Sie können sich hier mit der E-Mail-Adresse anmelden, die Sie bei der Registrierung im Communiverse verwendet haben. Wenn Sie sich noch nicht als Mitglied angemeldet haben, können Sie sich hier anmelden!
Vielen Dank! Ihr Beitrag ist eingegangen!
Huch! Beim Absenden des Formulars ist etwas schief gelaufen.
By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
Die Zeiten der tiefen Gräben zwischen politischen Aktivisten und spirituellen Menschen sind vorbei, so der Journalist und Tiefenökologe Geseko von Lüpke. Er beobachtet neue Formen des Protests, die sich »heiliger Widerstand« nennen und im Dienst des Lebens stehen.
Herbst 2018, Hambacher Forst bei Köln. An der Kante zum Tagebau der RWE eröffnet sich ein Blick in die Unterwelt: 250 Meter tief haben sich die gigantischen Schaufelbagger bereits gegraben, zehn Kilometer lang ist der Tagebau. Rundherum ein Anblick von Zerstörung.
Dahinter: rauschender Wald, 12 000 Jahre alt. An den Hainbuchen hängen Stofftransparente: »Hambi bleibt!«. Bis vor Kurzem: ein Widerstandsdorf in den Bäumen, Waldmenschen mit Klettergurten. Sechs Jahre haben hier Aktivist*innen ausgeharrt, um gegen den klimaschädigenden Abbau der Braunkohle zu protestieren.
Es sind die ersten Sprösslinge einer neuen Form des politischen Widerstands, die überall auf dem Planeten auftauchen. Eine Suche nach tieferen Wurzeln des Engagements, nach politischer Aktion jenseits von Ideologie. Was passiert da? »Ich nehme eine sehr große Politikverdrossenheit wahr bei den jungen Menschen, die ihre Zukunft mitgestalten wollen, die nach mehr Tiefe und Ganzheitlichkeit in ihrem politischen Wirken suchen«, sagt Andrea Schaupp von der Jugendorganisation des BUND. »Dass wir feststellen: Es geht eigentlich um das Leben an sich! Und um die Frage, ob wir als Menschheit in eine neue Daseinsform finden, aus der wir mit den Ressourcen, die zur Verfügung stehen, wirklich grundlegend neue Umgangsformen finden.«
Wenn Widerstand heilig wird
Immer öfter berufen sich Menschen gegen die Zerstörung von Natur und Lebensqualität darauf, für die »Heiligkeit des Lebens« zu kämpfen. Das Stichwort vom »Sacred Activism« macht die Runde: Politisch-ökologischer Widerstand bekommt damit eine spirituelle Komponente, die auch die Form des Protestes verändert. »Ich beobachte, dass es vielfach wirklich die klassisch spirituellen Werte sind, die sich jetzt nicht mehr im Gottesdienst äußern, sondern die in einem Baumhaus vorhanden sind«, sagt Harald Schwaetzer, Philosophieprofessor und Gründer der Cusanus-Hochschule.
Transzendenz im Baumhaus? Heiliger Widerstand? Das mag fast blasphemisch klingen. Tatsächlich aber ist die Verbindung von religiösen Werten und politischem Bewusstsein etwas Uraltes: Ob Jesus von Nazareth, Buddha oder Mohamed – ihre Ideen bedrohten alte Ordnungen. In den noch älteren indigenen Kulturen waren spirituelle Werte und weltliches Handeln überhaupt nicht zu trennen.
Statt verzweifelter »Reaktion« auf Fehlentwicklungen steht die visionäre »Proaktion« für eine wünschenswerte Zukunft im Mittelpunkt.
So erstaunt es kaum, dass die Wiederentdeckung eines »heiligen Widerstands« von indianischen Aktivist:innen der Lakota im US-Bundesstaat North Dakota ausging. Sie protestierten gegen den Bau der Dakota Access Pipeline, einer unterirdischen Öl-Leitung auf Stammesgebiet. Der Widerstand, an dem sich bald 200 nordamerikanische indigene Nationen beteiligten, wendete sich politisch zwar gegen die Ölindustrie und die Verschmutzung des Wassers, stand aber unter dem ganz unpolitischen Slogan »Defend the Sacred«, um das Wasser als »heilig« zu verteidigen.
Der indianische Widerstand wurde mit dem Amtsantritt Donald Trumps und der Räumung des Camps formal zwar beendet. Die Idee aber, politischen Aktivismus mit tiefsten ethischen und spirituellen Werten zu begründen, verbreitete sich von Standing Rock um den ganzen Globus.
Eine soziale Mystik
Es ist der Versuch, der Dynamik der globalen Zerstörung eine Kraft entgegenzusetzen, die größer ist als Politik, persönliche Überzeugung und nackte Rationalität: die Liebe zum Leben, die Verbundenheit mit der Mehr-als-menschlichen-Welt, das Wunder der Schöpfung, die Freude, kreativ eine zukunftsfähige Welt zu bauen, dem Größeren zu dienen. Daraus spricht ein Lebensgefühl, welches die dualistische Abtrennung – hier Natur, dort Mensch, hier Spiritualität, dort Politik – überwinden will. Dahinter steht der Versuch, den individuellen »inneren Wandel« als Handlung in die Welt zu bringen und die innere Transformation als »aktive Hoffnung« in politischem Handeln sichtbar werden zu lassen. Es geht um gelebte Ganzheit, Potenzialentfaltung, Angstfreiheit, tiefe Visionen einer Welt jenseits der Trennung: Das, was uns im Herzen »heilig« ist. »Derart ›innere‹ Werte werden in der Regel als privat diffamiert«, sagt Thomas Hohn, Campaigner bei Greenpeace Deutschland. Doch sie sind für ihn der eigentliche Kern jeder Aktion: »Diese Wertehaltung ist das, was uns alle antreibt und das Herzblut unserer Organisation weltweit. Letztendlich ist das Heilige in allem und ein Aktivismus ohne Werte einfach sinnfrei!«
Grundlage scheint eine andere Definition des Wortes heilig. Da geht es nicht um Religion, eher schon um die Erinnerung an die innersten ethischen Werte der großen Religionen, denen ja eigentlich Ausbeutung, Naturzerstörung, Rassismus, Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen zuwiderlaufen, und um die Orientierung an historischen Vorbildern wie Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Desmond Tutu, deren soziales und politisches Handeln im »Heiligen« wurzelte.
Statt theologischer Winkelzüge rückt die Verbundenheit und Zugehörigkeit in den Mittelpunkt: der Wunsch zu schützen, zu pflegen und zu hegen, was Menschen lieben. Es nicht wütend und voller Hass zu verteidigen, sondern in Liebe vorbildlich zu gestalten. Statt verzweifelter »Reaktion« auf Fehlentwicklungen steht die visionäre »Proaktion« für eine wünschenswerte Zukunft im Mittelpunkt. »Das Herz der Revolution«, so hat es der philippinische Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas ausgedrückt, »ist die Revolution des Herzens.« Was sich innen verändert, verwandelt auch das Handeln in der Welt: Ziel ist ein Aktivismus, der in meditativer Achtsamkeit verwurzelt ist. Man könnte von einer »sozialen Mystik« sprechen, die in der Aktion entsteht.
Da wird Spiritualität nicht mehr als innerer Pfad in einen paradiesischen Himmel verstanden, sondern die Welt wird selbst zum Kloster, zum Ort der Meditation, zum Schauplatz innerer Wandlung. Damit wird die Transformation des Bewusstseins herausgehoben aus dem Privaten und zum kollektiven Thema: »Wir stehen auf für das Leben, weil uns das Leben heilig ist. Was wir machen, ist gleichzeitig eine politische Aktion und Sacred Activism«, sagt der Aktivist Martin Winiecki. Er leitet im portugiesischen Ökodorf Tamera das Institut für globale Friedensarbeit und organisierte im August 2018 erfolgreich den zivilen Widerstand gegen Ölbohrungen in der Tiefsee vor der Atlantikküste.
Das Leben handelt durch mich
Die Wiederentdeckung der tiefsten Wurzeln des politischen Engagements ist oft das Ergebnis einer persönlichen Krise. Aktivist:innen sind nicht selten mit übermächtigen Gegner:innen konfrontiert, mit staatlicher Gewalt, mit Aussichtslosigkeit und Rückschlägen. »Wenn dir deutlich wird, vor welchen Problemen die Welt steht, fühlst du dich davon wie erschlagen«, sagt der englische Öko-Psychologe Rupert Marquez. Er begleitet erschöpfte Change-Maker aus aller Welt in den spanischen Pyrenäen darin, den Burn-Out und das Gefühl der Isolation und Überforderung mithilfe von Naturerfahrung, Meditation und Achtsamkeitstraining zu überwinden.
Nach Jahren als Aktivist ist er heute Mitarbeiter der Gemeinschaft Eco Dharma, die sich in der Tradition des engagierten Buddhismus der Verbindung von Spiritualität und Aktion widmet. »Dabei geht es um die Sichtweise: Leben, von dem ich ein Teil bin, handelt durch mich!« Voraussetzung für diesen Bewusstseins-Sprung ist in der Regel die achtsame Konfrontation mit der eigenen Abgetrenntheit und dem Gefühl der Isolation in einer falsch verstandenen »Individualität«. Wer sich aber als handelnder Teil einer »Mitwelt« empfindet, agiert mit weniger Angst und zudem kraftvoller, resilienter und optimistischer.
Wenn es gelingt, diese tiefere Quelle anzuzapfen, dann entstehen oft ganz neue politische Strategien. Dazu kann der Aufbau von alternativen Gemeinschaften gehören, die Entwicklung ökologischer Landwirtschaft, die Erfindung komplementärer regionaler Währungen, die Renaturierung von zerstörten Landschaften. Wer aus Liebe zur Welt handelt und sich als Teil des Ganzen definiert, will in Schönheit und Würde die Welt gestalten. Wer achtsam mit sich selbst umgeht und sich als ungetrennt erlebt, will achtsam mit der Welt umgehen. Der Philosoph Arne Naess hat diese Perspektive das »ökologische Selbst« genannt, das sich selbst schützt, indem es für die Welt handelt, zu der es gehört. Dazu braucht es mehr als einen neuen Denkansatz. Es verlangt eine in der Achtsamkeit des Alltags verwurzelte spirituelle Disziplin.
Um die Quellen des Lebens freizulegen, braucht es neue Werkzeuge: Junge Menschen der BUND-Jugend werden beispielsweise nicht nur ökologisch, politisch und analytisch geschult, sondern in Pilotprojekten wie »Visionen für die Zukunft« auch ganz unmittelbar in die Natur geschickt, um die es eigentlich geht. Fastend und allein verbringen sie Tage und Nächte in der Wildnis, um sich körperlich und seelisch so mit dem größeren Ganzen zu verbinden, dass ihr Engagement tief wurzelt und nachhaltig bleibt.
Mittel, Formen, Strategien verändern sich, wenn sich die Quelle des Handelns verschiebt: Aus Sit-Ins können spontane Meditationen werden, Demonstrationen können zu Pilgerwegen zu Orten der Zerstörung werden, wie sie auch in kirchlichen Umweltgruppen praktiziert werden. Statt angemeldeter Kundgebungen können »Flashmobs« eingesetzt werden. Sie überraschen, wecken solidarisch aus dem Alltagsschlaf, erhöhen die Präsenz. Statt mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen und alles Unliebsame zu verdrängen, ist hier soziale Achtsamkeit gefordert, die Leben ehrt, Verwundung benennt, aus Verbundenheit handelt. Die Achtsamkeit im Außen wurzelt in der Achtsamkeit nach innen. Dann ist der ganze Mensch bei Aktionen dabei, nicht nur seine Gedanken.
Solidarisch mit dem Leben
Am Strand von Lissabon kamen im August 2018 rund 1.000 Menschen zu einer Kunstaktion gegen Tiefsee-Ölbohrungen zusammen und formten mit ihren Körpern gemeinsam das riesige Bild einer Delfinmutter mit Baby und dem Appell »Defend the Sacred!«. Die Aktion trug dazu bei, dass das Parlament von Portugal im letzten Moment die gefährlichen Ölbohrungen in einer tektonischen Zone verbot. Die Idee, große Mengen von Menschen in einer rituellen Aktion zu einem gemeinsamen Symbol zusammenzubringen, stammt von dem amerikanischen Arial-Art-Künstler John Quigley. »Es gibt viele Formen des Widerstands, aber wenn du dein ganzes körperliches ›Sein‹ einsetzt, geht das tiefer«, sagt der Symbol- und Fotokünstler. Soziale Achtsamkeit heißt hier, den Schmerz der bedrohten Kreatur wahrzunehmen, sich selbst mit dieser anderen Lebensform zu identifizieren, sie im Symbol ganz physisch zu »verkörpern« und mit anderen Menschen als Kollektiv solidarisch darzustellen. Da werden mengenweise die Begrenzungen alten Denkens überwunden.
Wer Methoden des zivilen Widerstands wählt, setzt sich auch hier »der harten Hand« aus: Pfefferspray, Wasserwerfer, Tränengas, Knüppel, Inhaftierung, erkennungsdienstliche Behandlung. Aber auch angesichts solcher Ausnahme-Situationen entdecken die Aktivist:innen der Gegenwart den Wert von Spiritualität und Achtsamkeit: In autonomen Zentren und Protestcamps wird mittlerweile immer öfter meditiert, in der Szene gründen sich Initiativen wie die Dharma- und Yoga-Punks, Protestler sitzen in Zen-Sesshins oder üben sich in Gewaltfreier Kommunikation. Die Erkenntnis macht sich breit, dass Achtsamkeits-Training dazu dient, in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, Gefühle wie Wut und Angst kontrollieren zu können und den Frieden, für den man kämpft, erst einmal in sich zu finden.
»Ich glaube, dass wir mit Wissen aus spirituellen Traditionen, die ich als komplementär sehe zu aufgeklärtem Bewusstsein, viel mehr erreichen können«, sagt Timo Luthmann, Mitbegründer der Klima-Initiativen »Ende Gelände« und »ausgeCO2hlt«. Die Zeiten, in denen aktive »Change-Maker« naserümpfend auf die »Spiris« herunterblickten und die innerlich Suchenden den Aktivist:innen mangelnde Tiefe und Visionskraft vorwarfen, scheinen vorbei. Man nähert sich an!
Wer aus Liebe zur Welt handelt und sich als Teil des Ganzen definiert, will in Schönheit und Würde die Welt gestalten.
Eine neue Synthese
Das bleibt nicht unentdeckt in Wissenschaft und Politik. Mittlerweile untersucht auch das von der Bundesregierung finanzierte Potsdamer Institut für Fortschrittliche Nachhaltigkeitsforschung, kurz IASS, das Phänomen. Thomas Bruhn, Physiker und am IASS Forscher an den ethischen Grundlagen der Nachhaltigkeit, würdigt die neue Synthese von Spiritualität und Politik: »Ich persönlich finde es schwierig, die beiden voneinander zu trennen. Ich glaube, wir können nicht der Erde einen Eigenwert zugestehen, ohne dass das auch spirituelle Fragen berührt. Wenn es mir nicht ans Herz geht, werde ich nicht eine veränderte Beziehung zu dem Ganzen entwickeln. Es geht eigentlich um ein Erkennen der Heiligkeit, die in uns Menschen ist, die sich spiegelt in der Welt von der wir Teil sind.«
Immer öfter werden diese tiefsten inneren Wertehaltungen benannt und mutig vertreten. Damit wird die Politik weicher und die Spiritualität bekommt politische Konturen. Die reine Rationalität wird ergänzt mit dem Gefühl für richtig und falsch. Das Wissen aus nüchterner politischer Analyse wird mit dem Wissen des Herzens bereichert. Und die Isolation der überfordert-frustrierenden »Rettung der Welt« wird durch die achtsame Praxis der Verbundenheit beendet. Mit dem neuen Ansatz des »heiligen Widerstands« schwingt eine neue Tiefe und Visionskraft durch die globale Zivilgesellschaft.
Author:
Dr. Geseko von Luepke
Teile diesen Artikel:
Weitere Artikel:
Gemeinsam wachsen und experimentieren
In der Lebensweise Community wird online, in Regionalgruppen und Community-Treffen ein neues Miteinander gelebt und erprobt. Wir sprachen mit der Impulsgeberin Vivian Dittmar und der Community-Hüterin Lina Duppel über die Chancen und Risiken von Gemeinschaft.
Dialogische Erfahrungen ermöglichen uns eine tiefere zwischenmenschliche Begegnung. Es gibt viele Praktiken, die diesen Raum authentischer, ehrlicher und heilsamer Beziehungen eröffnen. In den tiefsten und oft auch als sakrale Momente erlebten Erfahrungen zeigt sich in diesem Zwischenraum für Menschen eine Anwesenheit, die über uns als Einzelne hinausgeht und darauf hindeutet, dass sich ein neuer Lebensraum öffnet.
Pamela von Sabljar ist Gruppenmoderatorin und berät Organisationen und Führende bei Veränderungsprozessen. Dabei arbeitet sie auch mit dem Feld, das zwischen den Beteiligten entsteht. Wir erforschten mit ihr, wie sich aus der Wahrnehmung dieses Zwischenraums gemeinsame Prozesse anders gestalten lassen.