Das Geheimnis der Krähen

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Book/Film Review
Published On:

April 17, 2023

Featuring:
Martin Schilt
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Issue:
Ausgabe 38/2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Über den Film »Krähen« von Martin Schilt

Zehn Jahre lang filmte der Schweizer Filmemacher Martin Schilt Krähen in den verschiedensten Ländern und stellte die Aufnahmen zu dem beeindruckenden Dokumentarfilm »Die Krähen« zusammen. Diese Vögel gehören mit zu den geheimnisvollsten Geschöpfen der Natur. Obgleich sie uns äußerlich weniger ähneln als etwa Primaten, teilen sie doch bemerkenswerte Eigenschaften mit uns: Sie beobachten uns dauernd, und zwar mit einer ungeheuren Aufmerksamkeit und Präzision, sie sind einfallsreich in der Herstellung und Verwendung von Werkzeugen, besitzen eine große Neugier, gepaart mit der dafür nötigen Vorsicht, und können mit großer Intelligenz entlegene Dinge miteinander verknüpfen.

»Besitzt ein über uns kreisender Krähenschwarm vielleicht eine Art kollektives Wissen?«

So staunt man 90 Minuten über diese außergewöhnlichen Tiere und versteht nicht so recht, warum sie in der jahrhundertelangen Geschichte der Menschheit zu Unrecht einen so schlechten Ruf bekommen haben. Dieser entstand unter anderem, weil man sie früher in der Nähe von Schlachtfeldern und Hinrichtungsstätten beobachtet hatte und sie daher mit herablassenden Namen wie »Galgenvogel« oder »Unglücksrabe« bezeichnete. In Wirklichkeit folgten die Krähen Soldaten in die Schlacht, weil sie wussten, dass sie als Aasfresser vom Fleisch der Getöteten profitieren konnten, so wie man sie heute noch auf riesigen Müllkippen beobachten kann, wo sie Essensreste aus Abfalltüten herauspicken: keine makabren Todesboten, sondern kluge und anpassungsfähige Alles-Verwerter, die mit wenig auskommen und nicht besonders wählerisch sind. Um an Fleisch zu gelangen, kooperieren diese Vögel gelegentlich auch mit größeren Tieren, etwa mit Wölfen: Sie zeigen ihnen den Weg zu Kadavern und profitieren dann davon, dass die Wölfe diese mit ihrem stärkeren Gebiss öffnen und ihnen am Ende Nahrung übriglassen. Finden sie einmal einen löchrigen Baumstamm mit darin verborgenen fetten Maden, werden sie äußerst erfinderisch: Mit dem Schnabel führen die Krähen lange Zweige in die Baumlöcher ein, reizen damit die Mäuler der darin verborgenen Maden, bis diese sich am Zweig festbeißen und dann leicht herauszuziehen sind. Manchmal stellen die Vögel sogar ganz besondere Hilfswerkzeuge her: Sie beißen Zweige in der Nähe von Verzweigungen ab und knabbern solange an diesen herum, bis ein Stiel mit einem kleinen Haken am Ende entsteht, mit dem sie Insekten aus langen Röhren herausfischen können. Finden sie einen halbgefüllten Wasserkrug, durch dessen enge Öffnung sie nicht mit ihrem Schnabel hindurchkommen, werfen sie solange Steine hinein, bis der Wasserspiegel steigt und der Durst gelöscht werden kann.

Erstaunlich ist auch die mit zahlreichen Beispielen gezeigte Fähigkeit der Krähen, im »Großstadtdschungel« vielleicht noch besser zurechtzukommen als in der Wildnis: Sie wissen, dass Häuser auch Abfall abwerfen, mit Speiseresten und Würmern, die eine zuverlässige Nahrungsquelle bilden. Auch Autobahnen scheuen sie nicht, da sie das viele Licht dort in der Nacht vor ihren Todfeinden, den Eulen schützt. Durch diese Vorliebe für Stadt und Zivilisation können allerdings auch Probleme entstehen, etwa wenn Krähen aus gestohlenen Kleiderbügeln Nester in Hochspannungsmasten bauen, was zu Stromausfällen führen kann, oder auch ganze Erntefelder zerstören. Dann müssen Menschen einschreiten, etwa indem sie mit Vogelattrappen die Tiere anlocken, die dann durch Gewehrschüsse dezimiert werden. Aber auch das Risiko wissen die Krähen oft durch ihre außerordentlichen Fähigkeiten zu umgehen: Sie können sich auf eine unheimlich genaue Art Gesichtszüge ihrer Gegner merken und warnen sich gegenseitig, wenn derselbe Schütze wieder auf der Bildfläche erscheint. Sie können sich sogar an Gesichter von Menschen erinnern, die sie zwölf Jahre zuvor gefangen oder bedroht haben, um diesen dann zielsicher aus dem Weg zu gehen.

Im Gegensatz zu uns, die wir die Krähen oft als dämonische oder unheilbringende Wesen stigmatisiert haben, gehen indigene Völker anders mit ihnen um. Sie sehen in ihnen durchaus »heilige Wesen«, Partner bei der Jagd und listig-schalkhafte »Trickser«, die man eher bewundert als schmäht. Auch in der germanischen Mythologie stecken noch Reste von solcher Wertschätzung: Der oberste Gott Odin ist nicht denkbar ohne die Raben Hugin und Munin, die dessen erweiterte Fähigkeiten von Denken und Erinnerung verkörpern, womit sie ihm in schwierigen Situationen helfen können. »Besitzt ein über uns kreisender Krähenschwarm vielleicht eine Art kollektives Wissen?«, fragt der Film am Schluss und: »Werden sie uns am Ende noch überleben?« Faszinierende Fragen, die das Geheimnis dieser wunderbaren Tiere noch grösser machen und in uns den Wunsch erzeugen, noch mehr über sie zu erfahren.

Author:
Rüdiger Sünner
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