
Dr. Thomas Steininger
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