Das Herz der Unrast

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

October 23, 2023

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Ausgabe 40 / 2023
|
October 2023
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Über den Film »Anselm – Das Rauschen der Zeit« von Wim Wenders

Mit diesen Versen beginnt das Gedicht »Corona« von Paul Celan, dem Dichter, der für den Künstler Anselm Kiefer zur erschütternden und öffnenden Mitte seines künstlerischen Schaffens wurde. Kiefer, der zu den angesehensten Malern der Gegenwart gehört, erforscht das Gehen der Zeit. Nun hat der ebenfalls weltbekannte Regisseur Wim Wenders, auch ein sensibler Beobachter der Zeitläufe, einen Film über ihn gedreht.

Die beiden Künstler – der eine wollte Maler werden und wurde Filmemacher, der andere wollte Filme machen und wurde Maler – verbindet die Zeit, in die hinein sie geboren wurden. Beide kamen um 1945 in eine zerstörte, zerbombte Welt. Sie wuchsen auf in einem Land, das vergessen wollte. Schon früh war für Anselm Kiefer klar, dass er das nicht zulassen wollte. In seiner frühen Werkfolge »Besetzung« fotografierte er sich mit Hitlergruß in der Wehrmachtsuniform seines Vaters an zentralen europäischen Orten und setzte die Szenen später malerisch um.. Der Film nimmt uns mit in diese Zeit, in der dem Künstler Empörung entgegenschlug, man ihn für einen Nazi hielt. Er aber, so sagt er, wollte den Menschen nur einen Spiegel vorhalten. Auch den Weg zu weiterer Bekanntheit und Anerkennung vor allem außerhalb Deutschlands begleitet der Film mit Archivaufnahmen und macht so den Werdegang des kompromisslosen Künstlers spürbar. Aber »Anselm« ist weit mehr als eine Doku über ein Künstlerleben. Der Film will zum Kern künstlerischen Schaffens vordringen.

Da ist zunächst die sensiblere, feinere Wahrnehmung der Welt, die Wenders durch die 3D-Technik ermöglicht sieht, die er als eine »poetische Sprache« versteht, weil sie »ein erstaunlich immersives, physisches, mentales Sich-Einlassen« ermöglicht. Und tatsächlich, die oft großformatigen Werke, die räumlichen Installation in den riesigen Ateliers, auf den Freiflächen des Areals in Barjac in Südfrankreich, das Kiefer über Jahrzehnte zu einem Kunstlabyrinth umgeformt hat – sie werden in der dreidimensionalen Sicht in ihrer Tiefe und Anwesenheit spürbar.

Das Besondere an dem Film ist aber der innere seelische Raum, in den wir eintreten dürfen. Es ist der geistige Raum, aus dem Kiefer in seinen Arbeiten schöpft, mit Bezügen aus Geschichte, Mythos, Poesie, Alchemie, jüdischer Mystik, Physik, Religion. Kiefer arbeitet in diesem inneren Raum, er ist getrieben von Fragen, die ihn ein Leben lang nicht loslassen: Warum hat eine ganze Gesellschaft geschwiegen? Warum sind so viele Menschen »am Verstehen des Unvorstellbaren gescheitert«? Wie hätte er sich damals verhalten? Wie konnten Mythen und Dichtung missbraucht werden, um ins Grauen zu führen? Und wie können wir die mythische, poetische Weltwahrnehmung heute neu erschließen?

Im Film folgen wir Kiefer in dieses Ringen, wenn Paul ­Celan sein Gedicht »Die Todesfuge« liest, in dem er den Holocaust thematisiert, und Kiefer über den Philosophen Martin ­Heidegger verzweifelt, dessen Denken ihn fasziniert, der aber eine Zeitlang mit den Nazis sympathisierte und sich nie dazu äußerte.

Auch nicht, als Celan ihn in seinem Haus im Schwarzwald besuchte. »Warum?«, fragt Kiefer. Er weiß nicht die Antwort, aber lässt die Fragen wirken. Und er begibt sich hinein in die mythischen Bezüge und Symbole, lotet sie aus, befragt auch sie, weil man, wie er sagt, historische Ereignisse nicht allein rational fassen kann. »Der größte Mythos ist der Mensch selbst«, erklärt er. Und diesen Mythos ergründet er in seinen monumentalen Werken, die mit ihren zentimeterdicken Farbschichten, den Materialien wie Kleider, Pflanzen und Blei ein Ausdruck des inneren Ringens zu sein scheinen und eine sprechende Symbolkraft ausstrahlen. Oft werden die Werke mit Feuer behandelt, im Regen liegengelassen, den Elementen ausgesetzt. Der Film macht diese Arbeitsprozesse erlebbar. Und lässt uns einen Menschen spüren, der sich verletzbar und rückhaltlos den wesentlichen Fragen unserer Existenz seelisch aussetzt. In Kiefer schlägt es, das Herz der Unrast, das Paul Celan zum Ende seines Gedichts »Corona« anspricht:

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,

dass der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, dass es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Author:
Mike Kauschke
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