Das Netz des Lebens

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 11, 2022

Featuring:
Christine Wertheim
Margaret Wertheim
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Issue:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Ein Interview mit Christine und Margaret Wertheim

Christine und Margaret Wertheim häkeln Korallen und erstellen daraus farbenprächtige, vielgestaltige Installationen. Die Schwestern, die eine Künstlerin, die andere Wissenschaftsjournalistin, initiieren auch Projekte, in denen Menschen aus einer bestimmten Stadt oder einem Land ein Korallenriff häkeln – wie aktuell im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zu sehen ist. Wir sprachen mit ihnen über die Hintergründe des Projekts und wie darin Kunst und Wissenschaft auf unmittelbare und co-kreative Weise zusammenkommen.


evolve: Wie sind Sie dazu gekommen, Korallenriffe aus gehäkelten Korallen zu gestalten?

Christine Wertheim: Das Projekt »Crochet Coral Reef« wurde unter der Schirmherrschaft unserer gemeinnützigen Organisation »Institute for Figuring« ins Leben gerufen, die 2003 gegründet wurde. Ziel ist es, der breiten Öffentlichkeit Themen aus den Bereichen Wissenschaft, Mathematik und Technik näherzubringen. Menschen müssen in zunehmendem Maße Entscheidungen über Dinge wie Stammzellforschung oder Elon Musks Satellitendienst im Weltraum treffen, doch die meisten haben nicht genügend wissenschaftliche Kenntnisse, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.

Margaret ist Wissenschaftsjournalistin und sie beschloss, ein Institut für öffentliche Vorträge und Workshops zu wissenschaftlichen Themen zu gründen. Doch anstatt mit solchen Wissenschaftlern zu arbeiten, die nur in Gleichungen sprechen, die von den meisten Menschen nicht verstanden werden, wählte sie Wissenschaftler aus, deren Arbeit ein materielles Element enthält, sodass die Menschen sehen, anfassen und fühlen konnten, worum es in dem Workshop ging.

In den ersten Jahren gab es einige Workshops über Themen wie mathematisches Origami, denn mit Origami kann man Dinge beweisen, die mit formeller Geometrie nicht leicht beweisbar sind. So lernten wir Dr. Daina Taimina kennen. Sie unterrichtet Geometrie an der Cornell University und hatte einen Weg gefunden, Modelle ­von hyper­bolischen Flächen zu häkeln. ­Margaret und ich begannen also ebenfalls mit der Herstellung von Häkel-Modellen. Margaret entwarf Modelle, die mathematisch perfekt waren und in ruhigen Farben wie Dunkel­blau gehalten waren. Ich wählte flauschige rosa und glitzernde grüne Wolle. Außerdem hielt ich mich nicht an das »perfekte« Modell, es war mir egal, ob ich Fehler machte oder etwas falsch verstanden hatte.

¬ UNSERE ARBEIT IST EIN PROZESS, DER SOWOHL KUNST UND HANDARBEIT ALS AUCH EINE MATHEMATISCHE FORSCHUNG IST. ¬

Dann lag irgendwann ein Stapel dieser Modelle auf dem Couchtisch und da war der kreative Impuls: ›Hey, die sehen aus wie Korallen. Wir könnten ein Korallenriff gestalten.‹ Am nächsten Tag postete Margaret auf unserer Website: »Wir häkeln ein Riff. Kommt, macht mit.« Zwei Wochen später rief uns die Andy Warhol Foundation an, das war 2006. Sie machten gerade eine Ausstellung über die künstlerische Auseinandersetzung mit der globalen Erwärmung und wollten unser Korallenriff zeigen. Wir mussten also mehr Leute bitten, uns zu helfen. So fing es an, und so wurden auch andere Menschen mit einbezogen.

Kunst und Wissenschaft

e: Dieses künstlerische Projekt entstand also aus der Absicht, Menschen die Wissenschaft auf eine experimentelle und nicht nur konzeptionelle Art näherzubringen. Worin besteht dabei der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst?

Margaret Wertheim: Wir häkeln hyperbolische Formen, die eine Alternative zur euklidischen Geometrie, die wir alle in der Schule lernen, darstellen. Hyperbolische Strukturen wurden erst im frühen 19. Jahrhundert von Mathematikern entdeckt und es stellte sich heraus, dass sie in der Natur weit verbreitet sind, zum Beispiel in vielen Organismen in einem Korallenriff: den Korallen selbst, bei Seetang, Meeresschwämmen, Nacktschnecken und Meeresschnecken. Doch auch anderswo in der Natur finden sich hyperbolische Formen, wie bei Salatblättern und krausem Gemüse.

Das Projekt bringt die Menschen also nicht nur mit der Mathematik in Berührung, sondern auch mit dem Thema der globalen Erwärmung. Eine unserer Inspirationen ist das Great Barrier Reef in Queensland, Australien, wo wir aufgewachsen sind. Als wir 2005 mit dem Projekt begannen, gab es bereits wissenschaftliche Aussagen, dass die Zerstörung des Korallenriffs klarmache, dass globale Erwärmung kein künftiges Problem sei, sondern hier und jetzt schon stattfinde.

Es gibt viele Künstler, die versuchen, Kunst und Wissenschaft zu verbinden. Wir haben uns nicht hingesetzt, um ein Projekt zu kreieren, das Kunst und Wissenschaft verbindet. Bei uns beiden war es so, dass Christine nach der Schule eine Kunstakademie besuchte und ich Physik und Mathematik studierte. Mein berufliches Leben fand in der Welt der Wissenschaft statt, Christines Leben vorwiegend in der Welt der Kunst.

Es herrscht heute die Vorstellung, dass es in der Wissenschaft nur um Logik und Genauigkeit geht und in der Kunst nur um die Kraft des kreativen Ausdrucks. Unser Projekt stellt das infrage, denn wenn wir oder andere die Korallen häkeln, erschaffen wir eine materielle Form. Hände und Geist sind sich sehr bewusst, dass dabei die Möglichkeiten geometrischer Oberflächen erforscht werden. Doch wir sind uns auch bewusst, dass wir etwas herstellen möchten, das uns gefällt. Wir wählen die Farben und entscheiden uns für die Stärke des Garns und können viele andere Qualitäten auswählen. Es ist ein Prozess, der sowohl Kunst und Handarbeit als auch eine mathematische Forschung ist. Indem wir mit unseren Händen etwas herstellen, erforschen wir ein Thema der Geometrie, das normalerweise nur in Gleichungen dargestellt wird. Welcher Teil davon ist also Kunst und welcher Teil Wissenschaft, und wo ist das einfach völlig vermischt?

¬ ES IST FÜR ALLE EINE BESONDERE ERFAHRUNG, GEMEINSAM ETWAS ZU SCHAFFEN UND TEIL DES KREATIVEN PROZESSES ZU SEIN. ¬


e: Ist es eine Absicht des Projektes, den Wert des Häkelns aufzuzeigen, das ja meist als etwas betrachtet wird, das Frauen nur für sich selbst machen? Sie sagen, dass es damit möglich sei, sich auf eine ganz eigene bedeutungsvolle Art mit der Welt zu verbinden.

CW: Frauen häkeln in der westlichen Welt seit ein paar hundert Jahren hyperbolische Formen, zum Beispiel bei jeder Form von Rüschen. Die Frauen wussten nicht, dass es einen mathematischen Namen für diese Formen gab. Sie wussten einfach nur, wie man sie herstellt.

Wir betrachten uns als feministische Aktivistinnen, denn wir greifen in die Genderisierung der Kunstwelt ein, in der die meisten Arbeiten noch immer von Männern und mit Techniken hergestellt werden, ­die als männlich assoziiert werden. Techniken und Herstellungsweisen, die speziell
mit Frauen assoziiert werden, sind von der Kunstwelt so gut wie ausgeschlossen und werden nicht als Kunst angesehen. Auch Werken, die von Kollektiven geschaffen werden, wird im Allgemeinen nicht der gleiche Wert zugemessen wie Werken, die von einzelnen Personen, die als außerordentliche Genies gelten, geschaffen werden. Daher ist eine Methode der kollektiven Kreativität und die Verwendung eines Mediums, das in unserer Gesellschaft als geschlechtsspezifisch gilt, extrem wichtig für uns.

Gemeinsam kreativ sein

e: Wie nehmen Sie diesen gemeinschaftlichen Prozess wahr? Welche Bedeutung hat er für die Schaffung Ihrer Arbeiten?

MW: Das Projekt besteht aus zwei Aspekten: Der eine sind die Arbeiten, die ­Chrissie und ich herstellen, unterstützt von einer kleinen Gruppe sehr geschickter Leute auf der ganzen Welt, die einzelne Stücke zu unseren Installationen beitragen. Wir nennen sie die »Core Contributors« und sie produzieren ganz besondere Arbeiten.

Der andere Aspekt sind die Gemeinschaftsprojekte. Manchmal arbeiten wir sehr eng mit ihnen zusammen, begleiten sie durch den Pro­zess und geben ihnen Anleitung. Wir nennen diese Arbeiten Satellitenriffe, diese Projekte besitzen ein faszinierendes Eigenleben.

CW: Die Satellitenriffe werden von den Menschen aus einer Stadt, einem Bundesland oder einem ganzen Land geschaffen. Für das Baden-Badener Riff wurden uns von insgesamt etwa 4.000 Mitwirkenden 40.000 Korallen aus ganz Deutschland und auch anderen Teilen der Welt zugesandt.

Wir möchten, dass es ein erfahrungsbezogenes Projekt ist, bei dem die Gemeinschaften die Möglichkeit haben, ihr eigenes Riff zu gestalten. In den letzten Jahren gab es 50 Satellitenriffe, manche groß, manche klein. Aber das in Baden-Baden ist bei weitem das größte. Wir selbst könnten niemals ein Riff mit 40.000 Korallen herstellen. Die Herstellung der Korallen ist die eine Seite, aber dann gibt es noch die Kuratierung.

e: Wovon lassen Sie sich bei der Kur­atierung leiten?

CW: Wenn man 40.000 Korallen hat, muss man irgendwo anfangen. Als erstes sammeln wir sie in Farbgruppen und dann wird entschieden, ob das Riff zum Beispiel neongrün, orange und weiß sein soll. Es ist ein improvisatorischer Prozess, aber jede Entscheidung führt dann zu einer weiteren Entscheidung. Doch bei der Zusammenstellung geht es nicht nur um die Farben, sondern auch um die Geometrie des Ganzen – soll es am Boden entlangkriechen, die Wände hochgehen, von der Decke hängen oder ein großer, hoher Hügel werden.

MW: Manchmal fangen wir auch schon mit festen Ideen an. Für die Helsinki-Biennale entschieden wir, dass das ganze Werk aus Plastik bestehen sollte. Oder wir haben ein rein weißes Riff gemacht, um ein abgestorbenes, gebleichtes Riff zu zeigen. Wenn wir unsere eigenen Arbeiten kuratieren, gibt es oft diese Art Fokus. Doch wenn wir mit Gemeinschaften zusammenarbeiten, können die Leute es machen, wie sie möchten.

Ein unberechenbarer Prozess

e: Wie verändern sich die Menschen durch die Mitarbeit an den Projekten?

CW: Alle lieben es – von den Leuten, die irgendwo auf der Welt einzelne Korallen herstellen, sie zu uns schicken, bis hin zu den Leuten, die an der Kuratierung teilnehmen, und die Mitarbeitenden des Museums. In Baden-Baden kuratierten sechs Frauen das Satellitenriff. Hinzu kamen zehn weitere Kuratoren und weitere Mitarbeitende aus dem Museum. Das ganze Museum war auf die ­eine oder andere Weise beteiligt – vom Direktor bis zu den Handwerkern –, und ständig kamen Leute in unseren Arbeitsraum, um zu sehen, was wir machen. Es ist für alle eine besondere Erfahrung, gemeinsam etwas zu schaffen und Teil des kreativen Prozesses zu sein. Und das gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für die gesamten Institutionen.

MW: Nach der Ausstellungseröffnung sagten mir mehrere Mitarbeiter des Museums: »Diese Ausstellung war ganz anders als alle anderen, die wir je gemacht haben, denn sie ist erst in der Galerie selbst gewachsen.« Niemand wusste im Voraus, was daraus ­entstehen würde. Die Leute vom Museum Frieder Burda sagten, es sei eine erstaunliche Erfahrung gewesen zu lernen, wie man ­eine Ausstellung im Museum wachsen lässt. Sie konnten sich nicht vorstellen, je wieder langweilige, vorher festgelegte Ausstellungen zu veranstalten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies für viele Institutionen eine sehr ungewöhnliche Erfahrung und auch eine Zerreißprobe für das System des Museums ist. Die Ausstellung entwickelt sich so, dass sie keine Kontrolle über alles haben. Der Prozess mit unseren Werken ist wild und lässt sich nicht kontrollieren.

e: Möchten Sie in den Menschen, die Ihre Arbeiten sehen, eine bestimmte Resonanz erzeugen?

CW: Wir hatten nie eine feste Vorstellung darüber, was wir vermitteln möchten, und wollten auch nie eine bestimmte Wirkung beim Publikum hervorrufen. Die meisten Leute, die sich die Ausstellungen ansehen, sind begeistert, denn die Riffe sind wirklich lebendig erfahrbar. Man spürt, dass in ihnen tausende, wenn nicht hunderttausende von Arbeitsstunden stecken. Die Wahrnehmung dieser konkreten Arbeit berührt die Menschen sehr.


¬ DER PROZESS MIT UNSEREN WERKEN IST WILD UND LÄSST SICH NICHT KONTROLLIEREN. ¬

MW: Für mich war es sehr wichtig, dass das Projekt die Menschen zum Nachdenken über den Klimawandel anregt. Vor 17 Jahren, als wir mit dem Projekt begannen, wussten die meisten Menschen, zumindest in Amerika, noch nicht einmal von dem Problem, sie wussten nicht einmal, was der Begriff Korallenbleiche bedeutet. Ich habe die meiste Zeit meines Berufslebens als Wissenschaftsjournalistin gearbeitet. Meiner Meinung nach kann auch guter Journalismus die Welt nicht verändern, aber er kann die Aufmerksamkeit auf Themen lenken, über die die Menschen nachdenken müssen. Und ich glaube, dass die Kunst eine ähnliche Rolle spielen kann. Wir glauben, dass es notwendig ist, bestimmte Ideen zu verbreiten, und dass die Kunst dies erreichen kann.

Mit unseren Arbeiten möchten wir die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass diese Werke von tausenden von Menschen in gemeinsamer Arbeit geschaffen werden. Auch wenn man sich ein echtes Korallenriff ansieht, erkennt man, dass es von Millionen oder Milliarden winzig kleiner Korallenpolypen gebildet wird, die zusammenarbeiten. Jeder von ihnen ist nur ein winziger Organismus und kann für sich allein wenig tun. Aber Milliarden von ihnen bilden zusammen das Great Barrier Reef.

Eine der wichtigsten Botschaften, die wir vermitteln wollen, ist, dass Menschen, die zusammenarbeiten, Macht und Einfluss haben können. Die Grundhaltung dieses Projekts ist, sich von der Vorstellung des individuellen Genies zu lösen, ein Konzept, von dem die Kunstwelt nach wie vor besessen ist. So betrachtet hat unser Projekt viel mehr mit der zeitgenössischen Wissenschaft gemeinsam, denn fast alle großen wissenschaftlichen Entdeckungen sind heute das Werk von hunderten, wenn nicht tausenden von Menschen.

Gelebte Evolution

e: Wie hat sich das Projekt im Laufe der ­Jahre entwickelt?

CW: Das Projekt selbst ist ein Prozess der Evolution. In der Natur beginnen die echten Korallen mit einzelnen Polypen, die Korallenköpfe bilden, und dann kommen tausende von diesen Korallenköpfen zusammen und bilden ein Riff. Und so gibt es einzelne Menschen, die Korallen herstellen, und dann kommen tausende von ihnen zusammen und stellen ein Riff her. Durch Zufall sehen Menschen etwas Neues, das jemand anderes gemacht hat, ändern es leicht ab und es kommt zu einer Mutation. Ihre Werke werden zu etwas, das es vorher noch nie gegeben hat. Im Laufe der Jahre findet also eine Evolution durch zufällige Mutation statt, ohne dass es einen übergeordneten Designer gibt. So betrachtet ist es ein wissenschaftliches Projekt der Evolution.

MW: Chrissie hat früh erkannt, dass man gewisse Abweichungen in die Muster einführen kann, die Dr. Taimina entdeckt hatte. Dadurch sehen die Objekte nicht mehr wie rein mathematische Modelle aus, sondern eher wie organische Lebewesen, und die sind mathematisch, aber nicht mathematisch »perfekt«. Wir dachten lange Zeit, dass die Variationsmöglichkeiten bei den Häkelformen sehr begrenzt sind. Aber dann schickte uns zum Beispiel jemand von einer Schaffarm in Australien etwas, das wir noch nie gesehen hatten. Es war, als hätte jemand einen ganz neuen Zweig am Baum des Lebens erfunden. Wir betrachten dieses Projekt als einen gehäkelten artspezifischen Baum des Lebens, oder besser noch als ein gehäkeltes Netz des Lebens. Es ist wie beim Leben auf der Erde – es gibt Giraffen und Pfaue, und in einer Million Jahren wird es etwas geben, von dem wir noch nie gehört haben. In diesem Sinne ist unser Projekt evolutionär: Die Schönheit und die dynamische Vielfalt, die erreicht werden können, sind unendlich.

Author:
Mike Kauschke
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