Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 18, 2022
Das Heilige ist uns heute abhandengekommen. Oder zeigt es sich vielleicht im fundamentalistischen Gewand autoritärer Regime? Braucht der Westen, unsere moderne und postmoderne Welt überhaupt diese doch sehr alte Idee?
Wann sind Sie das letzte Mal jemandem wirklich begegnet? So wirklich? Vielleicht Ihrem Partner, Ihrer Kollegin? Sind Sie schon einmal einem Fluss wirklich begegnet? Und sind Sie auf einer Ihrer Reisen einmal einem anderen Land, einer anderen Kultur, einem anderen Kontinent wirklich begegnet? Oder einem Menschen, der eine für Sie schwer verdaubare Sicht auf die Welt hat? Was bedeutet das eigentlich, jemandem begegnen? Denn um jemandem begegnen zu können, müssen wir ja erst wirklich anwesend sein. Wir müssen auch in der Lage sein, jemand anderen in seiner Art an uns heranzulassen. Und Begegnungen finden auch nicht in einem Vakuum statt. Sie sind Teil eines Umfelds, eines Begegnungsraums, einer gemeinsamen Welt. Aber meist begegnen wir uns nicht. Wir bauen den anderen eher in unsere eigene Welt ein. Wir verdrehen seine Welt in unserer Wahrnehmung so, dass sie sich in das gewohnte Bild unserer Welt einfügt.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sprach davon, dass es in einer echten Begegnung, in einem wirklichen Gespräch zu einer Horizontverschmelzung kommt. Man geht sich selbst nicht verloren, aber die Horizonte unserer Welten verschmelzen. Du eröffnest mir deine Welt, ich eröffne dir meine Welt, und zwischen uns entsteht eine gemeinsame neue Welt. Eine solche Begegnung ist ein initiatorischer Akt, in dem Gewohntes stirbt und Ungeahntes sich ereignet. Es ist ein heiliger Akt, der nicht völlig erklärt werden kann, staunenswert. Könnte in diesen transformativen Begegnungen zwischen Menschen, zwischen Kulturen, aber auch mit der natürlichen Welt das Herz einer offenen Gesellschaft sein?
Die offene Gesellschaft ist ein Produkt der europäischen Aufklärung. Immanuel Kant sprach von der großen Befreiung, die darin liegt, dass Menschen sich ihres eigenen Verstandes bedienen. Es war sein Traum, dass es uns gelingt, uns durch die Kraft der Vernunft und der Verständigung gesellschaftlich zu versöhnen. Der Philosoph Karl Popper hat nach dem Zweiten Weltkrieg noch unter dem Schock der Erfahrungen mit Faschismus, Kommunismus und Krieg den Begriff der offenen Gesellschaft geprägt. Karl Popper war in seiner Jugend selbst Mitglied der Kommunistischen Partei in Wien. Diese Erfahrungen führten ihn zu einer tiefen Skepsis gegenüber allen großen Ideologien, in seiner Philosophie betonte er die Vorläufigkeit aller unserer Annahmen. Seine Philosophie war auch ein Versuch, uns innerhalb einer offenen Gesellschaft Regeln einer rationalen Verständigung zu geben. Jürgen Habermas hat dieses Programm mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns erweitert. Kern seiner Vision ist ein »herrschaftsfreier Diskurs«, den er als Grundlage jeder lebendigen Demokratie versteht. All diesen Denkern ist gemein, dass sie einen großen Vorbehalt gegenüber dem Begriff des Heiligen haben. Das Wort »heilig« findet sich ja auch oft im Vokabular totalitärer Systeme. Das Heilige ist ein existenzieller, kein kognitiver Begriff, das macht ihn schwerer fassbar und auch leichter missbrauchbar. Viele sind schon für das Heilige in den Krieg gezogen. Aber es gibt auch weniger hehre Gründe, warum wir uns mit diesem Begriff so schwertun.
Wie uns das Heilige abhandenkam
Lassen wir für einen Augenblick alle metaphysischen Vorstellungen des Heiligen einfach beiseite und fragen uns unmittelbar, welche seelische Erfahrung uns mit diesem Wort berührt. Offensichtlich hat das Heilige eine Verbindung mit dem Staunen und mit der Ehrfurcht. Um sich zu zeigen, braucht das Heilige das Staunen, das Wunder, die Ehrfurcht. Mit diesen seelischen Regungen tut sich unsere Zeit nicht leicht. Unsere von der Naturwissenschaft geprägte Welt basiert auf einer Grundhaltung, welche die Erklärung sucht, die Berechnung der Welt. Wir versuchen dem Staunen, dem Wunder und der Ehrfurcht zu entkommen. Nur die Erklärung und die Berechnung geben uns Frieden.
¬ UM SICH ZU ZEIGEN, BRAUCHT DAS HEILIGE DAS STAUNEN, DAS WUNDER, DIE EHRFURCHT. ¬
Auch unser Individualismus wehrt sich gegen jede Form der Ehrfurcht. In unserer postmodernen Sicht auf die Welt sind wir selbst ja das letztlich Wirkliche. Was zählt, ist unsere eigene Sicht. Wir haben uns eine Kultur erschaffen, in der wir das eigentlich Wirkliche sind. Alles andere wird in der Regel darauf reduziert, von uns konsumiert zu werden, selbst Freundschaften und Beziehungen. In so einer Welt ist das einzig mögliche Heilige mein Selbst. Aber es ist schwierig, das Wunder, das Staunen, die Ehrfurcht ganz allein auf mich selbst zu beziehen. Vielleicht erleben viele auch deswegen diese seltsame Verlorenheit in der Welt, die unsere Kultur seit Jahrzehnten prägt. Unsere moderne-postmoderne Kultur empfindet eine gewisse kosmische Heimatlosigkeit. Wir haben unsere Zugehörigkeit verloren. Auch das ist gemeint, wenn uns nichts mehr heilig ist.
Aber das führte nicht nur zu unserem eigenen Unbehagen. Die Verlorenheit unserer Kultur führte zu einer weltweiten Revolte gegen die Moderne und die Postmoderne. Die traditionellen Kulturen aller Kontinente wollen nicht mehr in die Zukunft, die ihnen der Westen anbietet. Und im Mittelpunkt dieser Revolte steht eine Verteidigung des »Heiligen« gegen eine gottlose und verkommene Welt. Was 1979 mit der iranischen Revolution begann, hat sich über alle Kontinente und Kulturen verbreitet, nicht nur in der islamischen Welt. Die fundamentalistisch hinduistische Regierung unter Ministerpräsident Modi in Indien verteidigt genauso ihre heiligen vedischen Traditionen, wie auch Putins Regierung das heilige Russland entdeckt hat, um mit dieser mythischen Vision gegen den Westen in den Krieg zu ziehen. Die Anhänger Trumps verehren ihn als den Rammbock eines radikal fundamentalistischen Amerika. Und Marine Le Pen in Frankreich sieht sich als eine Verteidigerin des traditionellen Christentums. Hat diese fundamentalistische Revolte gegen die entheiligte Welt vielleicht einen wahren Kern? Und hat die offene Gesellschaft eine Antwort darauf? Müssen wir zurück in die Vergangenheit? Oder müssen wir uns dem Heiligen auf eine neue Art und Weise stellen?
Von den Traditionen lernen
Das Heilige, dieser Begriff für das Staunenswerte, Ehrwürdige und zutiefst Sinngebende wurde in unserer Menschheitsgeschichte auf sehr unterschiedliche Art und Weise verstanden und gelebt. Seit zigtausenden von Jahren pflegen wir immer wieder neue Beziehungen zum Heiligen. Unsere indigenen Vorfahren entdeckten und pflegten es im Umgang mit Geistern und Göttern ihrer natürlichen Umgebung, in den Bergen und Tälern ihres Lebensraumes. Die großen Religionen der Menschheit seit der Achsenzeit haben jeweils eigene Wege in ihrer Beziehung zum Heiligen gefunden. Die traditionellen Zivilisationen der Menschheit unterscheiden sich, aber alle suchen auf ihre Art das Heilige.
Die abrahamitischen Religionen mit ihrem Fokus auf den einen Gott entwickelten im Judentum vor allem eine heilige Beziehung zwischen dem auserwählten Volk und seinem Gott. Der Islam hat diesen Impuls aufgegriffen und verändert. Mehr als alle anderen Religionen steht der Islam für die Suche nach einer heiligen gottgegebenen sozialen Ordnung. Deswegen ist die Scharia für alle Muslime so zentral. Seit Mohammed ist die Umma und ist die Scharia der Ort, an dem sich das Heilige zeigt und beweisen muss. Das Christentum ging einen leicht anderen Weg. Der menschgewordene Gott, Jesus Christus, ist das Zentrum der christlichen Welt. Mit ihm entwickelte das christliche Abendland anders als andere Religionen diese individuelle, persönliche Beziehung zwischen dem Menschen und dem menschgewordenen Gott. Diese Beziehung von Mensch zu Mensch, die das Christentum und sein Verständnis des Heiligen so prägte, machte das Abendland auch zur Geburtsstätte der allgemeinen Menschenrechte und des modernen Individualismus.
Ganz anders ist der indische Subkontinent. In seiner Vielzahl vedischer und nach-vedischer Traditionen kreist Indien in seinen Beziehungen zum Heiligen um ein tiefes Verständnis des All-Einen, der Transzendenz, der Überwindung der irdischen Welt. Auch der ostasiatische Raum zwischen China, Japan und Korea entwickelte seinen eigenen, anderen Geschmack des Heiligen. Vor allem die konfuzianisch-taoistische Doppeltradition hat dem ostasiatischen Kulturraum seinen eigenen Sinn für eine heilige Harmonie in Natur und Gesellschaft gegeben.
All dieser Erfahrungsreichtum der Weltkulturen kommt heute miteinander ins Gespräch. Das aber ist nur in einer offenen Gesellschaft möglich. Es gehört sogar zum Wesen einer offenen Gesellschaft, dieses Gespräch der Kulturen zu ermöglichen und zu fördern. Dazu gehört aber auch das Gespräch mit der Wissenschaft. Im Gegensatz zu den traditionellen Kulturen leben wir eben auch in einer Welt, die tief von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt ist – und das ist gut so. Wissenschaft hat ihre Schattenseiten, aber auch ihren Geltungsbereich. Wenn die Wissenschaft die Welt nicht auf diesen Geltungsbereich reduziert, kann sie uns sogar dabei helfen, ein neues Verständnis für die Wahrheit der alten Mythen zu finden.
¬ WIR HABEN UNS EINE KULTUR ERSCHAFFEN, IN DER WIR DAS EIGENTLICH WIRKLICHE SIND. ¬
So sind es zum Beispiel gerade die 4E-Kognitionswissenschaften, die uns darauf hinweisen, dass wir mit der wissenschaftlichen Revolution unser Verständnis von Wahrheit radikal verengt haben. Die etablierte Wissenschaft kennt nur die kognitive, empirische Wahrheit der Aussagenlogik. Jetzt zeigt uns ausgerechnet die Kognitionswissenschaft, dass es z. B. auch eine perspektivische Wahrheit und eine partizipatorische Wahrheit gibt. Alte mythische Wissensformen waren oft Ausdruck dieser anderen Wahrheitsfelder. Wir haben sie heute mit unserem bisherigen Wissenschaftsverständnis schlicht vergessen. So sind z. B. die Wahrnehmung, hier jetzt anwesend zu sein, oder die Wahrnehmung, an einem sinnhaften Ganzen teilzuhaben, Wissensformen. Die Traditionen haben das in ihren mythischen Symbolsprachen oft zum Ausdruck gebracht. Die Kognitionswissenschaft spricht davon, wie die szientistische Sicht auf die Welt uns von vielen Formen des Wissens abspaltet. Alles wird zum Denkprodukt. Wenn wir uns auf die vergessenen Wissensformen einlassen, dann sind heilige Symbole nicht unbedingt veraltete Sprachformen. Symbole können auch als partizipatorische Sprachformen verstanden werden. Sie lassen uns an dem teilnehmen, was sie zum Ausdruck bringen. Licht als Symbol öffnet etwas existenziell Lichthaftes. Eine Lichtgestalt muss nicht Fantasy sein, wenn man sie als Ausdruck einer existenziellen Möglichkeit versteht, die ebenso wahr ist wie der Baum vor dem Haus.
Wo ist das Heilige der
offenen Gesellschaft?
Das Heilige war in allen Kulturen immer auch eine Antwort auf die wesentlichen Fragen der Zeit. Trotz aller Krisen unserer Tage ist die entscheidende Frage unserer Zeit die Klimakatastrophe unseres Planeten. Diese Katastrophe zwingt uns, unser Verhältnis zu unserer Erde völlig neu zu sehen. Solange die Erde für uns vor allem eine Ressource ist, werden wir sie verbrauchen. Erst eine Neuentdeckung der Heiligkeit der Erde ist ein radikaler Bruch und ein Neuanfang unserer Beziehung zu ihr. Allein deswegen braucht es eine neue Besinnung darauf, dass das Leben letztlich nicht verfügbar, sondern heilig ist.
Können wir aber unsere großen zivilisatorischen Krisen als offene Gesellschaft bestehen, oder kommt es in Anbetracht der überwältigenden Probleme zu einer Renaissance autoritärer Systeme? Das können autokratische Systeme wie in Russland sein, aber auch der digitale Feudalismus der großen Data-Industrien oder eine transhumanistische Welt, in der die künstliche Intelligenz uns unsere Zukunft eigenständig errechnet. Wir erleben weiterhin die Ausbreitung eines allumfassenden Produktions- und Finanzsystems, das zumindest an der Schwelle steht, uns alle zu vereinnahmen. Ein großes berechenbares System, das alles, auch unser Bewusstsein in seine Algorithmen integriert.
¬ DAS HEILIGE WAR IN ALLEN KULTUREN IMMER AUCH EINE ANTWORT AUF DIE WESENTLICHEN FRAGEN DER ZEIT. ¬
Die schützenden Räume unserer regionalen Kulturen tragen nicht mehr. Sie brauchen die Ergänzung eines globalen Miteinanders. Um das zu finden, braucht es auch eine neue Fähigkeit zu offenen Begegnungen mit anderen. Können wir gleichzeitig unsere Wurzeln würdigen und im globalen Kontext, in der Begegnung mit anderen immer wieder neue Synergien entdecken? Auch die Wissenschaft weiß, dass die Wirklichkeit zu komplex und zu dynamisch ist, um sie uns völlig zu errechnen, obwohl die künstliche Intelligenz genau das versucht. Was wir dabei verlieren, gehört zum Wertvollsten, das wir haben: eine gemeinsame Zukunft, die aus dem Wunder wirklicher Begegnung, wirklicher Verständigung entsteht.
Eine völlig verrechnete Welt hätte notwendigerweise auch keinen Platz für das Heilige. Auch deswegen wird die Besinnung auf das Heilige heute so wichtig. Sie zeigt uns die Gefahren und sie zeigt auch Lösungen. Die offene Gesellschaft ist eine Kultur, in der unsere gemeinsame Zukunft immer wieder aus diesem Wunder der Begegnung entsteht. Verständigung gelingt nicht immer, aber in dieser Kultur wird sogar das zu einem Ansporn, um zu lernen, wie es vielleicht doch gelingt. Das heißt nicht, dass nicht Konflikte, auch harte Konflikte notwendig sind, aber eben in dem Geist, eigentlich zur Verständigung finden zu wollen.
Das Heilige der Begegnung ist eine Antwort auf die berechnende Welt. Das macht es so wichtig, uns gegenüber dem Heiligen wieder zu öffnen, seine Bedeutung neu zu erkennen. Die spirituellen Traditionen der Welt eröffnen uns einen großen Erfahrungsschatz des Heiligen. Aber es entsteht gerade auch etwas Neues. Wir erleben weltweit das Aufblühen dezentraler Netzwerke für eine neue Ökologie spiritueller Praktiken. Das Neue dieser Netzwerke liegt vielleicht gerade darin, dass sie einander bewusst sind, dass sie miteinander in einer lernenden Beziehung stehen. Es gibt ein Bestreben, sich in einem integralen Netzwerk von Netzwerken zu verbinden. Es entstehen Anfänge einer holographischen Landschaft unterschiedlicher Praktiken und Communities, die sich aufeinander beziehen und voneinander lernen, durchaus auch miteinander streiten, aber eben oft mit dem Bemühen um Verständigung. Wir erleben eine erstaunliche Gleichzeitigkeit von Vielheit, Unterschiedlichkeit, Einheit und Bezogenheit.
Vielleicht entsteht hier die neue spirituelle Landschaft einer offenen Gesellschaft und im Zentrum all dessen vielleicht auch eine neue spirituelle Kunst. Es ist eine Begegnungskunst, in der wir sowohl die Wurzeln unserer eigenen Herkunft neu würdigen als auch versuchen, die Komplexität unserer globalen Welt, soweit es möglich ist, zu halten und zu verstehen. Aber im Zentrum all dessen ist es eine sich neu formende Kunst der Begegnung, eine neue Kunst gemeinsamer Gegenwärtigkeit, in der Menschen lernen, miteinander anwesend zu sein, einander zu hören, sich voneinander berühren, vielleicht auch erschüttern zu lassen und wahrzunehmen, dass sich in jeder echten Begegnung die Welt neu findet. Das mag in der Begegnung zweier oder mehrerer Menschen sein. Das mag in der Begegnung zweier Kulturen sein. Das Heilige zeigt sich heute mehr denn je in unseren Begegnungen. Vielleicht ist die Kultivierung dieses kreativen Beziehungsraumes so etwas wie die spirituelle Praxis der offenen Gesellschaft.