Das halbe Erwachen

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 18, 2019

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Ausgabe 23 / 2019:
|
July 2019
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Eine Besprechung des Buches »Erwachen – Jenseits von Glaube und Religion« von Sam Harris

S am Harris ist ein Phänomen. Er ist bekennender Atheist und doch gleichzeitig einer der spannendsten zeitgenössischen spirituellen Denker. Sein neues Buch »Erwachen – Jenseits von Glaube und Religion« ist ein kraftvolles Plädoyer für eine atheistische Spiritualität. In einem gewissen Sinn ist Sam Harris ein wirklicher Glücksfall. Denn es ist ein spannendes Experiment zu sehen, wie ein brillanter, wissenschaftlich denkender Kopf, der gleichzeitig tiefe authentische spirituelle Erfahrungen gemacht hat, versucht, diese zwei Welten wissenschaftlich zu vereinen. Das ist die Stärke dieses Buches – und seine Schwäche. Man kann »Erwachen« auch als ein doppeltes Handbuch lesen. Einerseits demonstriert es dem spirituellen Leser Punkt für Punkt, wie man spirituelle Erfahrungen ernst nehmen kann, ohne all die mythischen Überhöhungen und Verirrungen der traditionellen Religionen mitzumachen. Gleichzeitig nimmt es den kritischen Leser an die Hand und zeigt in vielen Beispielen und Gedankengängen die Kraft und die Wirklichkeit meditativer Erfahrungen.

Sam Harris‘ Verständnis von Spiritualität ist, wie meistens bei den neuen spirituellen Atheisten, von einer bestimmten Sichtweise des Buddhismus geprägt. Hier gibt es keine Götter und keine übernatürlichen Wunder. Der Fokus dieser Spiritualität ist die Kraft einer inneren Freiheit vom Strom der Gedanken und der Befreiung von »der Illusion des Ichs«. Sam Harris verbindet mit kenntnisreichen Details die moderne Hirnforschung mit den Theorien der analytischen Bewusstseinsphilosophie und den Erfahrungen der buddhistischen Meditation. Es ist ihm ein zentrales Anliegen, die »offensichtliche Illusion« des Ichs zu belegen. Aber so kenntnisreich seine Argumentation, denkerisch ist das vielleicht der schwächste Teil des Buches. Denn alle Belege der Forschung und der Meditation, die Sam Harris zusammenträgt, sind eigentlich nur Belege dafür, dass unser Ich eine Konstruktion ist. Damit ist noch nicht gesagt, dass es auch eine Illusion ist. Als Bewusstseinskonstruktion kann unser Ich auch eine evolutionäre Errungenschaft sein; erst recht, wenn man als Meditierender zusätzlich seine »Leere« erfährt. Auch manche buddhistischen Denker, wie der legendäre Lama Govinda, betonen diesen differenzierteren Blick auf das Ich.

Die eigentliche Schwäche des Buches ist aber eine andere. Harris gelingt in eindrucksvoller Weise eine Vermählung von Spiritualität und Wissenschaft. Aber die Frage ist, ob die naturwissenschaftliche Perspektive wirklich so unkritisch auf diese subtilen Erfahrungsfelder angewandt werden kann. Neben der berechtigten Religionskritik stellt sich die Frage, ob sich die Erfahrungen der Meditation auch für einige wissenschaftskritische Betrachtungen eignen würden. Es gibt die Kritik des abendländischen Ichs. Aber spirituelle Erfahrungen stellen oft auch die materialistische Wissenschaft mit ihren quantifizierenden und objektivierenden und letztlich instrumentellen Perspektiven in Frage. Das muss kein Weg zurück in alte religiöse Vorstellungen sein. Auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts begann die Grenzen des klassisch szientistischen Blicks der europäischen Moderne auszuleuchten. Denker wie Jean Gebser, aber auch Martin Heidegger und der späte Jacques Derrida, haben hier wichtige Fragen gestellt. Sam Harris begnügt sich mit dem Blick der klassischen Naturwissenschaft.

WIE STELLEN AUTHENTISCHE ERFAHRUNGEN DER NONDUALITÄT UNSEREN NATURWISSENSCHAFTLICHEN BLICK IN FRAGE?

Es gelingt ihm eine brillante religionskritische, naturwissenschaftliche Würdigung der spirituellen Erfahrung, die noch dazu sehr zugänglich geschrieben ist. Eine wissenschaftskritische Würdigung dieser Erfahrungen wäre ein weiterer, hochaktueller Schritt. Wie stellen authentische Erfahrungen der Nondualität unseren naturwissenschaftlich berechnenden Blick in Frage, der uns Abendländern so selbstverständlich geworden ist, dass wir ihn meistens mit der Welt selbst verwechseln?

Author:
Dr. Thomas Steininger
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