Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 21, 2017
Elke Fein hat als Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Osteuropa eingehend die Entwicklung in diesen Ländern und Politiker wie Wladimir Putin untersucht. Dabei nutzte sie auch Ansätze aus der Soziologie und Entwicklungspsychologie. Wir sprachen mit ihr über die Herausforderungen individueller Entwicklung vor dem Hintergrund politischer Spannungen.
evolve:In den letzten 20 Jahren hast du versucht, gesellschaftliche Veränderungen und Möglichkeiten der kulturellen Entwicklung zu verstehen, indem du Ansätze aus der Politikwissenschaft, Soziologie und Entwicklungspsychologie zusammengeführt hast. Wie kam es dazu, dass du an der Schnittstelle von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung arbeitest?
Elke Fein: Ab 1990 habe ich in Berlin Politikwissenschaft studiert, also zu Beginn der großen Transformationen in Osteuropa. Für mich war sehr schnell sehr klar, dass ich meinen Horizont erweitern möchte, denn bis dahin hatte ich mich vor allem mit Westeuropa beschäftigt. Ich habe Russisch und Polnisch gelernt und zusätzlich »Osteuropastudien« studiert.
Neben der klassischen Politikwissenschaft haben mich auch die kulturwissenschaftliche Dimension, die Geschichte und Soziologie interessiert, einfach um zu verstehen, wie die osteuropäischen Gesellschaften an den Punkt gekommen sind, wo sie heute stehen. Über die Beschäftigung mit dem integralen Modell bin ich dann auch auf die entwicklungspsychologische Dimension gestoßen, also die Frage, wie sich der Einzelne entwickelt. Die Entwicklungspsychologie bietet ganz neue Perspektiven, die Aspekte ausleuchten, die man in den anderen Sozialwissenschaften bisher nicht gesehen hat und bis heute kaum beachtet.
In meiner eigenen Arbeit beziehe ich mich dabei vor allem auf Modelle, die die Entwicklung von Individuen beschreiben. Aber die Identität zum Beispiel ist eine Kategorie, die sich durch alles zieht, denn Gesellschaften bestehen aus Individuen. Somit stellen sich im Kontext der Entwicklung politischer Identität ähnliche Fragen wie bei der individuellen Entwicklung: Wer bin ich? Wer sind die Anderen? Wovon grenze ich mich/grenzen wir uns als Gruppe ab? Was empfinde(n) ich/wir als Bedrohung? Wie viel von der Komplexität in der Welt kann ich in mein Weltbild integrieren?
e:Welches Modell der individuellen Entwicklung nutzt du in deiner Arbeit und mit welchen Entwicklungsstufen haben wir es hier zu tun?
EF: Es gibt sehr viele Modelle, das grundlegendste ist wahrscheinlich das Modell von Jean Piaget, das er in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erarbeitet hat, um Strukturen des Denkens bei Kindern zu untersuchen. Eine zentrale Kategorie war für ihn die Egozentrik. Damit ist keine Wertung gemeint, sondern es ist schlicht eine Beschreibung der frühen Welt-Wahrnehmung. Wenn ich einen egozentrischen Blick habe, dann sehe ich alles durch die Brille meiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Und je weiter ich mich entwickele, umso mehr nimmt die Egozentrik ab, und ich nehme immer mehr von der äußeren Umwelt als von mir selbst verschieden wahr.
¬Je weiter ich mich entwickele, umso mehr nimmt die Egozentrik ab. ¬
Die erste Stufe bei Piaget ist die prä-operationale Stufe, darauf folgen die konkret-operationale und dann die formal-operationale Stufe. Piaget machte hierfür verschiedene Experimente, bei denen er zum Beispiel ein Kind vor einen Berg aus Plastik setzte und eine andere Person dahinter. Dann fragt er das Kind: »Was sieht jetzt die Person hinter dem Berg?« Das Kind auf der prä-operationalen Stufe kann sich nicht in die andere Person hineinversetzen und beantwortet die Frage mit dem, was es selber sieht. Es kann nicht zwischen der eigenen und der anderen Perspektive unterscheiden.
Bei der konkret-operationalen Stufe gibt es das berühmte Experiment, bei dem Wasser von einem schmalen hohen Glas in ein breites niedrigeres Glas umgefüllt wird. Hier zeigt sich, ob das Kind in der Lage ist, konkret-operational zu denken: Kann es zwischen zwei Kategorien unterscheiden (der Höhe des Glases und seinem Durchmesser) und diese miteinander in Verbindung setzen? Wenn man Wasser vom hohen in das niedrigere Glas umschüttet, sagen die Kinder auf der prä-operationalen Stufe, dass es nun weniger Wasser enthalte als vorher. Auf der konkret-operationalen Stufe verstehen sie bereits, dass die Menge der Flüssigkeit gleich geblieben ist.
Die folgende, formal-operationale Stufe ist im Prinzip die Voraussetzung des wissenschaftlichen Denkens. Das Denken wird noch abstrakter, und man ist in der Lage, verschiedene Variablen unabhängig von einem konkreten Ausdruck wie dem Wasserglas zu unterscheiden. Im formal-operationalen Denken brauche ich kein Glas mehr, um zu berechnen, wie groß ein Volumenunterschied ist. Ich kann mit Formeln arbeiten und unterschiedliche Variablen abstrakt darstellen.
Piaget hat die Entwicklung der Kognition bei Kindern untersucht. Es gibt andere Modelle, wie das von Lawrence Kohlberg, der die moralische Entwicklung untersucht hat, oder Jane Loevinger, die die Ich-Entwicklung erforschte. Die fortgeschritteneren Stufen der Entwicklung bei Erwachsenen haben in diesen Modellen meist etwas damit zu tun, dass wir mehr Variablen im Bewusstsein halten können, dass sich also der Horizont dessen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, erweitert. Die Komplexität, mit der wir sinnvoll umgehen können, nimmt zu. Ein weiterer Ansatz, mit dem ich arbeite, ist das »Model of Hierarchical Complexity« von Michael Commons. Darin beschreibt er diese wachsende Fähigkeit, Komplexität zu erfassen und sie zu handhaben.
e:Du hast dich auch intensiv mit Wladimir Putin beschäftigt. Wie hilft dir dein interdisziplinärer Ansatz, die Entwicklungsmöglichkeiten in der Politik und bei Politikern zu verstehen?
EF: Manchmal erscheinen uns die Verhaltensweisen anderer disparat, wir können uns keinen Reim darauf machen. Als Putin auf der politischen Bühne erschien, taten sich anfangs viele schwer, seine Politik einzuordnen. Bei Trump können wir ähnliches erleben. Mit den entsprechenden Modellen wird die dahinter liegende Logik verständlich. Man gewinnt ein viel tieferes Verständnis des »Warum?«. Warum verhalten sich Menschen in einer bestimmten Art und Weise? Dann kann man ihr Verhalten in der Vergangenheit besser verstehen und auch viel besser vorhersehen, wie sich jemand mit einer bestimmten Denkweise in einer künftigen Situation vermutlich verhalten wird. Gerade in den internationalen Beziehungen ist das wichtig, denn hier treffen immer wieder Akteure aufeinander, die nicht einfach dem westlichen Konsens folgen oder sogar sehr deutlich von ihm abweichen. Wenn man die Logik versteht, wie solche Persönlichkeiten sich selber sehen und wie sie Politik verstehen, wird es viel einfacher, damit angemessen umzugehen. Sie zu erkennen, setzt allerdings einen geschulten Blick voraus und eine intensive Auseinandersetzung mit den vielfältigen Äußerungen und Verhaltensweisen einer Person.
Wenn ich so genau hinschaue, kann ich auch viel besser einschätzen, was das Spektrum ist, innerhalb dessen ich Veränderungen im Sinne von Entwicklung und Lernen erwarten kann und auch, was ich nicht erwarten kann. Durch gut gesetzte Anreize oder auch einen gewissen Druck von außen lassen sich Verhaltensänderungen erreichen, aber nur in einem bestimmten Maße. Denn die Entwicklungstheorie ist sich sehr einig darüber, dass alles, was über die nächst höhere oder komplexere Entwicklungsstufehinausgeht, für einen Menschen jenseits des unmittelbar Erreichbaren liegt. Ich kann nicht erwarten, dass jemand einen so großen Sprung macht. Das Beste, was ich tun kann, ist, ihn dabei zu unterstützen, einen Schritt weiter zu gehen – mehr nicht. Und die Voraussetzung dazu ist die Bereitschaft, sich zu entwickeln. Der Umgang mit Politikern ist eine ganz besondere Herausforderung. Hier geht es oftmals vor allem darum, gegebene Verhaltensweisen in ihrer Eigenlogik zu verstehen und dann möglichst angemessen damit umzugehen.